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Hermann Glaser
Erst 75 Jahre alt und schon so weise
Enzensbergers geistreiche Dialoge zu Zeit und
Zeitgeschehen
Die zu einer Anthologie zusammengefassten "Dialoge" sind mit
zwei Ausnahmen bereits an anderer Stelle veröffentlicht
worden. Sie zeigen Enzensberger, wie man es bei ihm gewohnt ist,
als literarischen Connaisseur und geschickten Collagisten, der -
etwa in dem fingierten Rundfunkinterview mit Diderot oder der
anachronistischen Talkshow mit Zeitgenossen Goethes - seine
Lesefrüchte pointenreich arrangiert und in einen
abwechslungsreichen Gesprächsduktus bringt.
Bei der mit Werbespots im Stil der damaligen Zeit durchsetzten
Fernsehdiskussion "Nieder mit Goethe" zeigen die Teilnehmer und
Teilnehmerinnen, darunter ein allwissender Großkritiker und
eine "standesbewusste Dame der Gesellschaft" (bei der man an
Charlotte von Stein denken mag), dem Olympier gegenüber eine
solche sich selbst blamierende leidenschaftliche Bissigkeit, dass
man geradezu von einer "Liebeserklärung" ex negativo sprechen
kann. Der mitwirkende Birnbaum, "Typus des linken Eiferers mit
leicht streberhaften Zügen", dem jungen Börne
nachempfunden, meint: "Zeitverschwendung noch mehr über diesen
Herrn zu sagen, der, angstvoller als eine Maus, sich beim leisesten
Geräusche in die Erde hineinwühlt, und Luft, Licht,
Freiheit, alles, alles hingibt, um nur in seinem Loche
ungestört am gestohlenen Speckfaden knuppern zu
können!"
Enzensberger montiert bei seinem hintersinnigen Pasquill Zitate
aus rund 50 Quellen der Goethe-Zeit. Insgesamt präsentiert er
mit Witz und Ironie Texte tieferer Bedeutung, wobei man seine
Feststellung zu Alexander Herzen, von dem die Bearbeitung zweier
Dialoge aus den Jahren 1847/48 in den Band aufgenommen wurde, auf
Enzensberger selbst beziehen kann: Jede Generation glaube an die
Einzigartigkeit ihrer Sinnkrisen; der russische Schriftsteller,
Führer der radikalen "Westler" (1812-1870), begegne jedoch den
Niederlagen und Enttäuschungen, deren Zeuge und Opfer er war,
"mit einer Haltung, die ihn zu einem Nothelfer von höchster
Aktualität macht: mit rücksichtsloser Analyse und mit
offensiver Phantasie".
Auch Enzensberger, einst stürmisch drängender, jetzt
konservativer Aufklärer, Protagonist einer skeptischen
Generation, die ihre Sinnkrisen erst als unvergleichlich empfand,
dann mit zunehmendem Alter ihre durchaus anregende
Überheblichkeit relativierte. Heute ist er ein
Intellektueller, der Niederlagen und Enttäuschungen mit Hilfe
rücksichtsloser Analyse und offensiver Phantasie zu
bewältigen vermag; freilich unter Vermeidung der Opferrolle -
ist ihm doch antizipatorische Vernunft zu eigen, so dass sein
Gegen-die-Zeit-gehen schon wieder mit der kommenden Zeit geht. Und
dabei ist er noch unterhaltsam.
So ist auch dieses Buch wieder sehr lesenswert. Freilich
hätte manchmal ein kluger Essay wohl noch mehr erbracht als
solche erdachten, von einem Poeta doctus elaborierten
Gespräche: "Der Eine: Der Luxus, denke ich, ist weit entfernt
von der Triebnatur der Verschwendung. Er gehorcht einem strikten
Code, und der hängt wiederum von den vorherrschenden
Klassenverhältnissen ab. Der Andere: Aha! Dem Prediger
hängt der marxistische Hemdzipfel heraus. Nur so weiter!
Gleich werden wir beim Klassenkampf landen." So zwei Herren auf
einer Hotelterrasse; im "Dialog über den Luxus".
Szenisch zu schreiben, mag eine heimliche Liebe Enzensbergers
zum Theater bekunden - ein Gebiet, auf dem er nicht
reüssierte; was jedoch zu oft dabei herauskommt, ist nur
Schulfunk-Auflockerungsdidaktik.
Hans Magnus Enzensberger
Dialoge zwischen Unsterblichen, Lebendigen und Toten.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 2004;
215 S., 19,80 Euro
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