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Peter Pragal
Der Keller war voll mit ostdeutschen
Flüchtlingen
Im Herbst 1984 wird die bundesdeutsche Botschaft
in Budapest zur Anlaufstelle für DDR-Bürger
Axel Hartmann stellte sich ahnungslos. Ob die deutsche Botschaft
in Budapest Flüchtlinge aus der DDR beherberge, wollte ich bei
einem Ungarn-Besuch im Herbst 1984 wissen. Hartmann, der damals die
Rechts- und Konsularabteilung der Mission leitete, sah mich
erstaunt an. "Die haben wir hier nicht", sagte der Diplomat. Das
war gelogen. Denn in Wahrheit war das Haus mit Flüchtlingen
überfüllt. "Der Keller war voll von Menschen," sagt
Hartmann heute. Aber das sollte ich als damaliger
Osteuropa-Korrespondent des "Stern" nicht wissen.
Budapest war ein Geheimtipp für Menschen, die vor 20 Jahren
dem SED-Staat entfliehen wollten. Im Sommer hatte die Ständige
Bonner Vertretung in Ost-Berlin vor dem Ansturm der Zuflucht
Suchenden kapituliert und den Besucherverkehr eingestellt.
Vorübergehend, wie es hieß. Auch die bundesdeutsche
Mission in Prag war überlaufen und wurde zeitweise
geschlossen. Die Medien zeigten spektakuläre Bilder. Und
animierten damit noch mehr DDR-Bürger zum Versuch, als
Botschaftsflüchtlinge ihre Ausreise aus dem Arbeiter- und
Bauernstaat zu erzwingen.
Die bundesdeutsche Mission in Budapest blieb zunächst von
Schlagzeilen verschont. "Wir haben es geschafft, die Botschaft
offen zu halten", sagt Axel Hartmann, heute Dienststellenleiter der
Thüringer Landesvertretung in Berlin. Dabei war die Situation
nicht minder brisant als in Prag oder in Ost-Berlin. Die Villa, in
der die bundesdeutschen Diplomaten arbeiteten, war als
Massenquartier für Zufluchtbewerber ungeeignet. "Mehr als 20
Personen waren kaum unterzubringen," erinnert sich Hartmann. Nicht
wenige der Asyl Suchenden weigerten sich, das Haus zu verlassen.
Manche von ihnen blieben bis zu drei Monaten. Und wenn sie gingen,
kamen Neue nach. Aber abgewiesen oder einfach weggeschickt wurde
niemand.
"Die DDR-Bürger wurden als Gäste der Botschaft
betrachtet und auch so behandelt", las Hartmann später in
einer Akte, die die Stasi über ihn geführt hat. "Es
erfolgte eine bevorzugte und kostenlose Versorgung der
DDR-Bürger mit Nahrungs- und Genussmitteln." Mehr noch: Den
DDR-Bürgern sei auch ermöglicht worden, mit Verwandten
und Bekannten in der Bundesrepublik zu telefonieren. Und wenn Asyl
Suchende ihr Gepäck vor dem Besuch der Botschaft etwa in einem
Schließfach am Bahnhof aufbewahrt hatten, wurde es von
Missionsbediensteten abgeholt.
Noch mehr als diese angeblich rechtwidrige Praktiken missfiel
dem MfS, wie die Botschaftsflüchtlinge von Hartmann und
anderen westdeutschen Diplomaten beraten wurden. "Zur aktiven
Unterstützung ihrer Übersiedlungsversuche wurden den
DDR-Bürgern verschiedene Alternativen zur Lösung ihres
Problems angeboten, wobei grundsätzlich die Gewährung
eines besonderen Schutzes und der sicheren Obhut in der Botschaft
betont wurde, " heißt es in der Stasi-Akte.
Gewiss, die deutschen Diplomaten machten den Asyl Suchenden
schon klar, dass es einen direkten, in den Westen führenden
Weg aus Ungarn nicht gebe. Aber es wurde auch kein Flüchtling
aufgefordert, in die DDR zurückzukehren und dort einen
Ausreiseantrag zu stellen. Vielmehr wurde über einen Freikauf
der Flüchtlinge verhandelt, als diese noch in der Botschaft
waren. Erst wenn eine Zusage aus Ost-Berlin vorlag, kehrten sie
für einige Monate in ihre Wohnorte in der DDR zurück und
warteten auf ihre Ausreise.
Eines Tages kam eine jüngere DDR-Bürgerin mit ihren
beiden Kindern zu Hartmann in die Botschaft, um sich zwecks
Übersiedlung beraten zu lassen. Als er sie nach dem
Gespräch verabschieden wollte, sagte sie: "Es gibt da
vielleicht noch ein Problem. Mein Schwiegervater ist Mitglied des
Zentralkomitees der SED." "Mir fiel der Unterkiefer herunter",
erzählt Hartmann. "So etwas hatten wir noch nicht." Er bat sie
wieder ins Zimmer und riet ihr, in der Botschaft zu bleiben. "Wenn
Sie jetzt in die DDR zurückgehen, wird man Sie vielleicht
irgendwann ausreisen lassen, nicht aber Ihre Kinder." Das habe sie
eingesehen.
Hartmann meldete den Fall nach Bonn. Zwei Wochen später
ging bei ihm das Telefon. Am Apparat war DDR-Anwalt Wolfgang Vogel.
"Hartmann, sind Sie verrückt geworden. Werfen Sie die Frau
raus. Sie können sich gar nicht vorstellen, was hier los ist."
Der Schwiegervater war Herbert Ziegenhahn, SED-Bezirks-chef in
Gera. Die junge Frau, die in Scheidung lebte, blieb mit ihren
Kindern in der Botschaft. Bis auch dieser Fall diskret gelöst
wurde. "Es hat ein bisschen länger gedauert als in anderen
Fällen", sagt Hartmann. "Aber es ist gelungen."
Diplomaten unterliegen bei ihrer Arbeit Weisungen. Manche halten
sich strikt daran, andere legen sie großzügig aus.
Hartmann gehörte zu Letzteren. "In mehreren Fällen
stellte er persönliche Beziehungen zu (ausreisewilligen)
DDR-Bürgern her, empfing sie gemeinsam mit seiner Frau in der
Privatwohnung und unterhielt zu ihnen auch noch Verbindung nach
ihrer Rückkehr in die DDR", registrierte die Stasi.
"Es kam vor", so ist in den MfS-Unterlagen weiter zu lesen,
"dass er für DDR-Bürger, die in die BRD übersiedeln
wollten, BRD-Pässe beschaffte, wobei er sie jedoch warnte,
dass dieses Dokument nicht zur Ausreise aus der Ungarischen
Volksrepublik berechtigt." Das stimme nur zum Teil, sagt Hartmann.
"Richtig ist, dass ich Leuten geraten habe, sich durch Freunde in
der Bundsrepublik Pässe ausstellen zu lassen."
Manchmal ging es dann so weiter: Die Pässe wurden von
Bundesbürgern nach Ungarn gebracht und dort von den neuen,
ostdeutschen Inhabern bei einem Treffen unterschrieben. Dann gingen
die Dokumente wieder in den Westen. Bei der ungarischen Botschaft
wurde ein Touristen-Visum beantragt. War das im Pass eingetragen,
fehlte nur noch der Einreisestempel. "Den gab es in Ungarn zu
kaufen", sagt Hartmann. Man brauchte nur einen Insidertipp. Und den
hatten manche Diplomaten.
"Nicht alles, was die Stasi aufgeschrieben hat, ist falsch,"
sagt Hartmann. Wie etwa die Geschichte mit der Fluchthilfe. Die
wurde in Ungarn nicht so streng bestraft wie in anderen
Ostblock-Ländern. Auf dieses Delikt standen höchstens
sechs Monate Freiheitsstrafe, wenn es ideelle Hilfe war. Floss
dabei Geld, ging die Strafe selten über zwei Jahre hinaus. "Es
liegen Informationen vor," meldete ein MfS-Mitarbeiter, "dass
Hartmann Schleusungen von DDR-Bürgern in türkischen
Fleischtransportern vermittelt." Stimmt das? "Ich habe im Rahmen
meiner Möglichkeiten Tipps gegeben," sagt er.
Im Herbst 1984 geriet auch die deutsche Botschaft in Budapest
ins Licht der Öffentlichkeit. Eine große
Boulevard-Zeitung berichtete, dass vier verzweifelte
DDR-Flüchtlinge, ein Zahnarzt, seine Frau und zwei Kinder, in
der Mission Zuflucht gesucht hätten. Eine abgesprochene
Aktion, vermutet Hartmann. Das Haus war bereits mit mehr als einem
Dutzend anderer Hilfe Suchender voll. "Wir gehen hier nicht mehr
raus," sagten die Neuen. Eine auch nur befristete Rückkehr in
die DDR lehnten sie ab.
Durch die Indiskretion geriet die Botschaft in eine heikle Lage.
Immer mehr Flüchtlinge glaubten, durch Beharrlichkeit eine
unmittelbare Ausreise in den Wes-ten ertrotzen zu können. Kurz
darauf erhielten die Diplomaten unerwartet publizistische
Unterstützung. ZDF-Korrespondent Hans-Jürgen Wiesner, mit
den Praktiken des Freikaufs vertraut, stellte sich vor die Mission
und sagte, hinter den Mauern spiele sich eine Tragödie ab. Da
säßen Leute, die meinten, sie könnten von hier aus
direkt in die Bundesrepublik ausreisen. Das aber sei ein
Irrglauben. Je schneller das die Leute begriffen, desto besser sei
es für sie selbst.
Das deutsche Fernsehen war in Ungarn nicht zu empfangen.
Satellitenschüsseln gab es noch nicht. Vom Bundespresseamt
ließ sich Hartmann eine Kassette mit Wiesners Kommentar
schicken. Den mischte er unter andere Streifen, die den
Botschaftsflüchtlingen im Aufenthaltsraum zur Unterhaltung
vorgeführt wurden. "Auf einmal wurde es ganz still", sagt
Hartmann. Zwei Tage später seien die ersten Zufluchtbewerber
gekommen und hätten erklärt: Wir fahren wieder
zurück.
Fünf Jahre ging das so weiter. Die DDR bestimmte, wie viel
die Bundesrepublik für jeden Ausreisekandidaten als Preis
seiner Entlassung aus der Staatsbürgerschaft zu zahlen habe.
Hartmann war inzwischen nach Bonn gewechselt, saß im
Ministerbüro vom Chef des Kanzleramtes. An einem Tag im Mai
1989 sah er im Fernsehen, wie der ungarische und der
österreichische Außenminister in einem symbolischen Akt
mit Scheren den Eisernen Vorhang durchschnitten. "Das gibt Arbeit",
hat Hartmann damals gedacht. "Wenn das die DDR-Leute sehen,
beginnen die zu laufen."
Peter Pragal
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