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Reinhard Bernhof
Leipziger Protokoll
Einleitung
Am 16. Oktober 1989 stand ich nachmittags vor der Nikolaikirche.
Sie zu betreten war nicht möglich. Es galt wohl noch immer,
was ich später ineinem chiffrierten Fernschreiben der
SED-Bezirksleitung Leipzig an Egon Krenz las, nämlich dass
vorbeugende Maßnahmen gegen "negativ-feindliche Handlungen von
Kräften des politischen Untergrunds im Bereich der Leipziger
Innenstadt (Schwerpunkt Nikolaikirche, Thomaskirche und Reformierte
Kirche) durch Mitglieder der Partei in Größenordnungen zu
ergreifen sind, die das Auftreten konterrevolutionärer und
rowdyhafter Elemente ausschließen. Dazu sind am 9. Oktober
1989 - 15.00 Uhr - aus dem Stadtparteiaktiv, dem sozialistischen
Jugendverband, der Gewerkschaft 5000 Partei-, FDJ- und
Gewerkschaftsmitglieder auf dem Vorplatz der Nikolaikirche zu
formieren. Bei diesem Einsatz ist zu sichern, daß mit
Öffnung der Nikolaikirche zum 'Gebet' sofort 2000
Parteiaktivisten im Innenraum Platz nehmen und der Zugang negativer
Kräfte weitgehend eingeschränkt wird. Die Mitglieder der
Partei und FDJ, die nicht im Kircheninnern Platz finden,
übernehmen den Auftrag, die Formierung negativer Kräfte
auf dem Kirchplatz zu verhindern. Es ist eine Reserve von 500
Genossen zu schaffen, die bei beabsichtigten Veranstaltungen in der
Thomas- und Reformierten Kirche sofort zum Einsatz kommen
kann."
Ich ging in das gegenüberliegende Fachbuch-Antiquariat, wo
ich mich manchmal aufhielt. Über das Pflanzenbuch in meiner
Hand hinweg blickte ich immer wieder auf den Kirchplatz. Zu zweit
und zu dritt standen einige mit dem Rücken zum Schaufenster,
trafen wie zufällig aufeinander, sahen sich verunsichert um.
Einzelne Leute strichen über den Vorplatz, kamen wieder
zurück. Ein hagerer Mann mit grimmigen Zügen und strenger
Entschlossenheit schaute auf die Uhr. Ich blätterte und
bewunderte die farbigen Abbildungen eines Ginkgobaumes. In einem
Fachbuch der ehemaligen Leipziger Firma Bleichert, die einst
Seilbahnen baute, in der DDR hieß sie "TAKRAF Paul
Fröhlich", sah ich mich in einer Gondel zwischen Eisgletschern
zur Zugspitze oder zwischen Palmen und Meeresrauschen auf den
Zuckerhut fahren.
Als ich erneut nach draußen blickte, sah ich bereits eine
Menschenmenge. Jugendliche direkt vor dem Kircheneingang winkten
keck einer Kamera entgegen. Auch ich hatte ihr Rotieren auf dem
Dach des gegenüberliegenden Pelzzentrums registriert. Gespannt
wartete jeder auf das Ende des Friedensgebets. Von westlichen
Kameraleuten nicht die geringste Spur. Sie hatten strikte Auflagen,
sich außerhalb der Hauptstadt nicht mehr in Richtung
"Realexistierendes" zu begeben.
Langsam verließ ich das Antiquariat. Es waren inzwischen
vielleicht ein- oder zweihundert Menschen versammelt, manche von
ihnen gewiss jene Beorderten. In wenigen Minuten, aus der Kirche
tretend, würden sich die frommen Genossen unter das Volk
mischen. Doch wie wollten sie in dem Gewimmel ihre Parteilichkeit
beweisen? Ihren Klassenstandpunkt? Den meisten, nahm ich an, waren
diese Gedanken nur peinlich, und sie würden eilig
weggehen.
Jemand tippte mich von der Seite an. Sylvia Kabus stand neben
mir, außer Atem. Von wo war sie gekommen? Ich ging mit ihr
zurück ins Antiquariat und besprach das dritte Heft unserer
illegalen Literatur-Zeitschrift "Umfeldblätter". Sie hatte mir
die dafür in Frage kommenden neuen Texte von dem Physiker
Karl-Peter Dostal, der an der Karl-Marx-Universität lehrte,
Aphorismen von Horst Drescher und den Essay "Die maßlose
Gesellschaft" von Winfried Völlger mitgebracht. Völlger,
der in Halle lebte, hatte diesen Essay als Diskussionsbeitrag im
Mai 1989 anlässlich der Tage der Kinder- und Jugendliteratur,
die im Bezirk Leipzig stattfanden, gelesen, und es hatte sich
sofort herumgesprochen: Ich warf einen kurzen Blick auf
Völlgers Seiten - und sofort hakten sich einige Sätze bei
mir ein: "Wo der Handlungsspielraum sich verengt, wo das Meer
Freiheit durch immer perfektere Reglementierungen eingeengt wird
zur schmalen Fahrrinne, wo also Freiheit verloren geht, verlieren
die ethischen Werte ihren Sinn als Navigationsinstrumente, sie
büßen ihre soziale Funktion ein. Es kommt zur ethischen
Inflation."
Unmerklich, ich traute meinen Augen kaum, hatte sich der Platz
mit Menschen gefüllt, die von der Ritterstraße,
Goethestraße, Reichsstraße sternförmig herbeieilten.
Da gingen die Türen von St. Nikolai auf. Die ersten
strömten heraus, sahen sich verstört um.
Schwerfällig aussehende Männer von kleinem Wuchs,
ältere Jahrgänge, in Mänteln, mit Aktentasche. Stets
ihr sächsischer Akzent, singend und schleppend, in meinen
Ohren. Ein bleicher dicker Mann, der mit abwesender Miene vor sich
hinstarrte. Das kreisrunde Gesicht von glatter, glänzender
Haut. Vielleicht hatte er vorher in irgendeinem Amt, einer
Abteilung gearbeitet, war nun benommen. Oder ich täuschte mich
und es war der Bischof persönlich?
Sie tauchten unter in der anschwellenden Menge. Unversehens
standen wir in einer Drängelei und hatten kaum noch Platz
für den kleinsten Schritt. Eingeklemmt zwischen Schultern,
Rücken und Ellenbogen. Die ersten Chöre: "Neues Forum
zulassen!", als wäre es bereits eine Größe mit
festen Strukturen. Andere riefen "Gorbi, Gorbi!" Der
Perestroika-Vater erschien uns wie ein Schutzheiliger für den
Fall, dass bei den Machtträgern die Glühfäden im
Gehirn durchbrannten.
Langsam begriffen wir, dass wir uns nicht bewegten, sondern
gedrückt, getragen, gehoben wurden und Teil eines ganz anderen
Körpers waren, der sich Zentimeter für Zentimeter in
Richtung Ritterstraße, Grimmaische Straße wälzte.
Aber da ließ die Kraft hinter uns plötzlich nach. Ein
kleiner leerer Raum um uns. Eine Luftblase, zum Atmen. In der
Grimmaischen stauten wir uns erneut, in eine noch größere
Menge hineingepresst, die sich vom Markt zum Karl-Marx-Platz
drängte. Staunen, gegenseitiges Anstaunen, dass jeder zu den
vielen gehörte. Wir sind das Volk, unkten manche. Das war der
erste unerhörte Eindruck. Vielleicht, weil jeder den anderen
bislang für einen Opportunisten, Duckmäuser, Feigling,
für einen Begrabenen gehalten hatte.
Eine Gruppe mit Kameras, in Kutten, mit Schals und langen
Haaren. Ein Filmer rief: "Wir sind von Babelsberg!" Sie wurden von
einigen argwöhnisch beäugt. Die Stadt voller Dissidenten,
dachte ich, spontan und friedlich. Hiergebliebene! Ein Mann neben
mir reckte sich: sein langer Hals und sein nach hinten gedrehter
Kopf. Er versuchte abzuschätzen, wie viele es sein
könnten. Sprünge, erstaunte Ausrufe. Bis ich ebenfalls -
nach hinten blickend - sprang. Jeder fühlte sich wie berauscht
und neu beatmet. Gemeinsam nun in einer einzigartigen, nie
dagewesenen Konkretheit. Qualität und Selbstbewusstheit
zugleich. Waren es bereits Fünfzigtausend? Hunderttausend?
Gleich würden wir die Goethestraße überqueren,
eingekeilt, ohne eigentlich gehen zu können. Überall
Menschen. Wenn sie heute nicht eingreifen, dann haben wir gewonnen,
dachte ich, kann es am nächsten Montag zu einer noch
größeren Demonstration kommen. Doch als Held fühlte
sich keiner. Die meisten wunderten sich wohl nur über sich
selbst, über ihre Neugier, über die abgeschüttelte
Angst und plötzlich aufgekommene Zivilcourage. Sie zeichnete
sich als Freude in den Gesichtern ab und würde sich langsam
auf die noch Unentschlossenen übertragen. Irgendetwas Neues
schien anzufangen, gepaart mit Hunger nach Aktion, das
Bedürfnis, sich auf die Straße und nur auf die
Straße zu begeben. "Keine Gewalt! Neues Forum zulassen! Erich,
laß die Faxen sein, hol die Perestroika rein! Stasi raus!
Schließt euch an!" Zehntausende drückten sich mit einem
Mal präziser aus als vierzig Jahre
Gesellschaftswissenschaften. Die Theoretiker hatten längst
vergessen, dass es jenes Volk noch gab, stets unter Verschluss
gehalten in Reagenzglas und Glaskolben, kampagnegeschüttelt,
im Labor für Endzeitexperimente.
Wie hatte der Medizinstudent bei meiner Kontaktstunde über
die erste größere Demonstration gesagt? "Nirgends einer,
der anführte. Jeder ein Anführer durch sein Dabeisein."
Keiner hatte einen Stein in der Hand. An den Springbrunnen in der
Grimmaischen Straße hätte man sich nur zu bücken
brauchen. Steine waren so reichlich vorhanden, daß sie etliche
Lastwagen hätten füllen können.
Plötzlich, nur wenige Meter von uns entfernt, das erste
Transparent. "Jetzt oder nie, Freiheit und Demokratie!" Sofort
sprang ein junger Mann daran hoch und zerrte es herunter.
Demonstranten griffen ein, ein Handgemenge. Schließlich konnte
es zurückerobert werden, die beiden Träger streckten es
mit freudigem Gesicht wieder hoch. Beifall und Jubelschreie. Es
bildete sich sogar eine Gasse, durch die der Provokateur, ohne
angegriffen zu werden, entschwinden konnte.
Nicht die leisesten Anzeichen von Gewalt. Doch aus den
Lautsprechern des Stadtfunks ertönten ständig Mahnungen
von Funktionären und Persönlichkeiten, ausgehend vom
Krisenstab der SED-Bezirksleitung, um beschwörend und mit
indirekten Drohungen von einem Weitergehen abzuraten. Der
Vorsitzende der liberalen Blockpartei pries sich in voller Inbrunst
an, jederzeit für einen Gedankenaustausch zur Verfügung
zu stehen, als hätte er vorher keine Zeit dafür gehabt,
keine Gedanken besessen, als wäre er, der stets wie alle
anderen Blockfreunde so beredt geschwiegen hatte, nun mutig und
aufrichtig geworden und bereit, geeignete Sätze zu
produzieren, die hätten beeindrucken können. "Aber nicht
auf der Straße!" lockte er. Der Gewandhaus-Kapellmeister Kurt
Masur verblüffte mit der simplen Erkenntnis, "dass bei uns
vieles in Bewegung geraten ist, und dass es gut ist, dass es in
Bewegung geraten ist. (...) Man darf mit seiner Meinung nicht
hinterm Berg halten." Ins Gespräch wollte auch er kommen.
Der Wahrener Pfarrer Gottfried Schleinitz zitierte die
Bibelworte: "Suchet der Stadt Bestes!" und gab den Demonstranten zu
bedenken, ob jenes das Beste sei, was auf der Straße
ausgehandelt werden solle. Erneut zitierte er die Bibel: "Suchet
Frieden und jaget ihm nach. Wem jagt ihr nach, oder was jagen wir?"
Er nannte den Propheten Jeremia und den Apostel Paulus. Sie waren
vor Jahrtausenden ebenso ohnmächtig gewesen wie er in dieser
Minute. Eindringlich bat er: "Aber wirklich keinerlei Gewalt. Was
uns bleibt, ist die unbewaffnete Hoffnung." Pfarrer Schleinitz hat
selbst an den Demonstrationen teilgenommen und war über seine
Worte, als er sie im Stadtfunk hörte, erschrocken. Stunden
zuvor, "von Angst beherrscht, sie war greifbar und begründet",
wie er mir später sagte, hatte er sie aufs Band gesprochen und
den Krisenstab in der SED-Bezirksleitung gebeten, sie nur bei
äußerster Gefahr zu senden. Die richtigen Worte zur
falschen Zeit, am falschen Ort, resümierte er hinterher seine
Botschaft.
Ich hatte es auch so empfunden, denn keiner der Demonstranten
drohte mit der Faust. Ein jeder war überzeugt davon, sich auf
dem richtigen Weg zu befinden. Die ersten Pfiffe dann, als einer
der SED-Sekretäre davon sprach, dass viele den in Gang
gekommenen Dialog angenommen hätten. Die Pfiffe wurden lauter,
als der alte Agitator von Frieden, Freiheit und Demokratie sprach.
Mit autoritärem Pathos rief er: "Unsere Partei bekennt sich zu
Veränderungen und will sie. Dafür ist die Straße
weder Ort noch Mittel, deswegen bitten wir Sie: Gehen Sie besonnen
und ruhig auseinander, damit gemeinsames Handeln möglich
wird." Es klang dennoch wie eine Polizeistimme, auffordernd. Nichts
war in den vergangenen Jahren mehr beschworen worden als das
"gemeinsame Handeln". Sie prallten ab, diese Worthülsen, und
riefen nur Kopfschütteln hervor.
Wie aus einer Wand tretend, sah ich vereinzelt Jugendliche. Ihre
Arme lösten sich vom Körper. Einer winkte. Andere fassten
Mut, traten aus der Masse, begannen lachend loszulaufen. Für
Sekunden - wie erstarrt sah ich es - stand eine Komposition von
sechs, sieben jungen Leuten mitten auf dem Georgiring, direkt vor
der Post. Ob diese ihre Schritte in zehn oder 20 Jahren als Denkmal
nachgestaltet werden würden: Schritte aus dem Stein? Manche
Autofahrer kurbelten das Fenster herunter, lächelten. Ich
glaubte zu träumen. Lief wie in den Siebzigern jeweils zum
Mai-Ersten mitten auf dem Georgiring. Damals waren noch
dreihundert- bis vierhunderttausend Herbeibefohlene an der
Ehrentribüne vorbeimarschiert, waren wir alle noch
Revolutschonöre. Ikonografie und Spruchbänder für
die großen Erfolge. Ich schrieb an meinem Buch "Im Schatten
der Kolossalfiguren": Höfisches Gewinke / zu den Spitzen des
Bezirks / treppauf / ordensbeschuppte Militärs / unhörbar
klatschend / Phlegma-Gesichter / die gelangweilte Blicke durch
Lider filtern / fischäugig über Brillen hinweg.
Jetzt standen an der Stelle, wo einst die Tribüne war, nur
zwei Rentnerinnen und ein Rentner mit einem Terrier abgewandt vor
dem Deli-Feinkost und schauten verwundert zu den Demonstranten.
Beim Erreichen der Fußgängerbrücke, die wir "Blaues
Wunder" nannten, winkten uns Schaulustige zu. "Schließt die
Lücke - runter von der Brücke!" In breiter Front, fast
beide Fahrbahnen ausfüllend, schwenkten die Demonstranten ein
zum Dittrichring. Nirgends ein Transparent. Eine gespenstische
Masse, begierig in Erwartung der Stasi-Zentrale.
"Stasi in die Volkswirtschaft! Pressefreiheit! Reisefreiheit!"
Zwei junge Frauen neben mir jaulten wie Wildkatzen. Ihre Gesichter
puterrot, ihre Stirnadern geschwollen. Es war nicht mehr die
Entspanntheit der Physiognomien wie noch vor wenigen Minuten auf
dem Georgiring, am Hauptbahnhof oder unter dem "Blauen Wunder".
Hier, an der "Runden Ecke", kam in alle Gesichter eine andere
Dynamik, entlud sich eine Energie, die in dieser Heftigkeit und
Stärke keiner erwartet hätte. Eine Rollstuhlfahrerin
drohte mit der Faust und blies ständig ihre Trillerpfeife. Wir
klatschten ihr entgegen. Sie rief: "Ich bin sechsundsiebzig und
laufe noch wie geschmiert!"
Das Pfeifkonzert wurde schriller. Ich schloss die Augen. Meine
Schultern brannten. Dann wieder die vielen Gesichter. Nirgends ein
Mund, den nicht die Bitterkeit eines Fluches bewegte. Schreie aus
der Tiefe des Bauches, verzerrte Gesichter. In diesem Moment wusste
ich, dass sich das unheimliche Haus, vor dem wir standen, das
Bollwerk der Gewalt, von diesem Orkan der Wut und des Hasses nicht
mehr erholen würde. Obwohl es fest und uneinnehmbar im Dunkeln
stand, ohne Licht in den Fenstern. Doch wer ahnte nicht, dass sich
hinter diesen Mauern dienstbare Ohren befanden. Sie würden den
Protest bis nach Wandlitz weiterleiten, in geheime Zimmer,
vollgestopft mit Elektronik.
Jetzt werden sie in ihren allwissenden Kollektiven sitzen und
zittern, dachte ich, so als würde ein Meteorit aus der
grenzenlosen Weite des Himmels langsam und unabwendbar auf sie zu
rasen. Sie werden ihre hermetische Welt nicht mehr verstehen, ihre
Weltanschauung, in der sie gefangen leben, ohne wirklich ihr
eigenes Land zu erkennen. Nester von Kerzen. Ihre Flammen mahnten
zur Besonnenheit. Das Neue Forum hatte eine Menschenkette vor dem
Haupteingang dieser Bezirksbehörde gebildet. Einige Personen,
die ich kannte, hatten dort ihre Familienangehörigen an die
Hand gefasst. Riefen besänftigend den in Hitze gekommenen
Gesichtern entgegen: "Geht weiter!" Wer fühlte nicht, dass in
dieser Erregung alle Hemmungen überwunden waren. Heute
weiß ich, wie richtig das Neue Forum damals gehandelt hat, als
es das Gebäude schützte. Denn für die
Objektverteidigung hatte es klare Befehle gegeben. "Wenn
Mitarbeiter angegriffen worden wären, ich weiß nicht, wie
ich mich entschieden hätte", sagte später der Leiter der
Bezirksverwaltung, Generalleutnant Manfred Hummitzsch, in einem
Interview.
Im Hintergrund, auf der rechten Seite des Gebäudes, nur
eine kleine Berufsriege von Bewachern in Drillichzeug. Ohne Helme,
Visier und Nackenschutz. Ohne "Bunanudeln und RW"
(Reizwurfkörper). Ohne Pistolen und Hunde. Ohne
Schützenpanzer. Ohne Stahlkolosse mit Räumpflügen.
Ohne MP mit je sechzig Schuss Munition, wie sie noch wenige Tage
zuvor zu sehen gewesen waren. Diese Riege wirkte harmlos,
schüchtern. "Zieht Euch um!" Die MfS-Soldaten sahen uns an,
lächelten, als wollten sie sagen: Seht, wir sind nicht mehr
bewaffnet. Sind schon halb umgezogen. Stehen nur noch da.
Unsere Lungen waren erschöpft. Mit unverbrauchter Energie
und Frische tobte der Orkan hinter uns weiter, ungebrochen grell,
elementar. Sylvia und ich waren am neuen Gebäude des
Datenzentrums vorbeigelaufen. Kein Licht in den schmalen
Fensterschlitzen. Was wird mein Etagennachbar, Professor für
Bauwesen, jetzt denken und tun, kam es mir in den Sinn, der
Direktor dieses Hauses. Wird er sich noch im Gebäude befinden,
in erhöhter Alarmbereitschaft? Aus dem Dunkeln herunterblicken
auf das konterrevolutionäre Treiben? Einige Wochen später
fragte ich ihn im Hausflur danach, und er bestätigte mir, dass
er tatsächlich dort gewesen sei. Unbegreiflich für ihn,
dass sein "Rad der Geschichte" plötzlich Achsenbruch
hatte.
Vor der Thomaskirche vereinzelte Polizisten. Demonstranten
diskutierten mit ihnen. Wir kommen wieder! Ja, das werden wir,
sagte ich. Sylvia verabschiedete sich von mir. Sie hatte ihren
Trabant am Hauptbahnhof abgestellt. Mein Auto stand am
Dimitroff-Museum. Nur wenige Fahrzeuge begegneten mir auf der
Heimfahrt. Als ich kurz nach 21 Uhr zu Hause war, rief ein
Korrespondent aus Amsterdam an. Er fragte, ob ich auch
schwarz-rot-goldene Fahnen gesehen hätte. Ich war perplex und
erzählte, dass nach Meinungsfreiheit und nach Demokratie
gerufen worden sei. Er wollte sich wieder melden.
Am nächsten Tag Empörung in fast allen Zeitungen.
Aufgrund der Demonstration sei der Verkehr zusammengebrochen. Trotz
der Aufrufe von Leipziger Persönlichkeiten habe sich wieder
ein Zug formiert. Transparente seien aufgetaucht: Dialog statt
Gewalt! Mehr tun für die Umwelt! Transparente hatte ich nicht
gesehen. Die "Volkszeitung" schimpfte, dass Demonstranten immer
wieder Abkürzungen durch Grünanlagen suchten. Als
ungereimt empfand sie auch, dass manche Berufsverbot für einen
Kommentator des DDR-Fernsehens gefordert hätten. Gemeint war
Karl-Eduard von Schnitzler. Die "Volkszeitung" konnte nicht fassen,
daß viele Bürger, die sie als ihr Volk interviewen
wollte, nicht bereit waren, etwas zu sagen, als sie bemerkten, dass
es Reporter eben jenes Blattes waren.
Wie falsch war auch die Berichterstattung über die
Situation vor der Stasi-Zentrale: Volkspolizisten, die den nahe
gelegenen Gebäudekomplex der Behörde der Deutschen
Volkspolizei sichern, schlägt ein gellendes Pfeifkonzert
entgegen. Erst in einem hinteren Komplex, im
Barfußgässchen, befand sich der Eingang der
Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei. Warum sollte
ausgerechnet sie mit Pfiffen und Buh-Rufen belagert worden sein?
Zuletzt das Lamento, dass zweieinhalb Stunden keine
Straßenbahnen über den Ring hatten fahren können.
Die Zeitung ließ sogar den Technischen Direktor der
Verkehrsbetriebe sprechen. 320 Fahrten waren ausgefallen. Tausende
- vor allem Mitarbeiter von Handels- und
Dienstleistungseinrichtungen - hätten vergeblich auf ihre Bahn
gewartet. Aber an den Haltestellen war niemand zu sehen gewesen.
Alle waren demonstrieren.
Im Radio forderte plötzlich sogar das Politbüro eine
umfassende Volksaussprache, "um das weitere Gedeihen des
sozialistischen Vaterlandes zu gewährleisten". Als sei der
bisherige Sozialismus attraktiv und bedürfe noch einer
Steigerung, während sich seine Repräsentanten in eine
hoffnungslose Sackgasse manövriert hatten. Und die Greise
riefen: "Dialog ist unsere Politik!" Hatte es je einen Dialog
gegeben mit den Ureinwohnern von Wandlitz? Auch die
SED-Bezirksleitung sagte jetzt, dass ein "offenherziges und
vertrauensvolles Aufeinanderzugehen" unerlässlich sei, davon
habe sie sich auch am letzten Montag leiten lassen. Gemeint war die
Erklärung vom 9. Oktober im Leipziger Stadtfunk, die jedoch in
fünf Sätzen nur das wiedergab, was Menschenrechts-,
Friedens- und Umweltgruppen, das Neue Forum, die vielen Pfarrer der
Stadt und Landesbischof Hempel stets forderten: "Keine Gewalt!
Besonnenheit, friedliches Sprechen." Nur wurde ihnen die
Öffentlichkeit verweigert.
Umso verwirrter und unsicherer war die örtliche
Bezirksbehörde des Ministeriums für Staatssicherheit, wie
sich später erwies. Ihr Leiter verstand nicht, "warum nicht
einer von den drei beteiligten Herren der SED-Bezirksleitung den
allgewaltigen und gefürchteten Stasi-Chef angerufen und gesagt
hat: Mach alles, damit es nicht zur Konfrontation kommt. Es lag
doch mit in meiner Hand, was gemacht wurde. Ich hätte doch
diese riesige Last der Verantwortung mittragen müssen, wenn
ein Demonstrant oder einer von den MFS- und VP-Leuten die Nerven
verloren hätte." Zumindest hatte der General seinen Leuten
verboten, Waffen zu tragen, und zwar "gegen die Dienstvorschriften
des Ministers".
Erst durch den Druck der Straße und durch neue Anweisungen
der Parteileitungen probierten viele Genossen und Professoren
erstmalig den öffentlichen Dialog als neue soziale
Verhaltensform, den zwei Generationen in ihren Lebenserfahrungen,
aber auch in ihren Verhaltensmotiven nicht gekannt hatten.
Tatsächlich schien es, als gestatte die Situation ihnen
für Sekunden eine historische Erfrischung, eine
persönliche Belebung. Wie schön klangen nun ihre
Sätze, als sie feststellten, eine Presse zu benötigen, in
der das Volk mit seinen Erfahrungen zu Worte käme. Auch die
SED-Bezirksleitung sprach mit den Leipzigern, als seien es ihre
vertrautesten Freunde. Geduld und Beharrlichkeit forderten sie
plötzlich und ein gütliches Aufeinanderzugehen. Herrschte
auch nicht immer Einigkeit in den Wegen, so doch im Ziel der
Gespräche: Wie gestalten wir für uns eine attraktive
sozialistische DDR, der keiner mehr den Rücken kehrt?
Dennoch distanzierten sie sich immer heftiger von denjenigen,
die nun begannen, um den Kern dieser Stadt zu laufen. Auf den Ring
gingen die Verführten, in die Hörsäle und Foren
strömten die ehrlich Gesonnenen, die Intelligenteren. Ich
hielt mir fast die Ohren zu, so diskussionsfreudig waren auf einmal
die jahrzehntelangen Schweiger der SED, CDU, LDPD, NDPD. Sie
spannten all ihre Künstler und andere Persönlichkeiten
ein, um sich an die Spitze der Bewegung zu befördern und
Dialoghäuser zu schaffen. Dialog war in wenigen Tagen zu einem
Schlagwort geworden. Es klang schon wieder wie eine Kampagne: sich
verpflichtet zu fühlen, sich stets verpflichtet zu fühlen
zu dem, was alle für ihre Pflicht hielten. Wie sollten wir
diesem zunehmenden Willen zum Gespräch Glauben schenken,
für Besseres zu streiten, wenn die Forderungen des Neues
Forums weiterhin verschwiegen wurden? Es war nicht zugelassen und
wurde ständig bedroht. Am 19. Oktober, bei einer Diskussion in
der Moritzbastei mit 1500 Teilnehmern, erhob sich aus einem
heftigen Disput die Forderung nach Zulassung des Neuen Forums. Doch
ihre Vertreter wurden nicht in das Präsidium gelassen, weil
Roland Wötzel, Bezirkssekretär der SED, sich nicht mit
einer "staatsfeindlichen Organisation" an einen Tisch setzen
wollte. Hatte er sich nicht am 9. Oktober in dem gemeinsamen Aufruf
für Dialog ausgesprochen? Was war davon
übriggeblieben?
Das Neue Forum wird bald zugelassen, sagte mir Wolfgang E.
Schütte, ein Schriftstellerkollege. Wir trafen uns
zufällig vor der Hinrichschen Buchhandlung in der
Mädlerpassage. Aber nur als Partei, fügte er hinzu. Als
Partei verstehen wir uns weniger, sagte ich. Mehr als Bewegung
bewegter Bürger mit Zivilcourage. Gewiss nicht als
Ergänzung zum Blockflötenspiel in der Nationalen Front.
Das war doch 1949. Ein Anachronismus. Ich lachte ihn an und sah ein
unergründliches Funkeln der vergrößerten Augen
hinter seiner eloxierten Brille.
Zu Hause erreichte mich der Anruf eines weiteren Kollegen,
Mitglied der LDPD. Seine plötzliche Freundlichkeit kam mir vor
wie Geschmuse. Er wolle mich demnächst besuchen und doch noch
den "Aufruf unterschreiben". Ob Bürgerbewegung oder Partei.
Eine neue Fahne, regenbogenfarben, war das Neue Forum allemal. Sie
war ein Flattern zwischen Empörung und Mut.
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