Bernd Jürgen Wendt
In den Fesseln überlebter Traditionen
erstarrt
Stephan Malinowskis wegweisende Studie über
den deutschen Adel
Zwar herrscht Einigkeit darin, dem "ostelbischen Junkertum" im
"Bündnis der Eliten" (Fritz Fischer) eine erhebliche Mitschuld
am Untergang der Weimarer Republik und an der Wegbereitung für
den Nationalsozialismus zuzuweisen. Aber der Adel im 20.
Jahrhundert gehörte bisher nicht gerade zu den bevorzugten
Themen der Geschichtswissenschaft. Dies dürfte sich mit der
eindrucksvollen Pionierstudie von Malinowski gründlich
ändern.
In einer gelungenen Synthese von Kultur-, Sozial-, Politik- und
Organisationsgeschichte und anhand typischer Adelsbiographien
verfolgt der Autor in seiner Dissertation den komplexen
Entwicklungsprozess unterschiedlicher Adelsgruppen von
traditionellen konservativen Leitbildern im 19. Jahrhundert
über den Anschluss an die Neue Rechte schon im Kaiserreich mit
ihrem ideologischen Gebräu aus aggressivem Nationalismus,
völkischem Antisemitismus und radikalem Antiliberalismus,
über den Schock von 1918 und die allgemeine
Orientierungslosigkeit nach dem ruhmlosen Fall der Kronen, allen
voran die Hohenzollern-Krone, bis hin zu Hitlers
Machteroberung.
Den Autor interessieren Voraussetzungen und Verlauf dieses
Prozesses, seine konkreten Ausformungen und Motive und seine
politischen und sozialen Auswirkungen. Breit und umfassend sind
Materialbasis und Belegstruktur der Untersuchung: Etwa 400
Adelsautobiographien, zahlreiche Adels- und Organisationsarchive,
Nachlässe, Personalakten und Adelsperiodika wurden zum
erstenmal gründlich ausgewertet.
"Den Adel" hat es nie gegeben. So ist es auch folgerichtig, dass
Malinowski die einzelnen Gruppen des alten Adels (unter Verzicht
auf den im 19. Jahrhundert nobilitierten Adel) sorgfältig
sozial, wirtschaftlich, kulturell, konfessionell,
lebensgeschichtlich, regional und auch generationsspezifisch
differenziert. Groß war zum Beispiel der Abstand zwischen dem
Adelsproletariat, einem verarmten und infolgedessen frühzeitig
schon politisch radikalisierten preußisch-protestantischen
Kleinadel und wohlhabenden, großgrundbesitzenden
süddeutsch-katholischen Grandseigneurs und Standesherren aus
bayerischem Uradel. Dessen ungeachtet verbanden sie über alle
gesellschaftlichen Gräben hinweg doch ein relativ homogener
adliger "Habitus" und eine homogene adlige Mentalität.
Adliger "Habitus"" ist methodisch und analytisch ein
durchgängig tragfähiger und aussagekräftiger
Leitbegriff des Buches. Seine Elemente: Stolz auf die Familie,
Landbindung und Großstadtferne, Charakterbildung statt
bürgerlicher Bildung, Kult der Kargheit und das Bewusstsein
von Herrschaft und "Führertum".
Im Mittelpunkt der Analyse steht das ambivalente, zwischen
wachsender Affinität und konstanter Abstoßung
oszillierende Verhältnis zwischen den einzelnen Adelsgruppen
und dem Nationalsozialismus. Welche adligen Leitbilder und
Denkmuster waren anschlussfähig an die NS-Ideologie? In einer
fatalen Unterschätzung der braunen Dynamik hofften adlige
Kreise auf ein starkes "Führertum" in der Hoffnung, hier
selbst die führende Rolle zu spielen.
Gemeinsam war den allermeisten die Ablehnung von Republik und
Demokratie. Verbindend waren hingegen Antibürgerlichkeit,
Antisemitismus, Aussichten auf eine neue "Landnahme im Osten" und
vor allem Chancen auf eine "standesgemäße" Karriere in
den traditionell adligen Berufsfeldern in Armee, in Bürokratie
und Diplomatie.
Doch sollten auch die Barrieren nicht übersehen werden, die
viele Adlige zögern ließen, sich dem braunen Sog
rückhaltlos auszuliefern: christliche Tradition,
Herrendünkel gegenüber der geforderten Einschmelzung in
eine plebejische "Volksgemeinschaft", Sozialisierungsängste
und die nicht unbegründete Furcht, von dem nur noch rassisch
definierten "Neuadel aus Blut und Boden" (Walther Darré) an
den Rand der Gesellschaft gedrängt zu werden.
Es blieb als Identitätsmerkmal, wie es Alf Lüdtke
einmal treffend formuliert hat, ein gewisser adliger "Eigen-Sinn".
Der lange und verschlungene Weg "vom König zum Führer",
den ein Großteil des preußischen Adels schon im
späten Kaiserreich geistig und politisch eingeschlagen hatte
und den der Autor so kompetent und fesselnd verfolgt, endete mit
der "deutschen Katastrophe" (Friedrich Meinecke) zugleich in der
Selbstzerstörung eben dieses Adels. Daran änderte auch
nichts die irreführende postume Stilisierung des 20. Juli 1944
als letzte Erhebung "des Adels".
Eine verständliche Sorge vor generalisierenden Aussagen
über den Adel mag den Verfasser zu einer voluminösen
Detailverliebtheit verführt haben. Sie wird jedoch durch eine
straffe und übersichtliche Gliederung und leserfreundliche
fortlaufende Rückbezüge auf die Leitfragen aufgewogen.
Bernd Jürgen Wendt
Stephan Malinowski
Vom König zum Führer.
Sozialer Niedergang und politische Radikalisierung im deutschen
Adel zwischen Kaiserreich und NS-Staat.
Akademie Verlag, Berlin 2003; 660S., 59,80 Euro
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