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Matthias Zimmer
Demokratischer Idealismus heute
Konsequenzen aus dem Crash
Der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler und
Nobelpreisträger Joseph Stiglitz hat schon vor wenigen Jahren
mit seinem Buch zu den Schattenseiten der Globalisierung für
Aufsehen gesorgt. Nun schaut er zurück: Was war die New
Economy und warum ist sie Ende der 90er-Jahre so spektakulär
in sich zusammengebrochen?
Stiglitz ist nicht nur
Wirtschaftswissenschaftler; er war auch lange Jahre Vorsitzender
des Sachverständigenrats für Wirtschaftsfragen unter
US-Präsident Clinton, dann Vizepräsident und
Chefvolkswirt der Weltbank. Sein Befund ist eindeutig: Das
Gleichgewicht von Staat und Markt war aus der Balance
geraten.
Die Praxis der Deregulierung und eine
Ideologie, die dem Markt alles, dem Staat aber kaum etwas zutraut,
waren nicht nur für die beispiellose Spekulationsblase
verantwortlich, sondern auch für die nachfolgende Vernichtung
von Unternehmenswerten und Arbeitsplätzen, für die
Möglichkeit Einzelner, ihre maßlose Gier auf Kosten der
Allgemeinheit zu befriedigen, und eben auch für die illegalen
Praktiken von Managern, vor ihren Aktionären und der
Öffentlichkeit durch "kreative Buchführung" den wahren
Unternehmenswert zu verschleiern.
Wie kam es zu diesem "irrationalen
Überschwang" (Greenspan)? An erster Stelle macht Stiglitz die
Deregulierungsmanie für die Geschehnisse verantwortlich. Er
ist kein grundsätzlicher Gegner der Deregulierung, beharrt
aber darauf, dass es in vielen Bereichen zur Sicherung des
Wettbewerbs gesetzlicher Regelungen bedarf. An zweiter Stelle waren
es die Banken, die für die Aktienblase verantwortlich waren.
Sie haben durch frisierte Bewertungen und durch Beihilfe zu
Finanzdelikten die Spekulationen wider besseres Wissen weiter
angeheizt. Auch die fehlerhafte Politik der US-Notenbank habe zu
dieser Entwicklung mit beigetragen. Sie habe es versäumt, der
Spekulationsblase rechtzeitig entgegenzusteuern.
Amerikanische "Doppelmoral"
Ein zweites Thema bei Stiglitz ist die Art
und Weise, wie diese wirtschaftliche Grundideologie von
Deregulierung und freien Märkten die
außenwirtschaftlichen Beziehungen der USA prägten.
Während die Vereinigten Staaten andere Länder
drängten, ihre Märkte zu öffnen, blieb der
amerikanische Markt selbst in vielen Bereichen abgeschottet.
Stiglitz spricht von einer "Doppelmoral" amerikanischer
Außenwirtschaftspolitik, die anderen Ländern Leistungen
abverlange, die man selbst nicht zu erbringen bereit
ist.
So bleibt für Stiglitz von der
Globalisierung der fade Nachgeschmack, dass sie vornehmlich
amerikanischen Interessen gedient hat. Die anfängliche
Euphorie, Globalisierung nach amerikanischem Vorbild könne die
Armutsschere zwischen Nord und Süd schließen, ist
längst der Ernüchterung gewichen, dass die
Kapitalströme wieder aus den Entwicklungsländern
abwandern und dass Ansätze zur Demokratisierung vor allem in
Südamerika durch falsche Globalisierungskonzepte zunichte
gemacht worden sind. Gewinner der Globalisierung waren die
Finanzinteressen der USA; Verlierer war die amerikanische
Glaubwürdigkeit.
Der normative Horizont von Stiglitz ist an
einem "neuen demokratischen Idealismus" orientiert, der zwischen
Staat und Markt angesiedelt ist. Staatliche Reglementierung ist in
vielen Bereichen notwendig, ebenso staatliche Finanzierung von
Grundleistungen. Dazu bedarf es einer vernünftigen
finanziellen Ausstattung des Staates. Stiglitz ruft in Erinnerung,
dass Märkte Mittel, aber kein Selbstzweck sind. Als
gravierendste Form des Marktversagens sieht er die
Arbeitslosigkeit; folglich wird staatliche Wirtschaftspolitik nicht
am Ziel der Inflationsbekämpfung, sondern der
Vollbeschäftigung gemessen.
Der "neue demokratische Idealismus" ist in
seinen Grundannahmen und Zielsetzungen den Ideen der
europäischen Sozialdemokratie verpflichtet. Inwieweit er in
dem stärker individualistisch geprägten Amerika Wurzeln
schlagen kann, muss allerdings skeptisch beurteilt
werden.
Die Bestandsaufnahme des Booms der 90er-Jahre
ist informativ und flüssig geschrieben, vermeidet fachlichen
Jargon und ist dem Ziel verpflichtet, die Menschen darüber
aufzuklären, wie die grundlegenden Prozesse in Wirtschaft und
Gesellschaft funktionieren. Der Blick hinter die Kulissen ist
systematisch; der Leser profitiert von den profunden Kenntnissen
des Autors. Das macht das Buch zu einem Glücksfall auch
für die politische Bildung: engagiert, aber nicht parteiisch,
fundiert, aber nicht detailversessen, systematisch, aber nicht
abstrakt - ein Buch, dem nicht nur Leser zu wünschen sind,
sondern auch ein wenig Wirkung dort, wo die Weichenstellungen
für die Wirtschaft vorgenommen werden. Matthias
Zimmer
Joseph E. Stiglitz
Die Roaring Nineties. Der entzauberte
Boom.
Aus dem amerikanischen Englisch von Thorsten
Schmidt.
Siedler Verlag, Berlin 2004; 348 S., 24,-
Euro
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