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K. Rüdiger Durth
Große Vision der halbierten Armut
Bilanz und Perspektiven der
Entwicklungszusammenarbeit
"Gib dem Menschen einen Fisch, dann hat er einen
Tag zu essen", lautet ein chinesisches Sprichwort, "lehre ihn
fischen, dann hat er sein ganzes Leben zu essen." Diese Losung, die
am Anfang der Entwicklungshilfe Ende der 50er-Jahre stand, steht
auch heute für die große Vision, bis zum Jahr 2015 die
Armut auf dieser Erde zu halbieren. Dazu haben sich zu Beginn des
21. Jahrhunderts die Staats- und Regierungschefs der wohlhabenden
Staaten gegenüber den Vereinten Nationen feierlich
verpflichtet. Nichts als eine Utopie?
Die Geschichte der Entwicklungshilfe aus den
zurückliegenden 50 Jahren ist zunächst eine Geschichte
des gegenseitigen Lernens. Nicht zuletzt aus Fehlern. Niemand kommt
heute mehr auf den Gedanken, aus Entwicklungshilfegeldern wie einst
in Indien riesige Stahlwerke zu bauen, die letztlich niemand
braucht und die als Ruinen verkommen. Und niemand wird heute mehr
Gebäude errichten ohne die Menschen zu fragen.
Schließlich will auch Helfen gelernt sein. Und so ist aus
Entwicklungshilfe längst Entwicklungszusammenarbeit geworden,
die freilich zu einem großen Teil noch immer eine
Einbahnstraße vom Norden zum Süden ist.
Die Globalisierung, die durch Rundfunk,
Fernsehen und Internet erst möglich wurde, hat den Armen auf
der südlichen Erdhalbkugel ein - oft verzerrtes - Bild vom
Reichtum der Menschen auf der nördlichen vermittelt. Nun
fordern sie Teilhabe ein. Die ausgestreckte Hand mit einer leeren
Schüssel - mit der "Brot für die Welt" viele Jahre um
Spenden für Nahrung zugunsten der Dritten Welt geworben hat -,
ist heute nicht mehr gefragt. Auch wenn immer wieder Katastrophen
ungezählte Menschen in die Flucht treiben, sie auf
Lebensmittel der internationalen Hilfsorganisationen zum nackten
Überleben hoffen lässt.
Teilhabe bedeutet zunächst einmal
Freiheit von Hunger und vermeidbaren Krankheiten. Auch Bildung
für die Kinder und die Sehnsucht nach ein wenig Wohlstand -
einem Dach über dem Kopf, einem eigenen Stück Land, einer
eigenen Werkstatt, sich ab und zu "etwas leisten zu können".
Teilhabe bedeutet heute zugleich Mitbestimmung in
gesellschaftlichen und politischen Fragen, zielt auf die
Demokratisierung aller Lebensbereiche ab. Und Teilhabe bedeutet
gerechte Preise für die Produkte und Rohstoffe
Umgekehrt beginnt die nördliche
Erdhalbkugel zu begreifen, dass die Bürgerkriege auf der
südlichen Erdhalbkugel immer neue Flüchtlingsströme
entstehen lassen, die sich nach Norden richten können.
Gleiches gilt für die Opfer der Naturkatastrophen. Die nach
wie vor ungehemmte Zerstörung des tropischen Regenwaldes ist
längst keine innere Angelegenheit mehr von Brasilien,
Zentralafrika oder Teilen Asiens, sondern hat Auswirkungen auf das
weltweite Klima. Der ungehemmte Verbrauch fossiler Energien ist
kein Problem nur der wohlhabenden Staaten, sondern auch der so
genannten Schwellenländer mit einem atemberaubenden
Wirtschaftswachstum wie China. Dadurch wird nicht nur der Preis
für Öl und Stahl in die Höhe getrieben, sondern auch
der Ausstoß von Kohlendioxid.
Zurück zum Menschen aus dem alten
chinesischen Sprichwort, der zwischenzeitlich selbstbewusster
geworden ist. Er steht heute nicht mehr nur für sein Recht auf
Leben, sondern auch für ein gewandeltes Verständnis, was
er zum Leben benötigt. In Oswald Nell-Breuninng SJ, dem
großen Sozialphilosophen des 20. Jahrhunderts, hat er einen
entsprechenden Anwalt. Nell-Breuning machte sich nicht nur stark
für eine Schüssel Reis, die jedem Menschen zustehe,
sondern auch für ein Stück Fleisch und eine Portion
Gemüse: Der Mensch lebt nicht nur von dem, was den Magen
füllt. So benötigt der Mensch, der das Fischen gelernt
hat, heute eine ganze Menge mehr, als die frühere gutgemeinte
Hilfe leisten konnte: Um auf Fischfang gehen zu können,
braucht er Gesundheit (bezahlbare Ärzte, an die er sich im
Fall von Krankheit oder Unglück wenden kann), ein
fangtaugliches Boot (damit Banken, die ihm dafür einen
zinsgünstigen Kredit geben), freien Zugang zu Flüssen,
Seen oder Meere (die nicht verseucht oder leergefischt sind),
Märkte (auf denen er die Fische, die er nicht für sich
und seine Familie selbst benötigt, zu einem gerechten Preis
verkaufen kann). Und es muss Menschen geben, die ihm den Fisch
abkaufen können.
Weiter Weg zur Partnerschaft
Was für den Menschen gilt, der das
Fischen gelernt hat, gilt auch für die Staaten der Dritten
Welt. Und so ist aus der Entwicklungshilfe längst eine
wirtschaftliche Zusammenarbeit geworden. Zur Partnerschaft hingegen
ist der Weg noch weit. Zum einen, weil sich die Industriestaaten
nach wie vor schwer tun, gerechte Preise für Rohstoffe zu
zahlen. Zum anderen, weil die Verantwortlichen vieler Länder
auf der südlichen Erdhalbkugel zu wenig tun, um das starke
Gefälle zwischen Arm und Reich im eigenen Land zu beseitigen
und die Korruption nicht in den Griff bekommen.
Immerhin ist es der Welthandelsorganisation
(WTO) endlich gelungen, die Agrarsubventionen des Nordens für
die Länder des Südens stark einzuschränken und die
Zölle für Waren aus armen Ländern zu liberalisieren.
Nun müssen möglichst schnell konkrete Vereinbarungen
getroffen und in die Tat umgesetzt werden. Denn ein gerechter
Welthandel nutzt den armen Ländern mehr als staatliches
Fördergeld aus dem Norden.
Die Zusammenarbeit zwischen Nord und Süd
schließt inzwischen auch die armen Länder auf der
nördlichen Erdhalbkugel ein, die früher zum sowjetischen
Imperium gehörten und es nun schwer haben, aus eigener Kraft
ihren Menschen eine Teilhabe am Leben zu ermöglichen. Wichtig
ist, dass diese Zusammenarbeit auf gleicher Augenhöhe erfolgt.
Das erfordert manchmal auch ein Ende dieser partnerschaftlichen
Zusammenarbeit - dann nämlich, wenn Länder ihren Menschen
die einfachsten Rechte vorenthalten, mehr an der Sicherung ihrer
Elite als an der Förderung der Lebensverhältnisse
interessiert sind, mehr Geld für Rüstung als für
Gesundheit und Bildung ausgeben.
Ein Blick auf die täglichen Nachrichten
lässt viele Menschen fragen, ob es überhaupt möglich
ist, die Vision von der Halbierung der Armut bis 2015 zu erreichen
- wobei dann immer noch 400 Millionen Menschen in bitterster Armut
leben werden? Der Regenwald Brasiliens brennt und brennt. Millionen
Menschen sind im Sudan auf der Flucht. Zehntausende sterben oder
hungern im Kongo. Regelmäßig suchen Sturmfluten weite
Teile von Bangladesh, Indien und China heim. Dazu kommen
regelmäßig Dürrekatastrophen, Erdbeben...
Gerechte und freie Gesellschaft
"Ein Fass ohne Boden", sagen die einen, wenn
sie das Wort Entwicklungshilfe hören. "Das Hemd ist uns
näher als der Rock", finden die anderen, vor allem, wenn sie
an die einschneidenden sozialen Reformen im eigenen Land denken.
Doch die einen verkennen, wie die Welt aussehen würde, wenn es
keine Entwicklungshilfe geben würde, und die anderen, dass
diese Hilfe sehr viel mit unserer eigenen Zukunft zu tun hat. Dabei
geht es nicht nur um Klima und Frieden, sondern auch um den eigenen
wirtschaftlichen Wohlstand. Staatliche Hilfe für die Dritte
Welt - nach Expertenschätzung hat allein Deutschland bislang
150 Milliarden Euro dafür aufgewandt - die Zukunftsmärkte
im Blick, die für die so stark vom Export abhängige
Bundesrepublik überlebenswichtig sind. Schließlich geht
es um wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung auf gleicher
Augenhöhe.
Die Halbierung der Armut - Vision oder
Möglichkeit? Nie hätte der Mensch den Mond betreten,
hätte er nicht die Vision gehabt, in den Weltraum
vorzustoßen. Nie wird der Mensch die Armut auf dieser Erde bis
2015 halbieren, wenn er nicht die Vision hat, es zu wollen. Selbst
"ein Weg von tausend Meilen in Afrika, Asien und Lateinamerika
beginnt mit einem Schritt" ("Misereor"). Man muss nur diesen ersten
Schritt tun. Sonst wird aus der großen Vision nichts, allen
Menschen das Fischen zu und damit die Teilhabe an einer gerechten
und freien Gesellschaft zu ermöglichen.
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