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Katharina Gajdukowa
Opfer-Täter-Gesprächskreise nach dem
Ende der DDR
Einleitung
Spätestens seit der Arbeit der südafrikanischen
Wahrheits- und Versöhnungskommission gibt es die Vorstellung,
dass sich Gesellschaften auf ähnliche Weise "heilen" lassen
wie Individuen.
Das Herausfinden und Benennen der
Wahrheit soll zu Verzeihung und Versöhnung führen.
Versöhnung hat dabei mehrere Dimensionen: die Versöhnung
mit sich selbst, mit anderen Menschen und zwischen Gruppen. In der
christlichen Religion resultiert Versöhnung aus der Vergebung
durch Gott. In säkularen Gesellschaften sprechen wir von der
politischen Dimension dieses Prozesses, wie ihn Hannah Arendt
formuliert hat: "Gäbe es nicht eine Mitwelt, die unsere Schuld
vergibt, wie wir unseren Schuldigern vergeben, könnten auch
wir uns kein Vergehen und keine Verfehlung verzeihen, weil uns,
eingeschlossen in uns selber, die Person mangeln würde, die
mehr ist als das Unrecht, das sie beging."
Für die politische Dimension der Versöhnung nach dem
Ende der DDR beschreibt der Theologe Ralf Wüstenberg die
Einsicht in die Akten der Staatssicherheit als symbolische Handlung
und Heilritual.
Damit verbindet er eine
Veränderung in der Gesellschaft, die sich über die
Anerkennung des Einzelschicksals vollzieht. Die betroffene Person,
welche die Akten einsieht, erlebt, dass ihr Anliegen von der
Gesellschaft ernst genommen wird, indem diese die juristischen und
räumlichen Möglichkeiten dafür schafft. Diese
Integrationserfahrung bietet den Rahmen für die Konfrontation
mit der Aktenwahrheit und der Auseinandersetzung mit den eigenen
Erinnerungen. Damit soll das Loslassen und Reinigen von belastenden
Erfahrungen erleichtert werden. Die Gesellschaft nimmt die
Geschichte von Individuen in ihr soziales Gedächtnis auf und
verändert sich. Die Vorstellung der Reinigung der Gesellschaft
spiegelt sich in dem Begriff der "Lustration"
wider, der die "Säuberung" der
Gesellschaft durch die Überprüfung ehemaliger Parteikader
und mit dem Geheimdienst verstrickter Personen meint, wie er z.B.
im deutschen Stasi-Unterlagen-Gesetz geregelt ist.
Reichen Akteneinsichts- und Überprüfungsverfahren aus,
damit sich eine Gesellschaft nach staatlich angeordneten
Menschenrechtsverletzungen selbst "heilen" kann? Wie können
neue Diktaturen verhindert werden? Um uns dieser Frage
anzunähern, sollen Forschungsergebnisse aus der Untersuchung
von Opfer-Täter-Gesprächskreisen nach dem Ende der DDR
mit Prozessen persönlicher und gesellschaftlicher Heilung
verglichen werden, wie sie in internationalen
Opfer-Täter-Begegnungsprojekten praktiziert werden. Mein
Vergleichskriterium ist der Transfer von Interaktionsprozessen in
Täter-Opfer-Begegnungen auf die gesellschaftliche Ebene.
Politische Traumatisierung
Die Politische Traumatisierung betrifft in unterschiedlicher
Weise Opfer und Täter politisch motivierter Gewalt. Diese wird
dazu genutzt, politische Macht zu erlangen oder zu erhalten bzw.
oppositionelle Kräfte zu schwächen. Die Traumatisierung
besteht in dem psychischen und mentalen Fortleben der
Extremerfahrung, die als Konfliktsituation nicht beendet werden
kann. Unbearbeitete (intrapersonale und interpersonale) Konflikte
werden innerhalb von Familien und anderen Formen des Zusammenlebens
unbewusst an die nächsten Generationen weitergeben und brechen
wieder auf.
Die Generationsgrenzen verschwimmen,
und die Nachkommen tragen an den Traumatisierungen ihrer Vorfahren.
Die transgenerative Weitergabe
politischer Traumata betrifft Opfer wie Täter und ihre
Nachkommen gleichermaßen: Die einen quälen sich mit
belastenden Erinnerungen, die anderen mit dem belastenden Gewissen.
Wir unterscheiden die psychosoziale Traumatisierung von Opfern und
die moralische Traumatisierung von Tätern. Politisch sind ihre
Auswirkungen deshalb, weil es sich um kollektive Prägungen
handelt, die sich in gesellschaftlichen Konflikten immer wieder neu
aktualisieren können und somit nicht mehr das Problem von
Einzelnen sind.
Die Begriffe "Opfer" und "Täter" sind Hilfskonstruktionen,
weil eindeutige Zuschreibungen oft nicht möglich sind. In den
meisten Konflikten sind die Beteiligten beides - passives Opfer und
aktiver Täter. Gleichzeitig gibt es Opfer, die sich bewusst
als Täter im Konflikt verstehen.
Täter wiederum sind oft in
anderen Beziehungen Opfer. Beide Seiten sind in die strukturelle
Gewalt
involviert gewesen. Die jeweiligen
generationellen Prägungen führen dazu, dass sich
Schicksalsgemeinschaften bilden. Beide Seiten der
Schicksalsgemeinschaft hängen zusammen und durchlaufen
dieselbe zeitgeschichtliche Situation.
Der Umgang mit Schuld und Traumatisierungen ist notwendig, um
sich von den innerhalb der Schicksalsgemeinschaft festgefahrenen
Täter- bzw. Opferrollen zu lösen. Einer konstruktiven
Konfliktbearbeitung liegt ein psycho- und sozialdynamisches
Verständnis zugrunde: Konflikte kehren immer wieder, solange
sie nicht ausgetragen oder bearbeitet werden. Die Politische
Traumatisierung der Opfer und der Täter betrifft in erster
Linie die Störung sozialer Beziehungen. Auf der Opferseite
geht diese Störung über die bekannte Posttraumatische
Belastungsstörung hinaus: Das Vertrauen inBeziehungen ist
grundlegend erschüttert. Das Gefühl des hilflosen
Ausgeliefertseins setzt sich in alltäglichen Beziehungen fort
und äußert sich in Abgrenzungsschwierigkeiten,
Impulsivität sowie Problemen im Umgang mit Ärger und Wut.
"Ein Teil dieser Symptome wird in der Diagnose derandauernden
Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung
zusammengefasst."
Die Täterschaft wird häufig erst nach dem Wechsel des
politischen und rechtlichen Systems zum Thema. Taten, die im alten
System legitimiert waren oder aus politischen Gründen nicht
strafverfolgt wurden, gelten plötzlich als verwerflich.
Die moralische Traumatisierung der
Täter ist dadurch gekennzeichnet, dass das eigene Gewissen
nach außen delegiert wird: "Die werden es schon wissen."
Für jede Situation lässt
sich immer jemand finden, der Verantwortung trägt oder tragen
sollte. Die Politische Psychologie ortet beispielsweise in der
Ausbildung von Folterern eine Traumatisierung, die das Foltern und
Töten ermöglichen soll. Diese Form der Traumatisierung
soll mit einbezogen werden, da es in der DDR regelmäßig
zu Tötungen an der innerdeutschen Grenze kam und vor allem in
den achtziger Jahren psychische Folterungen zum Machtmittel wurden.
"Zersetzung" als Unterdrückungsstrategie war ein besonderes
Merkmal der Staatssicherheit, z.B. durch "die Zerstörung des
Privatlebens durch demonstrative Tag- und Nachtbeobachtungen,
ständige telefonische Anrufe, Annoncenkampagnen, heimliche
Hauseinbrüche und das Verstellen von Gegenständen,
Beschädigung privaten Eigentums, Vortäuschung
außerehelicher Kontakte, verdeckt organisierte Entfremdung der
Kinder von den Eltern"
. Eine andere Form der
Täterschaft ist die Mittäterschaft im politischen
Kontext. Die Willkür der eigenen Moral zeigt sich an
Aussagen wie "Wir konnten nichts tun" und "Wie hättest Du denn
gehandelt?". Mittäterschaft meint die Erfahrung der eigenen
moralischen Beeinflussbarkeit und Gleichgültigkeit. Sie
erscheint oftmals diffus und versteckt sich hinter der
Kollektivschuld: Wenn alle "irgendwie" schuld sind, ist keiner
"richtig" schuld.
Die politische Dimension dieser Mitschuld und damit moralischen
Traumatisierung wird deutlicher, wenn man sich mit dem
Phänomen der Staatskriminalität beschäftigt.
Staatskriminalität ist die Bezeichnung für
systemimmanente Kriminalität, die der Herrschaftssicherung
diktatorischer Systeme dient. Damit werden systematische Menschen-
und Bürgerrechtsrechtsverletzungen durch politische
Willkür legitimiert, die nicht als Straftaten verfolgt werden
- selbst wenn es innerhalb der Gesetzlichkeit möglich
wäre. Zu nennen sind Menschenrechtsverletzungen wie Mord,
Entführung und Zwangsadoption. Zur Staatskriminalität
zählen alle Formen der politischen Verfolgung. Dies betrifft
auch Akteure, die in öffentlichen Behörden angestellt
sind und ihre Funktion gebrauchen, um Entscheidungen über
andere zu treffen, welche wiederum nach dem Machtwechsel als
politische Verfolgung, als Verletzung von Menschenrechten
gelten.
Die Täter- und Mittäterschaft von
Staatskriminalität kann bisher kaum angeklagt und verurteilt
werden. Die ethisch-zivilgesellschaftliche
Ausrichtung der Systemumbrüche
in Ostmitteleuropa hatte die Ablehnung von Tribunalen zur Folge,
die das Rückwirkungsverbot der Europäischen
Menschenrechtskonvention (Art. 7, Abs. 1) umgehen würden:
"Gemäß dem Prinzip des Rechtsstaats darf man keinesfalls
die rückwirkende Kraft eines Gesetzes akzeptieren, die
Kollektivschuld, die Aberkennung des Rechtes, sich zu verteidigen,
die Nichtbefolgung von Vorschriften; daher ist das Prinzip der
Unschuldsannahme unantastbar."
Die Tribunaldiskussion
nach dem Ende der DDR führte
dazu, dass zumindest die Todesschüsse an der Mauer laut
Bundesverfassungsgericht als derart unerträgliches Unrecht
gelten, dass es gerechtfertigt erscheinen lasse, das
Rückwirkungsverbot zu umgehen. Die Todesschüsse werden
sowohl als Verstöße gegen die Menschenrechte als auch
gegen DDR-Recht verstanden.
Andere Staaten haben einen
überraschend einfachen Ausweg aus dem Dilemma des
Rückwirkungsverbotes gefunden: 1994 in Tschechien und 1997 in
Polen wurde die generelle Nichtverjährbarkeit von
Staatskriminalität, Straftaten von öffentlichen
Funktionsträgern, in der Verfassung wie im Strafrecht
eingeführt: "Jeder, der eine wichtige politische Funktion
übernimmt, tut dies mit dem vollen Wissen und Willen ganzer
Verantwortlichkeit."
"Diese Regelungen sollen den
Amtsträgern vor Augen führen, dass
Menschenrechtsverletzungen, die im Amt begangen werden, nicht
ungeahndet bleiben werden." Polen und Tschechien
haben mit diesem weltweit einmaligen Schritt gezeigt, dass es
möglich ist, den bestmöglichen staatlichen Schutz vor
staatsgestützten Menschenrechtsverletzungen in Verfassung und
Strafrecht festzuschreiben. Diese Regelung ist eine nicht zu
unterschätzende Rahmenbedingung für das Heilen von
Gesellschaften und sollte daher über die Europäische
Verfassung in die nationalen Gesetzgebungen einfließen.
Kirchliche Gesprächskreise und
Täter-Opfer-Ausgleich
Zur Wiederherstellung zerstörter sozialer Beziehungen
bildeten sich nach dem Ende der DDR einige wenige
Gesprächskreise, in denen sich ehemalige hauptamtliche
Mitarbeiter der Staatssicherheit mit Bürgerrechtlern,
politisch Verfolgten und Interessierten an einen Runden Tisch
setzten, der von Pfarrern moderiert wurde. Solche Projekte fanden
in Berlin, Dresden, Leipzig und Schwerin statt. Das Museum Haus am
Checkpoint Charlie lud zu öffentlichen
Täter-Opfer-Gesprächen ein. Hier gab es bei jedem Treffen
unterschiedliche Akteure, so dass sich kaum ein Gruppenprozess
entwickeln konnte, zumal die Anwesenheit der Medien immer wieder zu
Eskalationen um Selbstdarstellungen führte. Meine Studie
konzentriert sich deshalb auf Gesprächskreise, in denen ein
kontinuierlicher Gruppenprozess stattfand. Der besondere
protestantische Charakter der DDR-Revolution 1989 führte dazu,
dass sich solche Projekte vorwiegend im kirchlichen Raum bildeten,
von denen ich zwei in Fallstudien untersucht habe.
Meine Studie sowie der Vergleich mit
dem Täter-Opfer-Ausgleich sind diskursanalytisch angelegt.
Ein Vergleich der beiden Formen der Opfer-Täter-Begegnung
zeigt, dass sich bei den Opfer-Täter-Gesprächskreisen der
Diskurs auf die Täter konzentriert, während im juristisch
klar definierten Täter-Opfer-Ausgleich die Tat im Zentrum der
Aufmerksamkeit steht. Worin ist diese Unterschiedlichkeit
begründet? Im Gegensatz zu den
Opfer-Täter-Gesprächskreisen ist der
Täter-Opfer-Ausgleich eine Regelung im Rahmen des
Strafrechtes. Unter Einbeziehung der Perspektive der Opfer soll in
Zusammenarbeit mit dem Täter, dessen Tat ermittelt und
verurteilt wurde, eine Wiedergutmachungsleistung erarbeitet werden.
Dabei geht es um die freiwillige Übernahme von Verantwortung
und den materiellen sowie immateriellen Tatfolgenausgleich, der
eine Entschuldigung, ein Geschenk, Schmerzensgeld, Schadensersatz
sowie Arbeitsleistungen bis zu gemeinsamen Aktivitäten mit dem
Opfer umfassen kann. Vermittelt wird der Täter-Opfer-Ausgleich
von beruflich dafür qualifizierten Mediatorinnen und
Mediatoren. Sie haben auf das Ausbalancieren von Ungleichgewichten
zwischen den Akteuren und auf Fairness zu achten. Der
Täter-Opfer-Ausgleich ist mit dem gemeinsamen und aktiven
Wiederherstellen von Moral im Sinne von Rechtsempfinden und
Gerechtigkeit verbunden. Die Tat wird in ihren Folgen für das
Opfer sowie in der möglichen Wiedergutmachung verhandelt. Die
gesellschaftliche Dimension dieses Prozesses liegt darin, dass die
Beteiligten eigenverantwortlich, partizipativ und gemeinsam
versuchen, das gebrochene Recht wiederherzustellen. Dieser Prozess
bedeutet deshalb eine Stärkung des demokratischen
Rechtsstaates.
Bei den Opfer-Täter-Gesprächskreisen ist keine
eindeutige Tat oder Schuld ermittelbar, was am subtilen Charakter
der Staatskriminalität und ihrer Nichtverhandelbarkeit
aufgrund des Rückwirkungsverbots liegt. Die
Gesprächskreise vermeiden daher eine Zuschreibung von Opfer-
und Täterschaft. Gleichzeitig sind die Täter diejenigen,
um die sich der Diskurs dreht. Zum einen sind sie die Personen mit
den interessanteren Biografien, zum anderen sind sie im
christlichen Kontext die Sünder, die besonderer Aufmerksamkeit
bedürfen. Die Aktualisierung gemeinschaftlicher Werte, die
sich beim Täter-Opfer-Ausgleich auf der Moral- und Rechtsebene
bewegen, erhält bei den Gesprächskreisen eine andere
Richtung. Hier geht es um den Moralaspekt Idealismus. Dazu passt
die Suche nach Gemeinsamkeiten zwischen den Aussagen der Bibel und
des Kommunistischen Manifestes und die Überzeugung, dass diese
Ideale von Staat, Regierung und Partei missbraucht wurden. Neben
der Anerkennung ihrer Ideale gelingt es der Täterseite, den
von den Pfarrern angebotenen Versöhnungsdiskurs zu
vereinnahmen und mit Rechtfertigungs- und Legitimierungsdiskursen
zu verknüpfen. Zahlreiche Betroffene haben es nicht
ausgehalten, sich in dieser Atmosphäre auf die
Opfer-Täter-Begegnung einzulassen.
Trotz der Dominanz der Täterseite lässt sich darauf
schließen, dass einige Teilnehmende einen neuen Umgang mit der
Täter-Opfer-Problematik im Sinne von konstruktiver
Konfliktbearbeitung gewonnen haben. Wenn Opfer beschreiben, dass
die Täterseite für sie "ein Gesicht" bekommen hat und
dadurch Angstzustände abgebaut werden konnten, oder wenn
Täter durch die Konfrontation mit den Opfern ihre eigene
Verantwortlichkeit im DDR-System erkennen und formulieren, dann
sind das positive Heileffekte. Die Dominanz der Täterseite und
das vordergründige christliche Versöhnungsangebot
verhinderten, dass zu tief in emotional belastende Erfahrungen
eingedrungen wurde. Die Erfahrungen wurden diskutiert - mit dem
Angebot der christlichen Versöhnung, sich in der
persönlichen Begegnung einzulassen auf Prozesse, zu denen auch
Rechtfertigungsstrategien gehören, ja, sie sind
ausdrücklich zugelassen.
Der kirchliche Raum bot mit den Gesprächskreisen einen
autoritativen Rahmen für säkulare Menschen, um sich mit
Verantwortung zu beschäftigen. Die Wiedergutmachungsleistung
war hier schon der zwischenmenschliche Kontakt, der Begegnung als
Menschen und nicht als Feinde möglich macht. Damit konnten
gemeinschaftliche Prozesse in Gang gesetzt werden, die durchaus
Heileffekte haben können - im Sinne einer Beruhigung oder
Milderung der politischen Traumatisierungen und im Sinne der
Versöhnung mit sich selbst (und Gott). Die religiöse
Versöhnung suggeriert Symmetrie, sie beendet aber nicht die
transgenerative Weitergabe von politischen Traumatisierungen. Um in
die Gesellschaft hineinwirken zu können, sind
Veränderungen auf der Ebene der kollektiven Identitäten
nötig.
"To Reflect And Trust"-Gruppen
Wenn es bei den Opfer-Täter-Gesprächskreisen um eine
Milderung der Politischen Traumatisierungen ging, wie könnte
ihre gesellschaftlich wirksame Bearbeitung aussehen? Einen Weg
weisen die um den israelischen Psychologen Dan Bar-On entstandenen
"To Reflect and Trust" (TRT)-Gruppen. Sie entstanden aus der Arbeit
mit Nachkommen von NS-Tätern und Nachkommen von
Überlebenden des Holocaust, die gemeinsam versuchten, ihre
Politischen Traumatisierungen aufzuarbeiten. Dabei ist
auffällig, "dass die Gruppe das Konzept der Versöhnung
ablehnte und die Begriffe Vertrauen und Nachdenken wählte, um
die Gruppenarbeit zu beschreiben. Auch die Frage der Vergebung
stellte sich in den Gruppendiskussionen nie. Das lässt sich
unter anderem damit erklären, dass Versöhnung und
Vergebung ein Durcharbeiten und nicht bloßes Reden erfordern.
Die Begriffe Versöhnung und Vergebung sind über
Generationen hinweg mit tiefreligiösen
Bedeutungskonstruktionen aufgeladen worden, die für
Unterschiede und sozialen Ausschluss plädieren statt für
die Überbrückung der Unterschiede und sozialen
Einschluss."
Bar-On grenzt sich von dem Diskutieren ab, das die Pfarrer der
Gesprächskreise moderiert haben. Während er auf die
emotional schmerzhafte Identitätsveränderung von Opfern
und Tätern zielt, versuchten die Gesprächskreise, diesen
Weg indirekt zu erreichen. Die TRT-Gruppen haben sich das Ziel
gesetzt, über die Opfer-Täter-Begegnung
Veränderungen kollektiver Identitäten zu erreichen: "Wer
bin ich, wenn ich kein Opfer/Täter bin?" Eine Skalierung der
Opfererfahrungen steht diesem schmerzhaften Prozess im Wege. Statt
der üblichen eindimensionalen Identifikation mit den Opfern
ist der innere und äußere Dialog von Opfern und
Tätern das Ziel. Dabei werden die vorhandenen Asymmetrien
nicht aufgelöst, aber es entstehen neue Symmetrien im Dialog.
Dies geschieht durch das Erforschen der beschwiegenen
persönlichen Familien- und Gesellschaftsgeschichten. Bar-On
zeigt die Verbindung von vergangenheitspolitischen Diskursen und
Gruppendiskursen auf, während in der Opfer-Täter-Gruppe
erst ein eigener Diskurs gefunden werden musste. Davor lag die
Auseinandersetzung "mit dem gesellschaftlichen Schweigen und dem
durch die traumatische und moralische Last der Vergangenheit
verfälschten (Schein-) Diskurs"
. Bar-On spricht vom paradoxen
Diskurs, der dadurch bestimmt ist, dass erzählte Geschichten
die Funktion haben, das Beschweigen bestimmter Tatsachen und
Erlebnisse zu maskieren. Über die
Auseinandersetzung mit den kollektiven Erinnerungen und dem
sozialen Gedächtnis
verändern sich die kollektiven
Identitäten der Teilnehmenden. Dies hat zur Folge, das viele
der Teilnehmenden zu Multiplikatorinnen und Multiplikatoren werden,
die weltweit in der Friedensarbeit versuchen, mit persönlicher
Geschichte politischen Feindschaften zu begegnen, z.B. im
Israel-Palästina- oder im Nordirland-Konflikt.
Die TRT-Gruppen kommen in der Täter-Opfer-Begegnung
über das Durcharbeiten kollektiver Identitäten zu einer
Form der Friedens- und Menschenrechtsarbeit, die eine andere
gesellschaftliche Dimension der Gewaltbearbeitung als der
Täter-Opfer-Ausgleich aufweist. Die Bearbeitung Politischer
Traumatisierungen, die mit persönlicher und gesellschaftlicher
Heilung einhergeht, kann Versöhnung bewirken und die
transgenerative Weitergabe von Traumata über die
Bewusstmachung dieser Zusammenhänge beenden. Eine
Versöhnung ohne diese Prozesse der Heilung und der
Auseinandersetzung mit und Veränderung von gesellschaftlichen
Vergangenheitsdiskursen kann zwar eine Beruhigung der Politischen
Traumatisierung bewirken; sie bleibt dann aber der Ebene der
Versöhnung mit sich selbst verhaftet, mit der eigenen Opfer-
oder Tätergeschichte, und nutzt nicht das Potenzial zur
Veränderung von gesellschaftlichen Legitimierungen politischer
Gewalt. Eine wesentliche Rahmenbedingung, um solche Prozesse
anzustoßen, wäre die generelle Unverjährbarkeit von
Staatskriminalität.
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