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Margit Mantel
Nichts ist mehr so wie bisher
Wenn man auf einmal als Pflegender gefordert
wird
Das Buch hat ein fröhliches, verspieltes
Titelbild: Zwei Frauen, eine in hohem Alter und die andere
jünger, sie könnte ihre Tochter sein, lachen und tanzen
miteinander. Doch solch leichte, beschwingte Szenen sind im Inneren
eher selten. Es geht um die Pflege von hilfebedürftigen
Familienangehörigen. Rund 40 Menschen, in der Mehrzahl Frauen,
erzählen, was es für sie und ihre Familien bedeutet, die
Fürsorge eines pflegebedürftigen Familienmitglieds zu
übernehmen.
Die Situationen sind ganz unterschiedlich,
von denen die Pflegenden erzählen. Sie kümmern sich Tag
und Nacht um Eltern, Schwiegereltern oder den Ehepartner. Sie haben
mit Altersdemenz, Alzheimer, Schlaganfall, Krebs oder anderen
Krankheiten zu kämpfen. Viele waren, bevor sie sich für
die häusliche Pflege ihrer Angehörigen entschieden, nicht
auf diese schwere Aufgabe vorbereitet, geschweige denn, dass sie
ermessen konnten, was damit auf sie zukommt.
Die Erzählenden lassen den Leser
teilhaben an ihrem Alltag. Sie schreiben von ihren Gefühlen,
von Zuneigung und Liebe, aber auch von Trauer, Angst und
Verzweiflung, von Enttäuschung und Wut. Es sind Geschichten
von kaum zu bewältigenden Belastungen ("es ist schwer zu
ertragen, den körperlichen und geistigen Verfall eines
geliebten Menschen zu erleben"), aber auch von erfüllten
Stunden ("es gibt auch schöne Momente: Mutter kann jetzt
genießen").
Das Buch ist entstanden aus einer
Projektarbeit. Die vier Herausgeberinnen untersuchten an der
Universität Bielefeld, Fakultät Pädagogik, die
verschiedenen Aspekte der Pflege und ihrer Bedeutung für die
Lebensgeschichte pflegender Menschen. In Gesprächen mit
pflegenden Angehörigen wurde ihnen deutlich, dass es zwar eine
Fülle von wissenschaftlichen Studien und
Veröffentlichungen zum Thema häusliche Pflege gibt, dass
die betroffenen Familien selbst aber oft hinter Zahlen zu
verschwinden drohen.
Darüber, was Pflege für die eigene
Biographie und das Familienleben bedeutet, ist allgemein wenig
bekannt. So ist es dem Projektteam, das pflegende Angehörige
bat, ihre persönlichen Erfahrungen aufzuschreiben, zu danken,
dass diese Menschen aus dem Schatten heraustreten und eine Stimme
bekommen. Denn, auch das wird in diesem Buch deutlich, ihre
Leistungen werden öffentlich kaum wahrgenommen und zu selten
anerkannt.
Das Familienleben ändert sich total,
wenn ein Angehöriger zu Hause gepflegt wird, manchmal
über Jahre. Zunächst ist da das "Gefühl, dass alles
zusammen bricht". Der Alltag muss völlig neu organisiert
werden. Derjenige, der die Pflege übernimmt, muss seine
eigenen Bedürfnisse zunehmend in den Hintergrund stellen. Von
früh bis spät ist sie oder er gefordert: waschen,
Toilettengang, pudern, kämmen, anziehen, kochen, zerkleinern,
pürieren, füttern, die Treppe hinunter und später
wieder heraufbugsieren, chauffieren, telefonieren, verhandeln,
immer wieder sauber machen, ordnen, lagern, beruhigen,
trösten, streicheln, halten ... Urlaube werden gestrichen,
selbst Spaziergänge oder ein Einkaufsbummel sind zuweilen
nicht möglich. Bisherige Abläufe, Gewohnheiten, Rituale
in Familien können nicht mehr eingehalten werden. Der
Lebenskreis wird enger, der Alltag gleichförmiger.
Viele Handgriffe müssen nach und nach
erst erlernt werden. Um alles unter einen Hut zu kriegen, wird eine
wahre "Alltagskunst" entwickelt. Doch die überaus
vielfältigen "Verrichtungen", die enorm viel Zeit und eine
Menge Geschick erfordern, sind oft nicht das eigentliche Problem.
Bei der Pflege ist der ganze Mensch gefordert mit seinen
körperlichen und seelischen Kräften. "Jede Eigenschaft
eines Menschen wird aufgedeckt", sagt einer, "man braucht einen
festen Stand im Leben, aber auch einen beweglichen. Denn wer
nahestehende Menschen pflegt, steht nicht außerhalb der
Erkrankung. Ich wurde also gleichsam ein Lotse, dessen eigener Kurs
unlöslich mit einem angeschlagenen Schiff in einer
gefährlichen Passage verbunden war."
Viele sind traurig über die schwindenden
sozialen Kontakte. "Gäste einladen, Feten feiern, wo Mutter
nebenan liegt - das geht nicht mehr." Freunde ziehen sich mehr und
mehr zurück: "Wenn ihr nicht zu uns kommt, kommen wir auch
nicht zu euch." Und die Umwelt ist oft alles andere als
solidarisch. Gerade die Andersartigkeit dementiell Erkrankter wird
in der Gesellschaft wenig akzeptiert. Wenn der alte Vater im Winter
ohne Jacke und Kopfbedeckung mit triefender Nase durch die
Straßen läuft und nicht mehr nach Hause findet, sind
andere mit Vorwürfen schnell dabei. Verständnis ist oft
nur bei denen zu finden, die ähnlich betroffen sind; "andere
haben keine blasse Ahnung, wovon die Rede ist".
Die Tatsache, dass die Pflege alter Menschen
mit Abschied verbunden ist, macht vielen Angst. Einen nahestehenden
Menschen loszulassen, sein Sterben und seinen Tod zu akzeptieren,
den Verlust anzunehmen, ihn zu betrauern und durch ihn mit der
eigenen Sterblichkeit konfrontiert zu werden - das sind
traumatische Erfahrungen. "Es ist ein Weg, auf dem es eigentlich
keine Hoffnung gibt, den man aber gehen muss, leben muss - nur
wie?"
Hilflosigkeit, Leere, Verzweiflung und
Aussichtslosigkeit machen sich breit. "Das Leben spielte nur hier
und jetzt. Morgen würde es schlimmer sein", schreibt eine
Betroffene. Manche haben im Nachhinein auch Versagens- und
Schuldgefühle: "Da hättest du doch noch mehr tun
können!"
In den Berichten wird deutlich, wie wichtig
die Beziehungen zu den Pflegebedürftigen und innerhalb der
Familie sind. Konflikte treten auf, wenn die Aufteilung der
Verantwortung nicht geklärt ist. Manchmal ist es nur ein
Angehöriger von mehreren, dem alles aufgebürdet wird.
Wenn die Familienbeziehungen schon vorher schwierig gewesen sind,
wenn Missverständnisse auftreten und gegenseitig Vorwürfe
gemacht werden, dann spitzt sich die Situation zu.
Und Pflegebedürftige können oft
nicht kampflos ihre zunehmende Schwäche und Gebrechlichkeit,
ihre Abhängigkeit und Hilflosigkeit akzeptieren. Sie reagieren
oft mit Unruhe, mit Protesten und mit Neid auf die Gesunden und
Jungen. Wenn ihnen kaum ein Dankeschön über die Lippen
kommt oder sie die Pflegenden entwerten, manchmal sogar
beschimpfen, dann ist das schwer zu ertragen. In vielen
alltäglichen Pflegesituationen gerät der oder die
Pflegende in einen Teufelskreis von Hilflosigkeit und Ärger,
von Wut und Enttäuschung, von Macht und Kontrolle. Leichter
haben es die, die es mit geduldigen und dankbaren zu Pflegenden zu
tun haben.
Es wird auch von vielen guten Erfahrungen
berichtet. Etwa: "Diese Zeit erlaubte es uns, uns voneinander zu
verabschieden." Pflegezeit ist auch eine Zeit, in der sich ein ganz
intensiver Kontakt entwickeln kann, der in normalen Zeiten des
Lebens so nicht möglich war. Da wächst das Vertrauen
zueinander, da gibt es Momente des Glücks. "Ohne Liebe kann
man diesen Dienst nicht über längere Zeit wahrnehmen",
sagt ein Ehepartner, und "ich hatte oft das Gefühl, dass mir
meine Frau als Kranke mehr gab, als ich ihr je hätte geben
können". Viele Berichte zeugen von der Kraft der Liebe, die
Menschen fähig macht, sich den enormen Belastungen der Pflege
auszusetzen und sie auszuhalten.
Manche betonen auch das ihnen anerzogene
Verantwortungsgefühl, aus dem heraus sie ihre Eltern umsorgen,
oder sprechen von der Dankbarkeit für das, was Eltern für
sie getan haben und das ihnen die Kraft gibt, ihnen jetzt etwas
zurückzugeben: "Ich finde, dass unsere Eltern das verdient
haben. Wenn ich allein daran denke, dass sie uns großgezogen
haben - vor allem in den damals schlechten Zeiten -, so ist die
Unterstützung im Alter für mich eigentlich
selbstverständlich", schreibt eine Tochter.
Die Betroffenen haben viel gelernt. Nur
wenige sind verbittert, oft sind sie ihren Eltern näher
gekommen, sagen, dass sie in dieser Zeit bereichert wurden. Und der
Schatz an Erfahrungen, den sie durch die Pflegezeit für ihr
eigenes weiteres Leben und vielleicht für ihre spätere
eigene Pflegebedürftigkeit mitbekommen haben, ist unbezahlbar.
"Kranksein ist eine anstrengende Übung in Geduld für
beide Parteien. Sie zwingt uns einzusehen, dass es noch andere
Formen gibt, sein Leben zu leben als die täglich gewohnten und
praktizierten. Schmerz und Verzweiflung haben ihr Recht im
menschlichen Leben genau so wie Freude und Glück. ... Im
Rückblick war die Pflege trotz aller Mühen und Opfer auch
ein Gewinn", so das Resümee einer Frau nach dem Tod ihrer
97-jährigen Mutter.
Das Buch ist unterteilt in
"Entwicklungsgeschichten", "Belastungs-
undVerzweiflungsgeschichten", "Bindungs- und
Verstrickungsgeschichten" und "Abschiedsgeschichten". Jede der
Geschichten ist von den Herausgeberinnen mit einem Kommentar
versehen. Am Schluss finden sich ein Einblick in die Forschung
unter dem Thema "Theoretische Perspektiven auf die häusliche
Pflege" und ein Literaturverzeichnis.
Von den vielfältigen Erfahrungen, die
das Buch weitergibt, auch von den Fehlern, die gemacht wurden,
können andere profitieren, die noch am Anfang des
Pflegeprozesses stehen. Aber es ist auch generell eine hilfreiche
Lektüre, denn wer weiß schon, wie gesund oder
pflegebedürftig er, sein Partner oder andere
Familienmitglieder morgen oder später sein werden?
Stil, Länge und der Blickwinkel des
Erzählens sind in den einzelnen Berichten sehr
unterschiedlich; manche sind sogar sehr sachlich geschrieben. Doch
wird das Buch keinen Leser unberührt lassen von der enormen
Leistung, die diese Menschen aufbringen. Und es hilft
Außenstehenden, dass sie Familien in ihrem Bekanntenkreis oder
in der Nachbarschaft, in denen gepflegt wird, besser verstehen, und
es hilft vielleicht sogar dazu, nachzufragen und Anteil zu
nehmen
Katharina Gröning, Anna-Christin
Kunstmann, Elisabeth Rensing, Bianca Röwenkamp
(Hrsg.)
Pflegegeschichten. Pflegende Angehörige
schildern ihre Erfahrungen.
Mabuse-Verlag, Frankfurt/M. 2004; 295 S.,
22,90 Euro
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