Karl-Otto Sattler
Machtkampf der roten und blauschwarzen
Robenträger aus Karlsruhe und Luxemburg
Bundesverfassungsgericht contra
Europarats-Gerichtshof
Nichts Genaues weiß man nicht. Genugtuung klingt in der
Erklärung an, die der Europarat nach dem Besuch von
Generalsekretär Terry Davis in Berlin veröffentlichte:
Justizministerin Brigitte Zypries habe bei diesen Gesprächen
"den bindenden Charakter der Urteile des Europäischen
Gerichtshofs für Menschenrechte bestätigt" - eine in der
Öffentlichkeit anders verstandene Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts über das Verhältnis zwischen
der Menschenrechtscharta des Europarats und dem Grundgesetz sei "in
den Medien falsch interpretiert worden".
Aber jetzt ist ja alles wieder in Butter, die Straßburger
Rechtsprechung hat also doch Vorrang gegenüber der deutschen
Gerichtsbarkeit, ist verpflichtend für Justiz und Politik in
der Bundesrepublik: Diesen Eindruck wollte der Staatenbund
vermitteln.
Gleichwohl: Nichts Genaues weiß man nicht. Nicht
überzeugt zu sein von dieser Klarheit scheint ausgerechnet
Luzius Wildhaber, Präsident des 45köpfigen
Richterkollegiums des Europarats: Diplomatisch höflich, aber
unmissverständlich äußert er im Blick auf die
neuerdings umstrittene Beachtung der Urteile des Straßburger
Gerichtshofs in Deutschland "große Sorge, was für ein
Eindruck da entsteht". Bisher habe die Bundesrepublik die
völkerrechtlichen Verpflichtungen der Menschenrechtscharta des
Europarats "immer höher gehalten als die nationalen
Interessen". Mahnend fügt der Schweizer an: "Ich würde es
sehr bedauern, wenn sich das ändern sollte." Die Konvention,
auf der die Rechtsprechung des Gerichtshofs fußt, müsse
jedenfalls "von allen Vertragsstaaten gleichermaßen beachtet
werden". Wildhaber: "Wir dürfen hier nicht mit zweierlei
Maß vorgehen."
Was zählt in der Bundesrepublik mehr: Die Urteile des
Bundesverfassungsgerichts oder die Beschlüsse des
Menschenrechtsgerichtshofs? Unversehens hat sich diese Frage als
heißes Eisen entpuppt, das allseits mit spitzen Fingern
angefasst wird. In Straßburg jedenfalls möchte man das
heikle Problem nicht mehr kommentieren, mit der Stellungnahme
Wildhabers in einem "Spiegel"-Interview will man es vorerst
bewenden lassen. Eine Entscheidung des hiesigen Verfassungsgerichts
hat erheblich Staub aufgewirbelt und erstmals die bislang scheinbar
klar justierten Beziehungen zwischen Berlin und dem Europarat,
zwischen der deutschen und der Straßburger Justiz zur Debatte
gestellt.
Zum Anlass genommen für ihren überraschenden
Vorstoß hat Karlsruhe einen Streit um das Besuchsrecht eines
Vaters gegenüber seinem unehelichen Kind. Dieser Spruch bietet
Stoff für allerlei Interpretationen, verkündet aber eine
unzweideutige Botschaft: dass nämlich das Grundgesetz im
Zweifelsfall über den Straßburger Urteilen steht, dass
die Beschlüsse der Europarats-Kollegen jedenfalls nicht
"schematisch vollstreckt" werden dürfen. Seither herrscht
dicke Luft zwischen Berlin, Karlsruhe und Straßburg, auch wenn
das offiziell so niemand sagen mag. Wer hat das letzte Wort? Was
vordergründig als prestigeträchtiger Showdown zwischen
den blauschwarzen Roben am Sitz des Europarats und den roten Roben
in der deutschen Residenz des Rechts anmutet, ist von großer
gesellschaftlicher Tragweite.
Über Jahrzehnte hatte sich in Politik und
Öffentlichkeit die Überzeugung festgesetzt, dass die
Menschenrechtskonvention des Europarats und damit die Urteile des
Straßburger Gerichts über den nationalen Verfassungen und
damit auch über der nationalen Rechtsprechung stehen. Alle
Mitgliedsländer des Staatenbunds verpflichten sich ja mit der
Aufnahme ins Palais d'Europe zur Respektierung der Charta. Der
Gerichtshof gilt als höchste juristische Instanz auf dem
Kontinent, an die sich sämtliche 800 Millionen Bürger
zwischen Atlantik und Kaukasus nach Durchlaufen des heimischen
Rechtswegs wenden können - um ein "endgültiges" Urteil zu
erreichen.
Bislang hatte das Kollegium des Europarats in der Bundesrepublik
einen ausgesprochen guten Ruf: Wenn Straßburg Folter in der
Türkei, inhumane Haftbedingungen in Russland oder chronisch
überlange Prozesse in Italien als Verstöße gegen die
Menschenrechtskonvention geißelt und die verantwortlichen
Regierungen zu teils saftigen Strafzahlungen verdonnert, so
stößt dies hierzulande in allen politischen Lagern meist
auf Beifall. Die Autorität des Gerichtshofs wurde auch deshalb
nie angezweifelt, weil Wildhabers Runde Deutschland nur selten und
dann in nicht eben brisanten Fällen zu rüffeln pflegte:
die in Baden-Württemberg von Männern zu zahlende
Feuerwehrabgabe zu kippen, nun ja, das hebt die Welt nicht
unbedingt aus den Angeln. Bislang, so der Schweizer Jurist, seien
die Straßburger Urteile in der Bundesrepublik "mit einer
wunderbaren Regelmäßigkeit vollzogen worden".
In jüngerer Zeit aber geht es ans Eingemachte. So hoben die
Blauschwarzen gleich zwei politisch bedeutsame Beschlüsse der
Roten auf. Oder sollte man neuerdings vorsichtshalber sagen, dass
sich Straßburg in Widerspruch zu Karlsruhe setzte?
Einmal beschied Wildhabers Gremium, dass die vom
Bundesverfassungsgericht gebilligte entschädigungslose
Enteignung der Erben sogenannter Neubauern, denen nach dem Krieg in
der DDR enteignetes Land zugesprochen worden war, gegen die in der
Menschenrechtscharta verankerte Eigentumsgarantie verstoße.
Und dann erst das "Caroline-Urteil" Straßburgs, das die
Karlsruher Kollegen besonders gefuchst haben dürfte: Am
Beispiel der monegassischen Prinzessin Caroline dekretierten die
Europarats-Richter, dass Fotos Prominenter bei privaten
Aktivitäten in der Öffentlichkeit wie etwa beim Reiten am
Strand oder beim Shopping nicht mehr ohne deren Zustimmung
veröffentlicht werden dürfen. Das hiesige
Verfassungsgericht hatte hingegen geurteilt, "absolute Personen der
Zeitgeschichte" müssten diese Publizität hinnehmen.
Journalisten und Verleger kritisierten den Straßburger Spruch
empört als massiven Verstoß gegen die Pressefreiheit.
Gerade das "Caroline-Urteil" zeigt, dass es sich beim Konflikt
zwischen Blauschwarz und Rot nicht bloß um
Paragraphenklaubereien dreht.
Die Karlsruher Retourkutsche ist nicht frei von einer gewissen
Raffinesse. Beim Streit um das Besuchsrecht eines Vaters
gegenüber seinem Sohn sprang das Verfassungsgericht den
Straßburger Kollegen im Prinzip nämlich zur Seite. Ein
Oberlandesgericht hatte sich geweigert, in einer
Berufungsverhandlung auf das in diesem Fall vom
Europarats-Kollegium angeordnete Besuchsrecht überhaupt
einzugehen. Karlsruhe indes verfügte, dass hiesige Gerichte
die Straßburger Vorgaben berücksichtigen und in ihre
Entscheidungsfindung einbeziehen, sich damit jedenfalls
"gebührend auseinandersetzen" müssen. Urteile des
Menschenrechts-Gerichtshofs seien in die deutsche Rechtsprechung
"schonend einzupassen".
Allerdings lehnt Karlsruhe einen "unreflektierten Vollzug der
Entscheidung" Straßburgs ab. Zwar betonen die roten Roben, das
Grundgesetz sei "nach Möglichkeit" so auszulegen, "dass ein
Konflikt mit völkerrechtlichen Verpflichtungen nicht
entsteht". Die Menschenrechtscharta habe freilich lediglich den
"Rang eines Bundesgesetzes". Diese Konvention und die
Rechtsprechung der Straßburger Instanz dienten als
"Auslegungshilfen" bei der Interpretation der deutschen Verfassung,
"sofern dies nicht den Grundrechtsschutz nach dem Grundgesetz
einschränkt oder mindert". Das Grundgesetz verzichte "nicht
auf die in dem letzten Wort der deutschen Verfassung liegende
Souveränität".
Im Klartext: Letztlich hat im Streit- und Zweifelsfall das
Grundgesetz Vorrang vor der Menschenrechts- charta des Europarats
und den Urteilen des Gerichtshofs - und über die Auslegung der
deutschen Verfassung befindet eben Karlsruhe. Sollte nach dem
Muster des Caroline-Beispiels mal wieder in einem Fall um die
Abwägung zwischen Persönlichkeitsrechten und
Pressefreiheit gerungen werden, so müssten sich hiesige
Gerichte an der Linie der roten Roben orientieren - was im
Interesse der Medien wäre. Sollte dann wiederum Straßburg
angerufen werden, würde erneut ein Konflikt aufbrechen.
Luzius Wildhaber möchte zwar "keinen Streit mit dem
Bundesverfassungsgericht". Ihm komme es auch nicht auf den
formellen Rang der Straßburger Konvention und Rechtsprechung
in der Bundesrepublik an. Aber der Präsident des Gerichtshofs
insistiert, dass Deutschland die Menschenrechtscharta ohne
Vorbehalt unterschrieben habe. Entscheidend sei, dass die
Straßburger Urteile vollzogen werden.
Der Machtkampf zwischen Blauschwarz und Rot ist nicht
entschieden. Wildhaber treibt noch eine andere Sorge um: dass der
Streit mit Karlsruhe die Autorität des Europarats-Gerichtshofs
auf dem ganzen Kontinent untergraben und nationale Instanzen
veranlassen könnte, Straßburger Urteile zu missachten.
Inzwischen hätten sich nämlich, so der Präsident,
"Anfragen aus anderen Staaten gehäuft, ob man sich wirklich in
allen Punkten an unsere Entscheidungen halten müsse. Das freut
mich nicht."
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