Absage an ein fixes Rentenalter
Interview mit Franz Müntefering,
Parteivorsitzender der SPD, zum eigenen Alter und zur Alternden
Gesellschaft
Der Parteivorsitzende der SPD ist mit seinen 64
Jahren einer der ältesten Parlamentarier. Ausgegrenzt oder
benachteiligt fühlt er sich nicht. Im Gegenteil. Er sagt:
"Wenn man älter wird, fühlt man sich jünger, als man
dachte." Müntefering moniert, dass die Diskussion um die
Alternde Gesellschaft so angstbesetzt geführt wird. Denn:
"Leben ist immer gefährlich, das junge oder das alte."
Zumindest wirtschaftlich sieht er dafür keinen zwingenden
Grund: "Eine älter werdende Gesellschaft arbeitet länger,
gibt auch mehr Geld aus und trägt den Binnenmarkt mit. Im
Gesundheitsbereich gibt es Wachstumspotential. Man wird zunehmend
in die Gesundheit investieren, da werden mehr Menschen
beschäftigt sein."
Das Parlament
Herr Müntefering, woran bemerken Sie Ihr
eigenes Alter?
Franz Müntefering Man sieht das selbst
gar nicht so, wenn man in der Zeitung die Altersangabe hinter dem
eigenen Namen liest. Wieso schreiben die das dazu, frage ich mich
dann. Wenn man älter wird, fühlt man sich jünger,
als man dachte. Das Alter wird selbstverständlicher. Deshalb
lebt man ganz normal, was auch Mut macht.
Das Parlament
Gibt es Vorzüge des Alters -
beispielsweise mehr Gelassenheit?
Franz Müntefering Gelassen war ich
eigentlich schon immer. Erfahrung zählt. Aber man kann nicht
mehr so schnell laufen. Das ärgert mich, wenn man so langsam
ist und durch den Tiergarten läuft, und es kommen junge Frauen
vorbei, die einen locker überholen können.
Das Parlament
Die Altersdebatte wird in der Politik und
Gesellschaft als Angst- und Opfer-Debatte geführt. Hat eine
alternde Gesellschaft mehr Risiken als Chancen?
Franz Müntefering Leben ist immer
gefährlich, das junge oder das alte. Ich finde das völlig
falsch, das Ganze so angstbesetzt zu diskutieren. Eine Gesellschaft
verändert sich, das hat Konsequenzen, aber nicht nur negative.
Es gibt den schönen Vorteil, dass wir länger leben.
Weniger als zehn Prozent der 85-Jährigen haben dauerhafte
Hilfe nötig - wer wurde früher 85? Wenn man im Alter eine
relative soziale Sicherheit hat, geht das gut. Das haben heute die
allermeisten Menschen, und das wird auch die nächsten
Jahrzehnte so bleiben.
Das Parlament
Wo liegen denn die Chancen?
Franz Müntefering Dass die Menschen
nicht mehr mit 50, 55 Jahren in Rente geschickt werden. Dass sie
noch aktiv sind, wenn sie in den Ruhestand gehen. Dass sie gesund
altern und im Alter in der Gesellschaft eine Rolle spielen. Viele
tun das auch. Alte gehen ins Studium, was es früher so nicht
gegeben hat, und sie werden noch gebraucht. Firmen stellen wieder
Ältere ein. Ältere werden als Mentoren eingeladen,
Jüngeren zu helfen.
Das Parlament
Es gibt die Sorge, dass Wachstum in einer
schrumpfenden und älter werdenden Gesellschaft nicht mehr
generiert werden kann. Bereitet sich die Politik darauf
vor?
Franz Müntefering Ein Drittel
erwirtschaften wir durch Export, das kann noch mehr werden: Die
Menschheit wächst bis 2050 um etwa 50 Prozent auf 9,3
Milliarden. Viele Wachstumsländer sind dabei, die unsere
Handelspartner sein können. Eine älter werdende
Gesellschaft arbeitet länger und gibt auch mehr Geld aus und
trägt den Binnenmarkt mit. Im Gesundheitsbereich gibt es
Wachstumspotenzial. Man wird zunehmend in die Gesundheit
investieren, da werden mehr Menschen beschäftigt
sein.
Das Parlament
Wird die Gesellschaft an Innovationskraft
verlieren?
Franz Müntefering Da gibt es viele
Mutmaßungen. Die 55- und 60-Jährigen laufen nicht mehr so
schnell wie 25-Jährige, aber sie haben Wissen, Erfahrung,
Können und Teamfähigkeit. Man wird im Alter nicht
automatisch dumm. Auch nicht unfähig zur Innovation. Die
Geschwindigkeit spielt eine andere Rolle, aber das muss nicht
negativ sein. Denn Alte machen dann vielleicht auch weniger Fehler,
gehen gelassener und vorsichtiger an die Dinge heran.
Das Parlament
Karl Lauterbach befürchtet, dass durch
ein stärker steuerfinanziertes soziales Sicherungssystem die
Rentnerlobby zuviel Macht gegenüber Politikern
bekommt.
Franz Müntefering Das kommt darauf an,
wie extrem man das sieht. Ich glaube, dass wir die
Sozialversicherungen immer mehr als eine vernünftige Mischung
aus Beiträgen, Steuern und eigener privater Vorsorge verstehen
müssen.
Das Parlament
Wie müssen sich die Alten
verändern?
Franz Müntefering Die ganze Gesellschaft
muss sich ändern, nicht nur eine Generation. So wie wir heute
Vereinbarkeit von Familie und Beruf suchen, werden wir auch
Vereinbarkeit von Pflege und Beruf haben müssen.
Das Parlament
Muss dass, was von Jüngeren heute
gefordert wird - auch für die jungen Alten gelten: Flexibel,
mobil zu sein, Städte zu wechseln und immer wieder neu
anzufangen?
Franz Müntefering Das ist doch schon
jetzt so. Es stimmt doch gar nicht, das diejenigen, die jetzt 50
oder 60 sind, so starr und unflexibel wären, wie das
unterstellt wird. Meine Eltern hatten einen Lebensradius von
fünf Kilometern - so weit konnten sie gehen. Zu Fuß in
die Schule, zur Firma, zur Kirche. Heute bewegen wir uns
tagtäglich über Hunderte von Kilometern, die Menschen
ziehen leichter um.
Das Parlament
Ostdeutschland hat ein besonderes Problem:
Wie wollen Sie verhindern, dass es zum vorausgesagten Altersheim
der Republik wird, weil immer mehr junge Menschen
wegziehen?
Franz Müntefering Wenn es Wachstum gibt,
werden auch Junge wieder dorthin gehen. Der Osten holt langsam auf,
der Exportanteil ist gestiegen. Die Produktivität ist deutlich
besser geworden. Da die Menschen dort längere Arbeitszeiten
haben als im Westen, sind die Lohnstückkosten niedriger. Wir
müssen Wachstumsregionen stärken, damit sie ausstrahlen
und wie Magnete wirken - wie Frankfurt, München und Hamburg im
Westen.
Das Parlament
Wenn die Menschen künftig länger
arbeiten werden, wann kommt die entsprechende
Gesetzesänderung?
Franz Müntefering Es gibt die ersten
verifizierbaren Entwicklungen, dass die Menschen später in
Vorruhestand gehen. Wir haben ein Gesetz gemacht, wonach nicht mehr
solange "Arbeitslosengeld I" für die Älteren gezahlt
wird. Im Jahr 2008 ist das mit den 32 Monaten Arbeitslosengeld
vorbei. Diejenigen Betriebe und Beschäftigten, die heute die
lange Zahldauer des Arbeitslosengeldes mit einkalkulieren, werden
das nicht mehr machen.
Das Parlament
Sie haben heute die 55-Jährigen im
Blick, aber es geht doch um die Frage, ob die Altersgrenze von 65
Jahren und eine Zwangsverrentung noch zeitgemäß ist?
Altersforscher sagen, dass ein heute 65-Jähriger so gesund ist
wie ein 55-Jähriger früher.
Franz Müntefering So fühle ich mich
auch. Aber wir müssen unten anfangen. Es nützt ja nichts,
wenn wir das Renteneintrittsalter auf 67 erhöhen - und die
Leute gehen mit 59 raus. Wir müssen verhindern, dass die
Menschen zu früh aus dem Berufsleben ausscheiden. Deswegen
verkürzen wir das Arbeitslosengeld. Das klingt hart, gerade
für einen Sozialdemokraten. Aber es hat den Zweck, die
Personalpolitik der Unternehmen zu verändern.
Das Parlament
Im ersten Regierungsjahr hat ihre Koalition
noch die "Rente ab 60" gefordert.
Franz Müntefering Das hatten wir Mitte
der 80er-Jahre alle gelernt und geglaubt, das sei vernünftig.
Vorruhestand als verkappte Arbeitslosigkeit - das war falsch, dazu
stehe ich.
Das Parlament
Und wann wollen Sie über die obere
Altersgrenze anfangen zu sprechen?
Franz Müntefering Ich glaube, dass man
in diesem Jahrzehnt ganz sicher noch eine Debatte führt, wie
das weitergehen soll. Ich bin dafür, nicht einfach eine neue
Zahl zu nennen. Ich will mehr Flexibilität. Ich stelle mir
einen Korridor zwischen 63 und X vor, in dem man in Rente gehen
kann. Je nachdem, wann einer angefangen hat zu arbeiten, welche Art
von Arbeit er gemacht hat und wie belastbar er noch ist. Ich habe
etwas gegen den festen Tag, an dem man Rentner wird.
Das Parlament
Welchen Grund gibt es für die Politik,
da noch zu warten?
Franz Müntefering Manches muss man ein
bisschen länger überlegen. Die Gedanken sind da, aber die
öffentliche Debatte steht noch aus. Das werden wir rechtzeitig
machen.
Das Parlament
Eine längere Arbeitszeit im Alter kann
dann andererseits zu Verteilungskonflikten gegenüber
Jüngeren führen, was die verfügbaren
Arbeitsplätze angeht - wie wollen Sie das
verhindern?
Franz Müntefering Zunächst muss
sich das Bewusstsein verändern, dass es wieder
selbstverständlich ist, wenn ein 64-Jähriger noch
mitmischt und berufstätig ist. Man kann die
Renteneintrittsalterfrage nicht an der Menge der Arbeit ausrichten.
Das müssen die Generationen gemeinsam tragen. Das Ganze zeigt
nur, dass es wenig Sinn hat, die Wochen-Arbeitszeit der Einzelnen
zu verlängern, wie es jetzt Mode ist zu fordern.
Das Parlament
In der aktuellen Debatte um die
Sozialreformen geht es oft um Generationengerechtigkeit. Verlaufen
die Konfliktlinien der Zukunft zwischen Alt und Jung oder zwischen
Arm-Reich, Gebildet-Nichtgebildet, Erben-Nichterben?
Franz Müntefering Am wenigsten zwischen
den Generationen. Ich bin sehr skeptisch gegenüber dem Begriff
der Generationengerechtigkeit. Es gibt reiche Alte und arme Alte,
das gleiche gilt für Junge. Je nachdem, wie und wo man lebt,
was man kann oder nicht kann, hat man unterschiedliche
Lebenschancen. Das Wichtigste ist wahrscheinlich die Frage der
Bildung.
Das Parlament
Bildung schützt nicht vor
Einkommenseinbrüchen, Arbeitslosigkeit in konjunkturschwachen
Phasen.
Franz Müntefering Daran müssen wir
uns gewöhnen. Wir müssen uns die Vorstellung abschminken,
dass eine gute Ausbildung garantiert, ein Leben lang gut zu
verdienen. Das Senoritätsprinzip bleibt auf der Strecke: Je
älter ich bin, desto weiter oben bin ich - das gilt nicht mehr
automatisch. Das ist dieses beamtenhafte Denken, was wir in
Deutschland tief verinnerlicht haben. Wir müssen lernen zu
akzeptieren, dass jeder Beruf ehrenwert ist, auch wenn man weniger
Bildung braucht oder sich dreckig macht dabei.
Das Parlament
In der Diskussion um die Alternde
Gesellschaft gibt es die These, dass sich künftig soziale
Ungleichheit verschärft. Alarmiert Sie dieser
Befund?
Franz Müntefering Es wird viel vererbt
werden in den kommenden Jahren. In der Tat ist das eine Frage des
Zufalls, die manchem günstigere Ausgangspositionen gibt.
Früher war das so, dass das Vermögen der Familie
Voraussetzung für erstklassige Bildung war. Das gab
lebenslange Sicherheit. Die ist weg, da kann Politik nicht
großartig eingreifen. Die Erbschaftssteuer wird
überarbeitet werden. Aber ich empfehle, da nicht allzu viel an
Geld zu erwarten, weil es Freiräume geben muss für
Wohneigentum und Betriebe. Die dürfen nicht in der
Übergangsphase kaputt gehen, indem man sie mit einer hohen
Erbschaftssteuer belegt.
Das Parlament
Auch im Gesundheitssystem wird der soziale
Status eine Rolle spielen. Reiche können gesünder
älter werden - muss da die Politik eingreifen?
Franz Müntefering Das ist heute schon so
und reicht bis zur Ernährung. Bestimmte Gruppen verhalten sich
gesundheitsbewusster als andere. Das tun die, die es sich leisten
können und die da bewuss-ter sind. Das wird zunehmen. Es wird
eine erhebliche Differenzierung geben zwischen denen, die
finanziell gut gestellt sind, und denen, die schlecht dastehen. Wir
müssten den Armen etwas geben. Was können wir da tun?
Dass sie Arbeit haben und mehr Bewusstsein für ihre
Gesundheit. Da muss man in der Schule anfangen und in der
Familie.
Das Parlament
Es gibt die fiktive Rechnung, dass man 30
Millionen Zuwanderer in den nächsten Jahrzehnten
bräuchte, um die Kinderarmut und die älter werdende
Gesellschaft auszugleichen.
Franz Müntefering Wir können das,
was fehlt, nicht voll durch Zuwanderung ausgleichen, sogar nur zum
geringeren Teil.
Das Parlament
Es gibt zudem gut ausgebildete Eltern, die
wegen fehlender Betreuungsmöglichkeiten für ihre Kinder
nicht soviel arbeiten können, wie sie wollten. Reicht da Ihr
Konzept, bis 2010 eine Betreuungsquote von 20 Prozent der kleinen
Kinder anzupeilen?
Franz Müntefering Wir haben drei
große stille Reserven: Die gut ausgebildeten Mütter, die
Jungen unter 25 und die Alten über 55. Insofern ist der Bedarf
an Arbeit übrigens auch größer, als die offizielle
Arbeitslosenquote aufzeigt. Wir brauchen langfristig das Wissen und
das Können aller drei Gruppen. Wir haben bei den 20 Prozent
Betreuungsquote noch den wütenden Protest der Union erlebt im
Bundestag. 20 Prozent sind der Anfang. Wir haben das Gesetz
aufteilen müssen, damit wir überhaupt etwas umsetzen
konnten über den Bundesrat.
Das Parlament
Reden Politiker Ihrer Generation über
die eigene Prägung, als Wirtschaftswunder-Generation im
Vergleich zu den Nachkommen begünstigt zu sein?
Franz Müntefering Wir sind uns dessen
bewusst. Die schwierigste Politiker-Generation ist meine, die
zwischen 55 und 70. Diese Altersgruppe geht von einem klaren
Wachstumsprinzip aus, dass es immer vorangeht und mehr
erwirtschaftet wird. Denen zu sagen, wir müssen umdenken,
trifft auf viel Skepsis. Die Jüngeren gehen damit
selbstverständlicher und beweglicher um.
Das Parlament
Fühlen Sie sich schon abgehängt als
älterer Parlamentarier?
Franz Müntefering Nicht in meiner
Position. Ich habe das Gefühl, dass wir mit den
unterschiedlichen Generationen gut klarkommen, ich suche den
Kontakt und die Zusammenarbeit mit Jüngeren.
Das Parlament
Wenn Sie an ihre Enkelgeneration denken,
welche Probleme werden die mit 70 bewältigen
müssen?
Franz Müntefering Mal vorausgesetzt, es
bleibt friedlich und wir machen eine einigermaßen
vernünftige Politik, dann wird Deutschland ein Wohlstandsland
bleiben. Die Frage ist, ob wir die Bildungschancen so verteilen
können, dass wir auf dieser Basis Gerechtigkeit und
Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse schaffen. Es kann
sein, dass die Gesellschaft sich mehr individualisiert und die
Schwachen abstößt, die hängengeblieben sind. So kann
man auch leben, aber das wollen wir nicht. Ich glaube, es liegt
eine sozialdemokratische Aufgabe darin, dass wir die Grundidee von
Sozialstaat nicht aufgeben dürfen. Das ist die Voraussetzung
dafür, dass das Gefälle zwischen den Starken und den
Schwachen nicht dramatisch wird.
Das Interview führte Corinna
Emundts.
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