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Thomas Ahbe
Die Konstruktion der Ostdeutschen
Diskursive Spannungen, Stereotype und
Identitäten seit 1989
Einleitung
Mit der Maueröffnung am 9. November 1989 begann in der
Beziehungsgeschichte der Deutschen aus der Bundesrepublik bzw.
West-Berlin und denen aus der DDR ein neues und recht dynamisches
Kapitel. Zu seiner Vorgeschichte gehörte nicht nur der
während der Leipziger September-Proteste von 1989 intonierte
Sprechchor "Wir wollen raus!", sondern auch der Ruf "Wir wollen
rein!", mit dem im Dezember 1989 die Einwohner aus den bayerischen
Nachbardörfern an dem für sie immer noch unpassierbaren
Grenzzaun nahe des westthüringischen Grenzdörfchens
Ketten rüttelten. In diesen Monaten war man neugierig
aufeinander, relativ offen, und viele waren gerührt.
Bald wurden die Westdeutschen mit jenem Etikett belegt, das man
in West-Berlin bis dahin den aus dem Bundesgebiet Zugezogenen
gegeben hatte: "Wessis". Die Ostdeutschen wurden entsprechend
"Ossis" genannt. Die im offiziellen Sprachgebrauch genutzte
Bezeichnung, welche die Bürgerinnen und Bürgern "aus den
alten Bundesländern" von jenen "aus den neuen
Bundesländern" unterschied, fand in der Alltagssprache nicht
nur wegen ihrer politisch-korrekten Umständlichkeit kaum
Eingang, sondern wohl auch, weil viele Menschen aus den "alten
Ländern" in den Ostdeutschen die "alten", weniger
modernisierten Deutschen sahen, während man selbst sich eher
"neu" und modern fühlte. Zudem sprach für die
Wessi-Ossi-Entgegensetzung, dass sie terminologisch auf die Wurzeln
der Differenzen zwischen den beiden Bevölkerungsteilen
verwies. Beide waren zwar mental "von einem Stamme",
repräsentierten letztlich jedoch unterschiedliche Varianten
des Deutschseins im 20. Jahrhundert: die Menschen in den alten
Bundesländern die - im Sinne der Nachkriegssystematik -
westliche Variante und die ehemaligen DDR-Bürger die
östliche.
Bei der Thematisierung der Wessi-Ossi-Friktionen, die man in den
letzten 15 Jahren verfolgen konnte, ging es häufig nicht nur
um den Unterschied zwischen West- und Ostdeutschen. Vielfach waren
die Spannungen durch andere Konflikte verstärkt oder
überhaupt verursacht - etwa durch kulturelle Konflikte
zwischen verschiedenen Milieus, durch Generationskonflikte oder
durch Hierarchie- und Ausbeutungsverhältnisse, durch den
Abstand von Wohlhabenden und weniger Besitzenden und
schließlich durch politische und ideologische Konflikte. Gerne
und bis heute anhaltend werden diese Spannungen oder Konfliktlinien
mit dem Etikett "West-Ost-Unterschiede" - also der, wie es in der
Sprache der Politiker heißt, noch "unvollendeten inneren
Einheit" - belegt.
Wenn die West-Ost-Friktionen der neunziger Jahre thematisiert
werden, hört man - zumindest im Osten - rasch das Stereotyp
vom "Besserwessi" und allerlei schlimme Beispiele von seinem
Wirken. Diese sollen hier nicht angezweifelt werden.
Vielmehr soll zunächst in
Erinnerung gerufen werden, welche Botschaft "die Ostdeutschen" in
den Jahren 1989/90 an "die Westdeutschen" sandten und welche
Haltung sich mit einer gewissen Berechtigung die (Besser-)Wessis
von den Ossis erhoffen konnten. Schließlich waren es doch die
Ostdeutschen, die 1989 zu Tausenden in den Westen geflohen waren,
die in den beiden Parlamentswahlen 1990 das konservative
Parteienbündnis für den schnellen Beitritt und die
Währungsunion wählten - und nicht die west-ostdeutsche
SPD oder die PDS, die autonome Demokratisierung und wirtschaftliche
Sanierung der DDR im Rahmen einer Konföderation und
schließlich eine gleichberechtigte und durch eine
west-ostdeutsche Volksabstimmung legitimierte Vereinigung
vorschlugen. Konnte man, als nun dieses von einer großen
Mehrheit der Ostdeutschen gewählte Szenario der Übernahme
des westdeutschen Modells exerziert wurde, von jenen nicht
erwarten, dass sie dankbar und kritiklos das westdeutsche System,
die Schulung durch seine Aufbauhelfer mitsamt deren
Lebensweisheiten und Geschmacksvorstellungen übernehmen
würden? Man sollte den Westdeutschen, die den Osten zu
verstehen suchten oder dort auf die eine oder andere Art agierten,
die Berechtigung für diese Erwartungshaltung nicht
absprechen.
Bald zeigte sich jedoch, dass die Interaktion zwischen West- und
Ostdeutschen dieser Erwartungshaltung nicht entsprach und
stattdessen von großen Spannungen begleitet war. Um die
Ursachen dieser Spannungen zu erklären, sollten, bevor von
Identität, dem viel zitierten gelebten Leben und von
entwerteten Biographien gesprochen wird, vor allem die typischen
sozialen Rollen, in denen Westdeutsche und Ostdeutsche in den
neunziger Jahren interagierten, analysiert werden. Die Situation
war notwendigerweise asymmetrisch. Die Spitzen- und die Leihbeamten
auf der mittleren Ebene, die entscheidenden Personen in der
Treuhandanstalt, die Liquidatoren, Sanierer, Privatisierer,
Investoren und Kapitaleigner, Chefs in Produktion, Handel und
Versicherung, die Instrukteure, Ausbilder und Evaluatoren, die
Immobilienbesitzer und Vermieter waren meist Westdeutsche - und die
Verwalteten, die Lohnabhängigen, die Empfänger von
Weisungen, die Entlassenen, die Angeleiteten und Evaluierten, die
auf jeder Ebene Lernenden, die Mieter und Besitzlosen waren die
Einheimischen, die Ostdeutschen.
Obwohl das Projekt "Aufbau Ost" riesige Steuermittel verschlang
(und verschlingt) und die Ergebnisse der Privatisierungen im Osten
aus der Sicht der öffentlichen Hand als "Verlust" zu sehen
war, erbrachten diese Investitionen in den Augen der Westdeutschen
und im Vergleich zu ihren eigenen Aufbauerfolgen keinen
wirtschaftlichen Aufschwung, wenig Zufriedenheit, Zuversicht,
sozialen Frieden und Legitimitätsgewinn für das neue
System. Es stellte sich die Frage, ob die "Brüder und
Schwestern" doch nur entferntere Verwandte seien und ob die Effekte
von vier Jahrzehnten DDR-Sozialisation eventuell unterschätzt
wurden.
Effekte der DDR-Sozialisation
Die Wissenschaften haben der Erforschung von Vergangenheit und
Gegenwart der Ostdeutschen große Aufmerksamkeit geschenkt,
etwa durch den Förderschwerpunkt der Deutschen
Forschungsgemeinschaft "Sozialer und Politischer Wandel im Zuge der
Integration der DDR-Gesellschaft" oder durch die Installation der
Kommission zur Erforschung des sozialen und politischen Wandels in
den neuen Bundesländern (KSPW). Inzwischen kann gesagt werden,
dass die Ostdeutschen im Prozess der Transformation
erschöpfend beschrieben worden sind.
Das gilt auch für die bis heute
erkennbare Spezifik der sozialisatorischen Muster, der Wert- und
Sinnvorstellungen der ostdeutschen Bevölkerung. Sie ist eher
unspektakulär.
In empirischer Sicht unterscheiden sich Ost- und Westdeutsche
bei weitem nicht so sehr voneinander, wie man es angesichts der
Klischees, die den medialen Diskurs beherrschen, erwarten
könnte. Das zeigt sich, wenn ein auf der Basis der
speyerischen Wertetypen vorgenommener Vergleich vorgenommen wird.
Mit diesem Zugriff wird rekonstruiert, wie sich die Verteilung von
Personen auf die fünf definierten Wertetypen in verschiedenen
Gesellschaften zu unterschiedlichen Zeiten darstellt.
Der Befund für das Jahr 1990
zeigt, dass auf der grundsätzlichen Ebene die Verteilung der
Wertetypen in Ost- der in Westdeutschland ganz ähnlich ist.
Der Wertewandel als internationales Phänomen hat also auch
"hinter der Mauer" stattgefunden - freilich mit DDR-typischen
Besonderheiten. Damals erwies sich, dass die Ostdeutschen etwas
konventioneller als die Westdeutschen sind. Zudem sind sie viel
öfter materialistisch-hedonistisch und viel seltener
nonkonform-idealistisch orientiert als die Westdeutschen und
schließlich viel seltener perspektivlos-resigniert. Die
letzten drei Befunde widerspiegeln die Stagnation der DDR auf
allerdings hohem sozialstaatlichen Niveau. Schon drei Jahre nach
dem Beitritt der Ostdeutschen zur Bundesrepublik änderte sich
das Bild: Die Ostdeutschen waren etwas weniger konventionell und
weniger materialistisch-hedonistisch orientiert. Die Gruppe der
perspektivlos resignierten Ostdeutschen hat sich hingegen
verdoppelt, während sich die bei den Ostdeutschen ohnehin
größte Gruppe der "aktiven Realisten" noch einmal
vergrößert hat. Dieser Wertetyp, der sowohl hedonistische
Impulse wie die einer anstrengungsbereiten, gewissermaßen
disziplinierten Selbstverwirklichung vereint, gilt als der
modernste und zukunftsfähigste Wertetyp.
Obwohl die ostdeutsche Bevölkerung von ihrer Wertestruktur
also gut in die Marktwirtschaft "passt" und sich dabei nur wenig
von der westdeutschen Bevölkerung unterscheidet, zeigt sie bei
den gesellschaftsbezogenen Werten eine ungleich größere
Distanz zu den Gegebenheiten. Obwohl nur ein Bruchteil "am liebsten
die DDR wieder haben" will
und eine wachsende Mehrheit im
Nachhinein "die Einführung einer politischen Ordnung nach
westlichem Vorbild" für richtig hält,
stehen die Ostdeutschen im Detail den
politischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten des vereinigten
Deutschlands distanzierter oder kritischer gegenüber als der
westdeutsche Durchschnitt. Eine "gute Meinung" über das
westliche Wirtschaftssystem hatten 1990 noch 77 Prozent; im Jahr
1997 war die Gruppe der Befürworter auf 22 Prozent
zusammengeschrumpft. Die Frage, "ob die bundesdeutsche Demokratie die
beste Staatsform ist", bejahten 1997 nur noch 33 Prozent der
Ostdeutschen, der höchste Wert lag in den Jahren 1990 und 1992
bei jeweils 41 Prozent. Die Westdeutschen hingegen halten die
bundesdeutsche Demokratie mehrheitlich für "die beste
Staatsform". Die Zustimmungsraten schwankten hier zwischen 1990 und
1997 kaum und lagen bei etwa 70 Prozent.
Das Demokratieverständnis der Ostdeutschen schließt
neben politischen Rechten auch soziale mit ein, wie der
"Sozialreport 2002" belegt. Die Vorstellungen von sozialer
Gerechtigkeit sind bei den Ostdeutschen deutlich anders als bei den
Westdeutschen. "Bei über 88 % der Ostdeutschen kollidieren die
sozialen Unterschiede in der Bundesrepublik mit ihrem
Gerechtigkeitsempfinden, während 46 % der Westdeutschen sie im
großen und ganzen als gerecht ansehen."
Insbesondere schreiben die
Ostdeutschen dem (Sozial-)Staat größere
Verantwortlichkeiten für soziale Gerechtigkeit und Absicherung
der Menschen zu.
Ein Überblick über die Besonderheiten ostdeutscher
Wertvorstellungen kommt nicht ohne den Rekurs auf die These aus,
dass die hohe Quote fremdenfeindlicher Gewalttaten in den neuen
Bundesländern ein Effekt der spezifischen DDR-Sozialisation
sei. Die Relevanz dieser These entspricht allerdings nicht den
Ergebnissen der empirischen Werteforschung, sondern ihrer Funktion
in den politischen und ideologischen Deutungskämpfen um den
Status der DDR und der Bundesrepublik. Untersuchungen der
Werteforschung konnten die kurzschlüssige Folgerung, dass die
autoritären Herrschaftsformen in der DDR autoritäre
Persönlichkeiten hervorgebracht hätten, nicht
bestätigen.
Auch manche Spekulation über
eine typisch ostdeutsche Indifferenz gegenüber dem
Nationalsozialismus wurden empirisch eindeutig widerlegt; im
West-Ost-Vergleich zeigte sich eher das Gegenteil.
Walter Friedrich überprüfte die Spekulation von der
strukturellen Produktion fremdenfeindlicher und
rechtsextremistischer Einstellungen in der DDR anhand von Daten aus
den sechziger bis neunziger Jahren. Wenn der unterstellte
Zusammenhang zwischen DDR-Sozialisation und der Ausbildung
rechtsextremistischer und ausländerfeindlicher Einstellungen
tatsächlich bestünde, so folgerte Friedrich, müssten
sich anhand der Daten vier Arbeitshypothesen verifizieren lassen:
Erstens müssten diese Einstellungen in der Hoch- und
Stabilitätsphase der DDR stärker ausgeprägt gewesen
sein als in der Niedergangs- und Instabilitätsphase. Zweitens
müssten ältere und mittlere Jahrgänge, die der
DDR-Sozialisation länger ausgesetzt waren, stärker
rechtsextremistische und ausländerfeindliche Einstellungen
zeigen als jüngere. Drittens müsste die Identifikation
mit System und Ideologie der DDR mit der Ausprägung der
genannten rechtsextremistischen und ausländerfeindlichen
Einstellungen korrelieren. Viertens müssten
Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus nach dem Verschwinden
der DDR kontinuierlich zurückgehen. Alle vier
Arbeitshypothesen wurden falsifiziert.
Ein deutlicher Unterschied zu den Westdeutschen zeigt sich in
der "subjektiven Schichteinstufung" der Ostdeutschen. Dabei wird
ermittelt, zu welchen Anteilen sich die Bevölkerung eines
Territoriums welchen sozialen Schichten zurechnet. Erfasst werden
subjektive Zurechnungen, nicht objektive Daten über die
Sozialstruktur einer Bevölkerung. Im Jahr 1992/93 ordnete sich
eine deutliche Mehrheit der Ostdeutschen (61 Prozent) der Unter-
und Arbeiterschicht und eine Minderheit (37 Prozent) der
Mittelschicht zu. Zur Oberschicht zählten sich zwei Prozent.
Bei den Westdeutschen ist das ganz anders: Die Mehrheit (57
Prozent) ordnete sich der Mittelschicht zu, nur 29 Prozent der
Unter- und Arbeiterschicht. 14 Prozent sahen sich der Oberschicht
zugehörig. Zehn Jahre später, im Jahr 2002, sah die
Verteilung immer noch so aus.
Interessant ist, dass die
Sozialstruktur in den alten und neuen Ländern nicht so
differiert, wie es die Erhebung der subjektiven Schichteinstufung
suggeriert. In einem Modell über die reale Schichtung der
westdeutschen Bevölkerung kommt Rainer Geißler zu dem
Ergebnis, dass schon die westdeutschen Randschichten, die un- und
angelernten Arbeiter, die ausführende Dienstleistungsschicht
und die Facharbeiter, etwa 48 Prozent der Bevölkerung
ausmachen, wobei die 12 Prozent "Arbeiterelite" noch nicht
eingerechnet waren.
Bei den subjektiven Zurechnungen der
Westdeutschen definiert sich die Mehrheit jedoch als zur Mitte
gehörig. Ganz anders der Osten. Hier bietet sich, wenn es um
die subjektiven Zurechnungen zur Mittelschicht oder zur Unter- und
Arbeiterschicht geht, ein geradezu spiegelverkehrtes Bild: Die
große Mehrheit rechnet sich im Osten den Arbeiterschichten
zu.
Natürlich liegen die Ursachen hierfür nicht in der
Sozialstruktur; die ist in Ost und West annähernd
ähnlich. Die Ergebnisse widerspiegeln vor allem die
gültigen Wertvorstellungen der beiden Teilgesellschaften. Die
west- wie die ostdeutsche Bevölkerung ordnet sich mehrheitlich
jenen gesellschaftlichen Schichten zu, die in ihren Gesellschaften
als maßgeblich, als stilbildend gelten und durch die
dominierenden Diskurse als "ehrbare Stützen" der Gesellschaft
ausgegeben wurden. In den Einordnungen der Ostdeutschen spiegelt
sich sowohl dasdurch die Offizialdiskurse erzeugte Prestige der
"Arbeiterklasse" und die ihr zugeschriebenen Werte und Lebensformen
wie auch die faktische alltagskulturelle Dominanz und
Maßgeblichkeit der Lebensformen und Wertvorstellungen der
kleinbürgerlich-materialistischen Milieus in der DDR wider. Im
Zusammenfließen des herrschenden Mythos von der Arbeiterklasse
mit der alltagskulturellen Dominanz der proletarisch bis
kleinbürgerlich-materialistischen Kultur bildete sich in
Ostdeutschland eine, wie es Wolfgang Engler formulierte,
"arbeiterliche" Gesellschaft heraus: "Die Ostdeutschen lebten in
einer Gesellschaft, in der die Arbeiterschaft sozial und kulturell
dominierte und die anderen Teilgruppen mehr oder weniger
'verarbeiterlichten'. Es wäre eine Absurdität zu
behaupten, die ostdeutschen Arbeiter hätten die politische
Herrschaft ausgeübt. Aber das soziale Zepter hielten sie in
der Hand. Anschauungen, Meinungen, Konventionen, Kleidungs- und
Konsumgewohnheiten und nicht zuletzt die Alltagssitten richteten
sich nach den Normen und Idealen der arbeitenden Klassen. (...)
Gemessen (...) am Aristokraten wie am Bürger, erschien der
arbeiterliche Mensch als wahres Glückskind der Geschichte. Er
mußte nichts sein, um etwas zu werden, nichts werden, um etwas
zu sein, denn alles, was er sein und werden konnte, war er bereits:
ein anerkanntes Mitglied des Gemeinwesens. Er war ökonomisch
unabhängig, existentiell von vornherein gesichert und
wußte vom Kampf um soziale Anerkennung nur vom
Hörensagen."
Die Rede von alltagskulturellen Dominanzwechseln in
Gesellschaften wird gerade durch die Beschreibungen der Gegner und
Verlierer der neuen Entwicklungen beglaubigt. Im Falle der DDR
waren das vor allem bürgerlich orientierte Personen oder
Gruppen, deren symbolisches und kulturelles Kapital in der
"arbeiterlichen Gesellschaft" rapide an Kurs verlor. Eine
entsprechende Beschreibung auf Basis dieser Verlusterfahrung liest
sich so: "Sittenzerfall - Der ganze bürgerliche Plunder,
über Bord mit ihm. Knicks und Verbeugung der Kinder: ein
Zeichen der Verkrüppelung. Aufstehen vor Älteren,
Vorgesetzten: ein Überrest des Untertanengeistes. Wir alle
sind 'per Du', denn wir sind alle in der Gewerkschaft. Bei Tisch
benehmen wir uns, wie es in einer Proletarierküche üblich
ist. Mit Schürze und Hausschuhen auf die Straße, mit dem
Blaumann ins Gasthaus, die Arbeitskleidung ist ein Ehrenkleid.
Bunte Perlonschürzen überfluten Fabriken, Läden,
Ambulatorien und Kontore. Bald bemerkt niemand mehr, wie
häßlich sie sind. (...) Zur neuen Art des Zusammenlebens
gehört, daß man anders miteinander redet als früher.
Man spricht deftig, grob und geradezu, nennt das offen und
ehrlich."
Diese spezifischen Verhältnisse in der DDR, die Aufwertung
der Arbeiter- und Volksschichten in den Offizialdiskursen, in den
Diskursen der Wissenschaft und Bildung, haben offensichtlich
sozialisatorische Langzeitwirkung. Denn obwohl heute das Prestige
der Arbeiterschichten viel geringer ist, hat sich die subjektive
Zuordnung der Ostdeutschen auch in den neunziger Jahren nicht an
die westdeutsche Normalverteilung angeglichen. Die "alten Werte"
sind insofern subjektiv noch etwas wert. Das kann man als ein
Stück DDR im Alltag ihrer ehemaligen Bevölkerung
deuten.
West-Ost-Unterschiede im Alltagshandeln
Anhaltende Ost-West-Unterschiede zeigen sich auf der Ebene des
Alltagshandelns. Diese Unterschiede sind allerdings ein schon viel
vermittelteres Echo der spezifischen
Sozialisationsverhältnisse in der DDR als etwa Unterschiede in
der subjektiven Schichteinstufung.
Wolf Wagner zeigte, auf welche typische, und von den westlichen
Standards abweichende Weise die Ostdeutschen im Alltag
kommunizieren. In Alltagsgesprächen oder bei einem Smalltalk
neigen Ostdeutsche beispielsweise stärker dazu, über
Mängel, Missstände oder auch eigene Probleme zu reden,
während Westdeutsche lieber mit der Thematisierung von
leichten und nichtigen Dingen das Gespräch eröffnen. In
ihren jeweils eigenen Kulturen funktioniert das gut. Im Osten
erzeugt man durch die ostdeutsche Art zu kommunizieren "Nähe
und Solidarität", man nimmt das Gegenüber als "offen und
leutselig" wahr. Die Westdeutschen erzeugen auf ihre eigene Art
nicht minder entspannende "positive Stimmung", die es erlaubt, sich
gegenseitig als "geistreich und diskret" wahrzunehmen und zu
inszenieren. Erst wenn Ost- und Westdeutsche gemeinsam auf die
Anforderungen der Kommunikationssituation mit den jeweils in ihren
eigenen Kulturen angemessenen Kommunikationsstilen reagieren
wollen, kommt es zu Friktionen. Ostdeutsche beschweren sich
über Westdeutsche, die "oberflächlich und abweisend"
seien, und diese wiederum nennen die Ostdeutschen "larmoyant und
unersättlich".
Ähnlich zeigen sich Ost-West-Differenzen bei der
Interpretation von Karrierewegen. Wenn Westdeutsche oft den
Arbeitsplatz oder -ort wechseln, gelten sie für andere
Westdeutsche eher als zielstrebig und flexibel, als eine motivierte
und hochwertige Arbeitskraft. In der DDR waren Arbeitsplatzwechsel
eher mit Versagen oder anderen Stigmata verbunden. Denn wer in der
DDR "gut" war, blieb oder stieg an Ort und Stelle auf, wer
"schwierig" war, wurde "weggelobt". Aus dieser so vorgeprägten
Ost-Perspektive galten die im Osten ankommenden Wessis als
"abgeschobener Ausschuss", während die verstetigten
Ostdeutschen den mobilen Westdeutschen wiederum als der
"zurückgebliebene Ausschuss" gelten mussten.
Während in ostdeutschen Gruppen die Tendenz zum Ausgleich,
zu Kompromissen, Harmonie aber auch zum Überdecken von
Konflikten vorherrscht, ist das Verhalten in westdeutschen Gruppen
stärker auf miteinander konkurrierende Individualitäten
orientiert. In der gegenseitigen Wahrnehmung führt das dazu,
dass die Ostdeutschen die Westdeutschen als "aggressiv, dominant
und unsensibel" wahrnehmen, während sie die Eigengruppe als
"freundlich, solidarisch und harmonisch" beschreiben. Die
Westdeutschen hingegen empfinden diese Art von Harmonie als "feige
und scheinheilig", während sie ihre Art der Kommunikation als
"offen, mutig und authentisch" bezeichnen.
Diese "typisch" west- bzw. ostdeutschen Stile in der
Alltagskommunikation ähneln sich darin, in unterschiedlichen
Sozialräumen jeweils funktional gewesen zu sein. Sowohl bei
Ost- wie bei Westdeutschen hatte sich ein Verhalten habitualisiert,
das von den gesellschaftlichen Strukturen nahegelegt wurde. Die
spezifischen sozialisatorischen Muster bildeten die
unterschiedlichen Funktionsweisen der Macht und der
Chancenzuteilung in den verschiedenen Sektoren der beiden
Gesellschaften ab - und reproduzierten diese. Die Friktionen werden
mit dem Modell des "Kulturschocks" konzeptualisiert: Die
Angehörigen der beiden Gruppen wenden die Formen des
"richtigen" und freundlichen Handelns an, dennoch misslingt die
Interaktion. Das Ergebnis dessen ist, dass man sich selbst "gut und
richtig" findet und die anderen "seltsam, unverständlich,
doof".
Die selektive Popularisierung der wissenschaftlichen
Ergebnisse durch den Mediendiskurs
Was die Sozialwissenschaften seit den frühen neunziger
Jahren gleichermaßen umfänglich wie differenziert an
Befunden zu Sozialisation, Verhalten, Wertvorstellungen und
Weltsicht "der Ostdeutschen" zusammengetragen haben, wurde im
medialen Diskurs nur selektiv verbreitet. Innerhalb des der
Marktlogik unterworfenen Mediendiskurses ist der nüchternen
Ausgewogenheit wissenschaftlicher Studien ohnehin kaum gerecht zu
werden. Zudem dürfte das Personal in den Medien zumeist weder
die Zeit noch die Voraussetzungen haben, nachzuvollziehen, was in
der interpretativen Sozialwissenschaft zum Üblichen
gehört: experimentell andere Perspektiven einzunehmen und
diese zu verstehen. Medien bedienen - von Qualitätszeitungen
bis zu Boulevardblättern - die Erwartungen und die Weltsicht
ihres Publikums. Interessant ist, was zur Grundtendenz der
alltäglichen medialen Thematisierung ostdeutscher Eigenarten
gehört, welche Dispositionen der Ostdeutschen, oft in
zugespitzter Form, in das Stereotyp von "den Ostdeutschen" Eingang
fanden und welche nicht.
Deutlich präsent sind Wahrnehmungen, die Wolf Wagner als
Effekte des Kulturschocks schilderte und die lediglich die
westdeutsche Seite der Stereotypisierungen darstellen:
Demgemäß wird der ostdeutsche Habitus als steif,
altmodisch, verklemmt, naiv, konfliktscheu, opportunistisch,
larmoyant und immobil konstruiert. Bei der Erklärung der
fremdenfeindlichen und rassistischen Gewalttaten in Ostdeutschland
wird die fachwissenschaftlich widerlegte Spekulation, dass das ein Sozialisationseffekt
von DDR-Strukturen sei, als Tatsache behandelt. Der Befund, dass
die ostdeutsche Gruppe von der Verteilung der Wertetypen
psychologisch passfähig für die Marktwirtschaft ist:
aktiv, leistungsbereit, autonom und initiativ, findet kaum Eingang.
Die hinsichtlich der subjektiven Schichteinstufung deutlich
gewordene Selbstverortung und entsprechende habituelle Inszenierung
einer großen Mehrheit der Ostdeutschen als Angehörige
nichtbürgerlicher Schichten wird zwar prägnant in das
Stereotyp von den Ostdeutschen integriert, jedoch nur als Makel,
Defizit und ästhetische Zumutung.
Die empirische Verifizierung dieses ersten Eindrucks vom
westdeutschen Ost-Diskurs mittels einer systematischen Analyse der
Konstruktion der Ostdeutschen in den Mediendiskursen steht noch
aus.
Möglich ist jedoch jetzt schon
ein Blick auf Phasen der Intensivierung der Konstruktion, auf
prägnante Beiträge, Publikationen oder Thesen aus dem
wissenschaftlichen Diskurs, die im medialen Diskurs großes
Echo auslösten. 1992 war es die Analyse von Arnulf Baring:
"Die heutige Lage in der ehemaligen DDR ist in der Tat vollkommen
anders als bei uns 1945. Das Regime hat fast ein halbes Jahrhundert
die Menschen verzwergt, ihre Erziehung, ihre Ausbildung verhunzt.
Jeder sollte nur noch ein hirnloses Rädchen im Getriebe sein,
ein willenloser Gehilfe. Ob sich heute einer dort Jurist nennt oder
Ökonom, Pädagoge, Psychologe, Soziologe, selbst Arzt oder
Ingenieur, das ist völlig egal: Sein Wissen ist über
weite Strecken völlig unbrauchbar. (...) Wir können den
politisch und charakterlich Belasteten ihre Sünden vergeben,
alles verzeihen und vergessen. Es wird nichts nützen; denn
viele Menschen sind wegen ihrer fehlenden Fachkenntnisse nicht
weiter verwendbar. Sie haben einfach nichts gelernt, was sie in
eine freie Markwirtschaft einbringen könnten."
Im selben Jahr grenzte sich Monika Maron drastisch von ihren
Landsleuten ab: "Sturer Trotz und peinliche Beflissenheit sind
überhaupt die prägenden Züge derzeitigen ostzonalen
Verhaltens." Die wohl gefüllten Einkaufswagen - "ekelhaft
große Fleischpakete oder ein süßes balkanesisches
Perlgesöff namens Canei" - repräsentierten deren
Geschmack und Mentalität. "Ich bin an ihrer Dumpfheit und
Duldsamkeit, an ihrer Duckmäuserei und ihrem feigen
Ordnungssinn oft verzweifelt."
1993 amüsierte eine
Autorengruppe um Klaus Bittermann das Publikum mit der
Bestandsaufnahme "Der rasende Mob. Die Ossis zwischen Selbstmitleid
und Barbarei" . Das Titelbild ging durch die Presse: Es zeigte
einen an den typischen Jesus-Latschen als Ossi erkennbaren Mann. Er
trägt ein Trikot der deutschen Fußballnationalmannschaft
und eine ausgebeulte, im Schritt durchnässte Jogginghose. Den
rechten Arm zum Hitlergruß erhoben, blickt er trunken und
stier in die Kamera.
Die Klage vieler Westdeutscher, dass sie trotz mehrjährigen
Aufenthaltes in Ostdeutschland bei den Einheimischen keinen
Anschluss gefunden hätten, wurde in den neunziger Jahren oft
erhoben. Man finde keinen Zugang zu ihren "kleinen, privaten
Cliquen", schrieb "Der Spiegel" anlässlich des resignierten
Resümees, das ein westdeutscher Leihbeamter nach seiner
vierjährigen Tätigkeit als Innenstaatssekretär
Sachsen-Anhalts zog: "Wir Nachkriegsdeutschen aus Ost und West
werden niemals ganz zusammenwachsen. Den Jüngeren mag es
besser ergehen. Wer jemals eine Kantine im Osten besucht hat,
weiß, wovon ich rede. Den Ostler erkennt man bereits bei
Betreten des Raumes: Wie in der Kneipe oder im Restaurant duckt er
sich zunächst, als warte er darauf, ,platziert' zu werden. Hat
er sich dann zu einem Westkollegen an den Tisch gesetzt, beginnt
dieser locker draufloszuplaudern. Der Ostler dagegen schaut erst
einmal um sich, wer am Nebentisch mithören könnte. Die
Angst scheint immer noch allgegenwärtig. Es herrscht das
Prinzip Misstrauen, im Kleinen wie im Großen."
Wenig später erschien der Bericht einer Frau, die aus
Wuppertal nach Frankfurt/Oder umsiedelte, weil ihr Mann dort die
Chefarztstelle antrat. Gabriele Mendling veröffentlichte ihr
Buch unter dem Pseudonym Luise Endlich - "Der Name Endlich, weil es
eine Frau aus dem Westen endlich wagt, den Mund aufzumachen."
Die Integration in der ostdeutschen
Provinz, die Kommunikation mit den Einheimischen misslingt. Ihrem
Bericht nach bewegen sich die Einheimischen so: "Unerwartet fuhr
frühmorgens knatternd ein Auto auf das Grundstück. Zwei
Männer in Arbeitskleidung versuchten sich an uns
vorbeizuschleichen, sahen uns mit schiefen Blicken an und gaben uns
die Hände. 'Firma Härend - wir sind die Teppichleger'
kratzte sich der eine am Ohr, während der andere schnell im
Haus verschwand." Ein vierter "scharrte mit dem Fuß im
Lehmboden" während er von der Autorin zurechtgewiesen wird.
Die Einheimischen zogen "Grimassen", noch häufiger wird "breit
gegrinst". Der Text transportiert eine starke Empörung
darüber, dass die Menschen und Zustände nicht so sind,
wie zu Hause gewohnt, zeigt aber auch die Unfähigkeit der
Ich-Erzählerin, mit dem Fehlen eines mittelständisch bis
kleinbürgerlichen Milieus souverän umzugehen. Sie
produziert einen geradezu sozialrassistischen Text, der an den
Einheimischen kein gutes Haar lässt. Das Buch verkaufte sich
über 60 000 Mal.
Konfliktträchtig waren auch zwei von Wissenschaftlern
geäußerte Hypothesen, bei denen es um mehr als nur
private Umgangsprobleme ging - nämlich um die in
Ostdeutschland viel stärker als im Westen auftretenden
fremdenfeindlichen und rechtsextremen Gewalttaten. Der westdeutsche
Kriminologe Christian Pfeiffer trieb sozialisationstheoretische
Ursachenforschung.
In einem "Spiegel"-Artikel nannte er
die "autoritäre Gruppenerziehung"
als eine Ursache für die
"Ich-Schwäche". Die Anpassung an den Gruppenzwang in Krippe,
Kindergarten und Schule mindere die moralische Innensteuerung und
fördere die Gewaltbereitschaft der Fehlsozialisierten. Im
westlichen Mediendiskurs wurde diese Hypothese gerne rezipiert,
berührte sie doch wesentliche Reibungsflächen zwischen
dem ostdeutschen Lebensmodell, nach dem auch Mütter volle
Berufstätigkeit anstreben und die Kinder in die Kinderkrippe,
Kindergarten und außerschulische Bildungs- und
Betreuungseinrichtungen geben, und dem westlichen Modell, nach dem
die individuelle und häusliche Betreuung unter Hintansetzung
der beruflichen Verwirklichung der Mutter als Normalität gilt.
Eine von Pfeiffers Thesen, nach der es in der DDR üblich
gewesen sei, elf Monate alte Babys auf den Topf zu zwingen, damit
man sie im 13. Monat windelfrei in die Krippe bringen konnte, wurde
in Ostdeutschland mit dem Etikett "Töpfchen-These" ironisiert.
Für die Fachwissenschaft blieb Pfeiffers Hypothese, die
institutionalisierte DDR-Erziehung als Erklärung für die
hohe fremdenfeindliche Gewaltbereitschaft im Osten zu nutzen,
umstritten. In der ostdeutschen Bevölkerung schlugen die Wogen
hoch, sah man hier doch einen Frontalangriff auf die eigenen
Lebenswerte. Nach 7526 empörten Anrufen bei der "Magdeburger
Volksstimme" organisierte die Zeitung ein Streitgespräch mit
Pfeiffer. Die Stimmung gibt schon die Überschrift des
Berichtes der FAZ ausreichend wieder: "In der Löwengrube"
. Ein ähnlich geteiltes und
starkes Echo fand im Jahr 2000 ein Thesenpapier, indem die
Ausländerfeindlichkeit in Ostdeutschland als Produkt der
DDR-Sozialisation gedeutet wurde.
Eine ähnliche Konfliktstruktur ergab sich 1999 nach der
Veröffentlichung von "Arbeiten wie bei Honecker, leben wie bei
Kohl"
. Der Autor fragt, warum der
"Aufschwung Ost" ausbleibt. Um diese Frage zu klären, wendet
er sich den "existentiellen Lebensphilosophien der
Bevölkerung" der DDR zu, die ganz offensichtlich die
"deutschen Stammlande" wie durch einen "langwährenden Krieg
niedergemacht" und auf das Niveau der "dritten Welt"
heruntergebracht habe. Das Buch mit der programmatischen Forderung
nach einem "Ende der Schonzeit" wurde im westdeutschen Diskurs,
dessen Publikum vom anhaltenden ostdeutschen Wirtschaftsdesaster
genervt war, begeistert besprochen, es verkaufte sich über 35
000 Mal. Roethes Erklärungsversuche und
Lösungsvorschläge sind heute sehr modern: Das Bestreben
des ostdeutschen Proletariats, die "Arbeitsfron"
abzuschütteln, habe lange Tradition und sei auch heute noch
eine Gefahr. Letztlich habe dieses Proletariat die DDR ruiniert:
"Das Proletariat, kaum zur Herrschaft gekommen, hatte nichts
anderes im Sinn, als Mühsal und Last abzuschütteln und
den jüngst gewonnenen Status auszukosten (...). Millionen von
Werktätigen waren sich sicher in dem Glauben, daß nun die
Arbeitsfron vorbei sei." Die herrschenden Kommunisten seien nach
dem 17. Juni 1953 gewissermaßen erpresst worden, denn nun habe
sich "ein neuer, gleichwohl uneingestandener und latent bleibender
Gesellschaftsvertrag (herausgebildet) (...): Wir, die Arbeiter und
Bauern, erklären, die Macht der Partei nicht herauszufordern.
Wir werden loyal sein, wenn ihr uns dazu zusichert, uns zu
versorgen und von der Arbeitsfron zu befreien." Die Schuld
könne nicht bei den in der DDR Herrschenden, sondern
müsse bei den Beherrschten gesucht werden: "Die Masse der
DDR-Bevölkerung hatte den Sirenenklang der sozialistischen
Rundumversorgung wohl verstanden (...). Hätte das System zur
Arbeit zwingen sollen, um schuldlos zu bleiben?"
Dass der Verfall der eigenen Kultur durch die initiativlosen
ostdeutschen Landsleute verursacht werden könnte,
beschäftigte im Jahr 2001 auch einen Leitartikler der FAZ:
"Dabei hat der tatsächliche Aufschwung Ost etwas
Künstliches. Denn ihm folgt kein Aufbruch der Menschen. Schon
holt sich die Natur eben erst erschlossene, aber ungenutzte
Gewerbegebiete zurück. Das voller Elan vor ein paar Jahren
eröffnete Gasthaus steht schon wieder leer. Am neu gebauten
Parkplatz senken sich längst die Steine ab."
Hier werden starke Kollektivsymbole
benutzt: Die Kultur fällt an die Natur zurück, wenn sie
durch Bürger- oder Kolonistenfleiß nicht ständig
reproduziert wird.
Die Konstruktion der Ostdeutschen: Regeln eines
Diskurses
Die Konstruktion der Bilder, Vorstellungen oder Stereotype von
den Ostdeutschen verlief in den neunziger Jahren unter ganz
bestimmten Bedingungen. Diese beeinflussten die inhaltliche
Qualität der Stereotypenkonstruktion ebenso, wie sie zu deren
Verbreitung und Geltung beitrugen.
Erstens: Die Interpretation der vermuteten Andersartigkeit der
Ostdeutschen geschah zunehmend unter den Auspizien der
Fragestellung, warum das, was bislang erfolgreich funktionierte und
weitgehend akzeptiert wurde, nämlich soziale Marktwirtschaft
und Demokratie, bei den Ostdeutschen nicht ebenso funktionierte und
von ihnen nicht gleichermaßen wie im Westen angenommen wurde.
Diese Fragestellung fokussierte das Interesse auf die Aufdeckung
jener Eigenarten, die für diese Dysfunktionen verantwortlich
sein könnten, also auf die Defizite der Ostdeutschen.
Zweitens war damit ein psychologisierender Fokus eingenommen. Es
ging um "Prägungen", "Sozialisation", "seelische Deformation",
"Mentalität", "Verhaltensweisen", also um Konstrukte, die sich
nur schwer mit Fakten und Daten operationalisieren lassen - ganz
anders als beispielsweise zeitgeschichtliche Untersuchungen zu
institutionellen Strukturen oder zur Herrschaftsausübung in
der DDR. Dennoch fühlten sich viele Disputanten zur
Erörterung dieser "weichen Faktoren" berufen. Ein Grund
dafür könnte sein, dass die Konzentration auf die
Defizite ostdeutscher Sozialisation den Disputanten die kritische
Reflexion des politischen und wirtschaftlichen Systems, mit dem sie
sich identifizierten, weitgehend ersparte.
Drittens gab und gibt es enorme strukturelle und personelle
Asymmetrien bei der Erörterung der Frage, welche Eigenheiten
den Ostdeutschen und ihrer Alltagskultur zuzuschreiben sind. Die
überregionalen Medien sind westdeutsche, und die für das
ostdeutsche Fünftel der Bevölkerung produzierten
Regionalmedien gehören westdeutschen Eigentümern und
werden westdeutsch geführt. In den Geistes- und
Sozialwissenschaften der neuen Bundesländern dominiert
westdeutsches Personal
, ebenso an anderen Schaltstellen der
Gesellschaft.
Viertens: Auch wenn das ostdeutsche Fünftel der
Bevölkerung die kleinere und auch strukturell in jeder
Hinsicht die schwächere Gruppe ist und hierzu insbesondere auf
der medialen Ebene keinen Gegendiskurs entfalten konnte - und
insofern als "Diskurs-Opfer"
anzusehen ist, sind doch auf einer
symbolischen Ebene auch die Westdeutschen Opfer geworden - Opfer
der Ostdeutschen.
Was tat - um in diesem Sprachbild zu bleiben - der Osten dem
Westen und die Ost- den Westdeutschen an? - Die Ostdeutschen
grenzten sich von den Westdeutschen und ihrer Lebensweise relativ
stark ab, obwohl der größte Teil der Ostdeutschen sich
für die rasche und vollständige Übernahme des
westdeutschen Modells entschieden hatte und die Westdeutschen im
Osten - als Aufbauhelfer, als Vorgesetzte in der Administration und
als Akteure in der Wirtschaft - nun genau diese Wahlentscheidung
umsetzten. Darüber hinaus verweigern die Ostdeutschen
mehrheitlich den Institutionen der parlamentarischen Demokratie und
des Rechtsstaates ihr Vertrauen. Demokratie und soziale Marktwirtschaft haben im
Osten ein anderes als das vertraute Gesicht, sie funktionieren hier
nicht mit den gewohnten Effekten. Die Westdeutschen hingegen hatten
mit diesem System über mehrere Generationen hinweg stabile
Erfolge erzielt. Sie schrieben diese Erfolgsgeschichte vor allem
"ihrer" damals "richtig getroffenen Entscheidung" für das
"richtige" System zu - weniger der historischen Sondersituation in
der zweiten Hälfte des Jahrhunderts. Ihr Selbstbild und ihre
Wertvorstellungen waren eng mit diesem wirtschaftlichen und
politischen Erfolgsmodell verbunden. Durch die Misserfolge dieses
Systems im Osten waren die Westdeutschen in diesem wichtigen Teil
ihrer Wir-Identität nachhaltig in Frage gestellt worden. Diese
Konstellation ist bis heute nicht geeignet, das Verhältnis
zwischen der west- und der ostdeutschen Bevölkerungsgruppe zu
entspannen. Erfolg verbindet, Misserfolg trennt. Von "Brüdern
und Schwestern" war sehr bald keine Rede mehr.
Der oben vorgenommene tentative Zugriff auf die affektive Ebene
fragt danach, inwieweit der Beitritt der Ostdeutschen die
Westdeutschen vereint hat. Mit Blick auf die anderen Deutschen im
Osten schienen auch die bis dahin in verschiedenen Diskursen der
bundesdeutschen Gesellschaft stark differenzierten Gruppen
stärker zusammenzufinden. Ein westdeutscher Beobachter sprach
rückblickend von einem "Konsensschwall"
, der den 1989 erreichten Stand einer
differenzierten und kritischen Selbstreflexion der politischen
Kultur der Bundesrepublik fortspülte. Die
Fremdheitserfahrungen mit den Ostdeutschen ließen nicht nur
die Westdeutschen sich einander näher fühlen, sondern
machten auch drastisch deutlich, inwieweit sich viele als
kapitalismuskritisch verstehende Linke inzwischen mit der
Bundesrepublik identifiziert hatten. Ehemalige Maoisten fanden sich
mit hanseatischen Unternehmern, ehemalige Spontis mit
süddeutschen Liberalen und einstige Jusos mit rheinischen
Konservativen im gemeinsamen Kopfschütteln über die
Ostdeutschen. Nichts hat die Westdeutschen so geeint wie der
Beitritt der Ostdeutschen. Möglicherweise ist dieser von den
Begriffen und Metaphern uniforme und auch affektiv gleich gestimmte
Diskurs zu den Ostdeutschen eines der noch unbekannten Dokumente
westdeutscher Wir-Identität.
In einem derart aufgeladenen Spannungsverhältnis
dient eine bestimmte tendenziöse
Konstruktion vom Anderen der Stabilisierung des Selbst, also der
eigenen personalen und der Wir-Identität. Das, was man dem
Anderen zuschreibt, ist oft die negative Form dessen, was man
selbst gerne darstellt, beziehungsweise worauf man stolz ist.
Alteritäten sind keine objektiven Eigenschaften, sie
existieren nur "in der intersubjektiven Interaktion, bei der sich
erst das Selbst und dann das Andere, das Eigene und Fremde, in
einer Kommunikationssituation modellieren können (...) und
sich das Ich als das Andere eines anderen Ich erlebt. (...) Diese
kommunikative Relationierung läßt sich auch auf eine
kollektive Ebene übertragen."
Das Bild, dass sich die Westdeutschen
von den Ostdeutschen machten und machen, ist zu großen Teilen
eine Alteritäts-Konstruktion. Den Ostdeutschen werden jene
Eigenschaften zugeschrieben, welche die Westdeutschen - wenn man
ihrem Eigenbild folgt - erfolgreich abgelegt haben, nämlich
Autoritarismus und gefügige Verantwortungslosigkeit,
Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Indifferenz gegenüber dem
Nationalsozialismus.
Die westdeutschen Ost-Diskurse sind durch unterschiedliche
Konjunkturen und Themen geprägt und weisen bei aller Varianz
doch immer wieder gleichbleibende Muster, Diskursregeln
, auf, nach denen sie die Eigenarten
der Ostdeutschen konstruieren. Zu diesen Regeln gehört die
Erzeugung einer oft impressionistisch aufgeladenen und quasi
ontologisierten Andersartigkeit und Fremdheit im Bild von den
Ostdeutschen. Hierbei scheint es sich um Fremdheit in
unfreundlicher, frustrierender, belästigender und -
womöglich - gefährlicher Form zu handeln. Diese
Wahrnehmung scheint fest verbunden zu sein mit der Gewissheit, dass
diese andersartigen Ostdeutschen die letzten Relikte dessen sind,
was den Westdeutschen wirklich Angst macht: die kommunistische
deutsche Diktatur. Die DDR fällt gewissermaßen aus den
"historischen Großerzählungen", aus dem verbreiteten Bild
von deutscher Geschichte und dem deutschen Selbstverständnis
heraus.
Die DDR ist das ganz Andere. Fast
scheint es, als sehe man in der vor 15 Jahren von ihrer
Bevölkerung wegdemonstrierten Diktatur immer noch eine Gefahr,
die mit ihren als Traditionsträgern überschätzten,
ehemaligen Bürgern viel Unheil über die Bundesrepublik
bringen kann.
Man wundert sich über "die
kollektive destruktive Kraft" , die der kleinen Gruppe der DDR-Sozialisierten
heute noch zugeschrieben wird.
Denn 15 Jahre nach der Öffnung der Mauer und dem Beginn vom
Ende der DDR scheinen die Stereotypen von den Eigenarten der
Ostdeutschen noch so frisch wie zu Beginn der deutsch-deutschen
Beziehungsgeschichte. Der jüngste Anlass, über die
Sozialisation der Ostdeutschen zu sprechen, sind die in
Ostdeutschland besonders massiven Proteste gegen die Durchsetzung
der "Hartz-IV"-Gesetze. Bei der medialen Begleitung der
ostdeutschen Proteste erklärt man dem Publikum, dass die
Ostdeutschen aufgrund ihrer Herkunft aus dem Staatssozialismus von
der falschen Annahme ausgingen, dass der Staat für die Arbeit
verantwortlich sei. Die Darstellung der Protestler als typisch
ostdeutsche politische Analphabeten, als Besitzstandswahrer, als
Problemursache dient dazu, eine Debatte über die Situation und
verschiedene politische Möglichkeiten mit deren Umgang zu
vermeiden. Auch in diesem Zusammenhang funktioniert die
Thematisierung der ostdeutschen Eigenarten als
Stellvertreterdiskurs.
Die Ostdeutschen haben in den zurückliegenden Jahren bei
ihrer Etablierung in einer völlig anderen wirtschaftlichen,
administrativen und kulturellen Welt enorme und konstruktive
Anpassungsleistungen vollbracht. Sie zeigten und zeigen
Realitätssinn, Risiko- und Anstrengungsbereitschaft,
Mobilität und Flexibilität. Über 22 Prozent der
einst in der DDR Beschäftigten arbeitet heute in einem
für sie völlig neuen Sektor - im Dienstleistungssektor.
Die Gruppe der Selbständigen hat sich in den ersten fünf
Jahren nach dem Beitritt fast verdreifacht. Vergleichbare
Veränderungsschübe im Erwerbsleben hat noch kein Teil
einer deutschen Bevölkerung erlebt. Das alles spielt in der
aktuellen öffentlichen Diskussion aber noch immer eine
marginale Rolle.
Es stellt sich die Frage, ob diese spezifische Wahrnehmung und
diskursive Konstruktion der Ostdeutschen alternativlos war oder ob
unter anderen historischen Bedingungen ein anderer Blick
möglich gewesen wäre. Kontrafaktisch zum Verlauf des
Transformationsprozesses könnte man sich das Szenario einer
wirtschaftlichen Erfolgsgeschichte denken. In diesem Falle
würde aller Wahrscheinlichkeit nach weniger intensiv über
die Andersartigkeit der Ostdeutschen und ihre sozialisatorische
Mitgift gesprochen werden, und wenn, dann sicher in dem Sinne, dass
die Ostdeutschen etwas Anderes und Bereicherndes in die
Bundesrepublik eingebracht hätten. Der heute als
defizitär dastehende Ostdeutsche, dem das Scheitern des
"Aufbaus Ost" zugeschrieben wird, wäre dann vielleicht der
"fremde Freund".
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