Deutscher Bundestag
English    | Français   
 |  Sitemap  |  Kontakt  |  Fragen/FAQ
Druckversion  |       
Startseite > Blickpunkt Bundestag > Blickpunkt Bundestag - Jahresübersicht 2000 > Deutscher Bundestag - Blickpunkt 07/2000 >
Juli 07/2000
[ zurück ]   [ Übersicht ]   [ weiter ]

streitgespräch

Gehen in Deutschland die Lichter aus?

Streitgespräch über den Atomausstieg

Die Bundesregierung hat das Ende der Kernenergie eingeläutet. Der Atomausstieg ist beschlossene Sache, auch wenn es noch über zwanzig Jahre dauern könnte, bis der letzte Atommeiler vom Netz geht. Was Rot-Grün als Jahrhundertentscheidung und Energiewende feiert, ist für die Opposition ein Treppenwitz der Geschichte und völlig falsches Signal. Wie geht es weiter mit der Energieversorgung in Deutschland? Darüber führte Blickpunkt Bundestag ein Streitgespräch mit dem stellvertretenden Vorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion Michael Müller und der wirtschaftspolitischen Sprecherin der CSU-Landesgruppe, Dagmar Wöhrl.

Dagmar Wöhrl (CDU/CSU) und ...
Dagmar Wöhrl (CDU/CSU) und ...

Blickpunkt Bundestag: Frau Wöhrl, gehen in Deutschland bald, wie Helmut Kohl einmal unkte, die Lichter aus?

Dagmar Wöhrl: Nein. Denn das Kohl-Wort war auf eine andere Situation gemünzt. Die jetzige Vereinbarung zwischen Bundesregierung und Energiewirtschaft bedeutet keinen Ausstieg, sondern einen Vertrag über lange Laufzeiten für bestehende Atommeiler. Da gehen keine Lichter aus.

Kann man, Herr Müller, überhaupt von einem Ausstieg sprechen, wenn die Atomkraftwerke in der Tat noch einmal fast so viel Strom produzieren dürfen wie in der Gesamtzeit ihrer bisherigen Laufzeiten?

Michael Müller: Es ist ein geordnetes Auslaufen, das nicht zu Hosianna-Rufen Anlass gibt. Zumal wenn man weiß, dass es weltweit nur 16 Atomkraftwerke gibt, die mehr als 30 Kalenderjahre laufen. Aber wenn man ein konsensuales Verfahren sucht, war dies offenkundig der Weg, den man gehen konnte. Sicher ist aber, dass die Atomenergie keine Zukunft hat.

"Kein Anlass zu Hosianna-Rufen"

Schon deshalb nicht, weil seit 1994 in Deutschland ein Atomgesetz gilt, nach dem die Neugenehmigung einer Anlage nur möglich ist, wenn bei einem möglichen Schaden sich die Folgen auf die Anlage beschränken. Das ist nicht gegeben, und es ist fraglich, ob das technisch überhaupt jemals möglich ist.

Ist der Ausstieg unumkehrbar oder wird ihn die Union, sollte sie wieder regieren, politisch rückgängig machen?

Wöhrl: Wir werden uns alle Optionen für die Zukunft offen halten. Dazu gehört ein Energie-Mix einschließlich Atomstrom.

"Wir werden uns alle Optionen offen halten"

Dies um so mehr, als der Welt-Energiebedarf laut Prognos-Institut bis zum Jahr 2020 um 40 Prozent zunehmen wird, denken Sie nur an den Strombedarf für die Informations- und Kommunikationstechnologien. Hinzu kommt der Klimaschutz, der ohne die CO2-freie Atomkraft noch schwieriger wird.

Atomstrom ist jahrzehntelang finanziell massiv gefördert worden. Werden diese Gelder jetzt auf andere Energieträger umgeleitet?

Müller: Ich erinnere daran, dass der Bundestag einstimmig beschlossen hat, dass für die Zukunft der Energieversorgung nicht mehr wie in der Vergangenheit die Angebotsfrage entscheidend ist, sondern, im Gegenteil, die Nachfrage und die Wandlungs- und Nutzungstechnik. Das klingt abstrakt, heißt aber im Kern, dass die effiziente Nutzung im Mittelpunkt stehen soll. Die Frage lautet also: Wie kommen wir mit möglichst wenig Energie aus? Auch auf die finanzielle Förderung von Energie müssen wir dieses Denken übertragen: Statt einer dauerhaften Subventionierung müssen wir künftig degressive Systeme finden.

Wöhrl: Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube. Schon bei den regenerativen Energien, die ja niemals die Kernkraft ersetzen können, subventioniert diese Regierung milliardenstark, ohne dass ein Deckel draufgesetzt wird.

... Michael Müller (SPD).
... Michael Müller (SPD).

Welche Energien werden überhaupt dauerhaft den Atomstrom ersetzen?

Müller: Priorität Nummer eins ist Energiesparen. Wir haben in Deutschland ein nicht genutztes Einspar-Potential von ungefähr 45 Prozent. Wenn wir den Verbrauch nur um 20 Prozent reduzieren würden, wäre das fast die gesamte Energiemenge, die heute auf den Verkehrssektor entfällt.

"Priorität Nummer eins ist Energiesparen"

Außerdem müssen wir unseren im internationalen Vergleich äußerst geringen Anteil von regenerativen Energien - es sind nur 2,3 Prozent - erhöhen. Wir können die Energien aus Wind, Wasser und Biomasse mindestens verdoppeln in den nächsten zehn Jahren. In der Zukunft werden sie zur entscheidenden Säule. Drittens müssen wir durch intelligente Effizienztechniken, zum Beispiel der Kraft-Wärme-Koppelung, zu erheblichen Einsparungen kommen.

Wöhrl: Energiesparen ist zweifellos sinnvoll, aber es wird nicht ausreichen. Einsparmöglichkeiten gibt es vor allem bei der Gebäudeheizung, also bei der Wärme, aber weniger beim Strom, und um den geht es ja in der Kernenergie-Diskussion. Außerdem sind die Preise für regenerative Energien so hoch, dass unsere Volkswirtschaft sie sich nicht unbegrenzt leisten kann.

Müller: Noch. Aber warten Sie doch mal ab. Windenergie liegt heute schon in einigen Regionen gleichauf im Preis. Vieles hängt von der technologischen Entwicklung ab. Denken wir nur an den Computer, von dem auch früher niemand geglaubt hätte, wie billig der heute zu kaufen ist. Deshalb betrachte ich den Atomausstieg durchaus auch als große Chance für die Wirtschaft.

Frau Wöhrl, ist der Atomausstieg möglicherweise unehrlich, weil er zwar die Produktion, nicht aber den Konsum von Import-Atomstrom verhindert?

Wöhrl: Genau so ist es. Strom kennt keine Grenzen und hat keine Farbe, so dass man nicht erkennen kann, woher er kommt - ob aus einer Windkraftanlage oder einem veralteten Atomkraftwerk im Ausland. Ich glaube, dass unsere Energieversorgungsunternehmen in Zukunft keine Stromproduzenten, sondern Strommakler sein werden.

Der Atomausstieg wird entscheidend mit den Sicherheitsrisiken begründet. Das mögliche Endlager Gorleben wird erst einmal ausgesetzt, der Atommüll künftig verstärkt in Zwischenlagern gelagert. Ist das ein Fortschritt?

Müller: Nein, aber das Ergebnis einer Wahrheit, die wir lange verdrängt haben. Wir haben die Atomenergie ausgebaut wie ein Flugzeug, das in die Luft geschickt wurde, ohne eine Landebahn zu haben. Bis heute gibt es nirgendwo auf der Welt ein gesichertes Endlager. Wir haben die Verpflichtung, jetzt ein Konzept zu suchen. Verdrängen wäre unverantwortlich.

"Verschieben kann nicht der richtige Weg sein"

Wöhrl: Das Aussetzen der Erkundung des möglichen Endlagers Gorleben ist in meinen Augen unverantwortlich. Das ist ein Verschieben auf die nächste Generation. Das kann nicht der richtige Weg sein.

Was ist Ihre Prognose: Wann wird das letzte Atomkraftwerk in Deutschland still gelegt?

Müller: Entscheidend dafür wird sein, welche Attraktivität und Dynamik die neuen Energie-Techniken entfalten. Es gibt ein enormes ökonomisches Potential, um einen neuen Energiesektor zu entwickeln. Je erfolgreicher das betrieben wird, desto mehr relativiert sich die Frage der Laufzeiten.

Wöhrl: Wir werden ohne einen ausgewogenen Energie-Mix nicht auskommen. Deshalb wird es ohne Atomstrom nicht gehen - egal, woher er kommt, aus Deutschland oder dem Ausland. Weltweit sind schließlich über 480 Kernkraftwerke in Betrieb und 40 in Bau. Die Frage nach dem Ausstiegsdatum wird dadurch irrelevant.





Kontakt:

michael.mueller@bundestag.de
dagmar.woehrl@bundestag.de


Quelle: http://www.bundestag.de/bp/2000/bp0007/0007086
Seitenanfang [TOP]
Druckversion Druckversion