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08/2001
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Menschen im Bundestag

Arbeiten im Fünf-Minuten-Takt

Henning van de Loo und die anderen Stenografen des Deutschen Bundestages sieht man nur im Plenarsaal. Was sie wirklich alles an einem Sitzungstag machen, kommt einem wahren Kunststück ziemlich nahe.

Kurzschrift ist Schnellschrift. Es gibt Menschen, die können so schnell schreiben wie andere reden. Oder noch schneller. Hennig van de Loo ist so einer. Ein Schnellschreiber und demzufolge, was viel entscheidender ist, ein Schnelldenker. Wer beim "Stenographischen Dienst des Deutschen Bundestages" an spitze Bleistifte, Ärmelschoner und vom vielen Schreiben gebeugte Rücken denkt, hat sich richtig verrannt. Doch Tatsache ist: Die Menschen lieben es, sich zu verrennen.

Henning van de Loo, groß, schlank, ein wenig schlaksig fast, 33 Jahre alt, Diplomsozialwissenschaftler, ist seit 1997 Stenograf im Deutschen Bundestag. Er hat eine Fröhlichkeit, die von innen kommt, und strahlt etwas Jungenhaftes, Unbeschwertes aus. Er nimmt seine Arbeit ernst. Weil sie ihm Spaß macht. Ihn bei der Arbeit im Plenum zu beobachten, gibt auf den ersten Blick eine Menge Rätsel auf. Er hat es immer eilig, verbringt stets nur exakt fünf Minuten im Plenarsaal, nimmt häufig lieber die Treppe als den Fahrstuhl, um von der Plenarebene in die Präsidialebene zu kommen, schreibt nicht etwa einfach nur sein Stenogramm ab, um sich dann wieder in die Bundestagssitzung zu begeben, sondern recherchiert, telefoniert, schlägt nach, sucht nach treffenden Formulierungen, diktiert. Alles in allem ein kleines Geheimnis.

Henning van de Loo (links) bei der Arbeit.
Henning van de Loo (links) bei der Arbeit.

Rüdiger Weber kann es lüften, das Geheimnis. Er leitet den Arbeitsbereich Plenarsitzungen im "Stenographischen Dienst des Deutschen Bundestages".

1965 hat Rüdiger Weber angefangen, im Deutschen Bundestag zu arbeiten. Das ist also 36 Jahre her, und es interessierte wahrscheinlich nicht nur den Statistiker, wie viele Silben Herr Weber in diesen Jahren zu Papier gebracht, wie viele Reden von Abgeordneten er gehört, wie viele Wortprotokolle er zum Druck gegeben hat. "Bitte", sagt Herr Weber, "bitte keine Klischees. Was Sie von uns sehen, wenn wir im Plenarsaal oder im Ausschuss sitzen, ist doch nur ein Ausschnitt."

Man muss die Sache anders angehen, oben vielleicht, auf der Präsidialebene, wo sich die kleinen Kabinen der Stenografen befinden, Provisorien noch, mit dünnen Wänden und schmalen Tischen. Hier arbeitet auch Hennig van de Loo. Herr Weber legt den Schirm ab, zieht das Jackett aus und gleich wieder an, setzt sich und erklärt, von nun an der Reihe nach vorgehen zu wollen.

Henning van de Loo.
Henning van de Loo.

Der "Stenographische Dienst" – das "ph" im Wort hat im Bundestag die Wirren der neuen deutschen Rechtschreibung überstanden – ist in drei Arbeitsbereiche unterteilt: Plenarsitzungen, Sitzungen von Ausschüssen und Gremien sowie Gewinnung und Ausbildung von Stenografen.

Dem Bereich Plenarsitzungen gehören rund 50 Frauen und Männer an, darunter fünf Auszubildende und bei laufendem Plenarbetrieb auch einige Freiberufler. Es gibt Volkswirte, Germanisten, Volljuristen, Mathematikerinnen, Philologen, Slawisten, Diplomjournalisten, Theologen, Sozialwissenschaftler, Diplomphysiker ... Dies allein sei bereits ein Beweis dafür, sagt Rüdiger Weber, dass die Vorstellungen der Leute oft nicht stimmten. Es handle sich hier nicht um irgendwelche Schreiberlinge, sondern um kluge, hochausgebildete Menschen, die im höheren Dienst arbeiten.

Im Bereich Plenarsitzungen werden die so genannten Wortprotokolle erstellt. Ja, "so genannte", denn das gesprochene, gerufene, eingeworfene Wort einfach so zu Papier zu bringen, täte dem Papier nicht gut, auch wenn Herr van de Loo dann leichteres Spiel hätte, schreibt er doch schneller als ein Nachrichtensprecher redet. Doch dazu später.

Henning van de Loo beim Diktat der Mitschrift.
Henning van de Loo beim Diktat der Mitschrift.

Rüdiger Weber erstellt für jeden Sitzungstag einen Turnusplan. Dieser Plan taktet den Tag in Fünf-Minuten-Stücke. Im Plenarsaal sitzen stets zwei Mitarbeiter oder Mitarbeiterinnen seines Bereiches – ein Turnusstenograf und ein Revisor. Der Turnusstenograf, so einer wie Herr van de Loo, schreibt fünf Minuten lang mit, was gesprochen wird: jedes Wort, jeden Zwischenruf, jede Frage, jede Antwort. Er notiert die Reaktionen und – wenn es für das Verständnis bedeutsam ist – alles, was sonst noch im Saal geschieht. Jeder, der außer dem Redner in diesen fünf Minuten noch etwas äußert, muss identifiziert werden. Schreiben und gucken heißt das also, Namen und Gesichter kennen, in unübersichtlichen Situationen die Ruhe bewahren, schreiben und trotzdem alles im Blick haben. Da sind alle Sinne gefordert. Nun: fast alle. Und geradezu raffinierte Hilfsmittel. So etwas wie die kleine Suchdatei. Informatikkundige Stenografen des Referats haben sie erstellt, um schnell und präzise herauszubekommen, wer einen Satz eingeworfen, einen Zwischenruf gemacht hat.

Der zweite Mitarbeiter im Saal ist der Revisor. Er bleibt eine halbe Stunde – sechs Turnusstenografen lang also – und schreibt ebenfalls mit. Der Revisor ist die erste und wichtigste Kontrollinstanz, wenn es später daran geht, die Fünf-Minuten-Teile zu einem Ganzen zu fügen.

Rüdiger Weber, der den Dienstplan der Stenografen erstellt.
Rüdiger Weber, der den Dienstplan der Stenografen erstellt.

Sind die fünf Minuten vorbei, geht der Turnusstenograf auf schnellstem Wege hoch in seinen Arbeitsraum. Oft sei das eben die Treppe, sagt Henning van de Loo, die zugleich an langen Sitzungstagen ein klein wenig für Bewegungsausgleich sorge. Nun beginnt der schwierigste Teil der Arbeit. Was aufgeschrieben ist, in Kurzschrift, muss nicht nur "übersetzt" werden. Alle Fakten, jedes Zitat, jede Zahl, jede Satzkonstruktion bedürfen der Prüfung. Wie wird der Name des in der Rede genannten Gesprächspartners geschrieben, wo enthält das einer Zeitung entnommene Zitat Auslassungen, stehen im erwähnten Gesetzentwurf an der benannten Stelle wirklich 100 Millionen DM oder hat der Redner aus Versehen eine Null zu viel oder zu wenig genannt? Das ist Schwerstarbeit. Es kann schon sein, dass ein Redner im Eifer des Gefechts einen Zahlendreher produziert, ein Zitat falsch zuordnet, sich in einem allzu langen Satz verirrt und nicht zum Ende kommt. Mündliche Rede eins zu eins aufs Blatt zu bringen, wäre am Ende nicht hilfreich. Für diese Arbeit bleibt Herrn van de Loo eine Stunde. Wenn er von 9.05 bis 9.10 Uhr im Plenarsaal mitgeschrieben hat, beginnt um 10.20 Uhr die nächste Runde. Es bedarf also für die Aufbereitung des Stenogramms nicht nur eines überdurchschnittlichen Allgemeinwissens, man muss auch wissen, wo am schnellsten Informationen zu beschaffen sind, Fakten geprüft, Zitate gegengelesen werden können. Dafür hat man eine Handbibliothek, einen Computer, einen Internetanschluss, eine Tonbandaufzeichnung und ein Telefon zur Verfügung.

Bis zum späten Nachmittag scheint die Sache noch beherrschbar, solange Bibliotheken und Archive geöffnet, Büros, Botschaften und Konsulate besetzt sind. Am Ende wird der vollständige Text der Sekretärin diktiert – Frau Dietrich, mit der Hennig van de Loo zusammenarbeitet, schafft 700 Anschläge in der Minute. Dann muss alles noch mal gegengelesen werden und ist von nun an eines von dutzenden Puzzleteilen, die es am Abend zusammenzufügen gilt zu einem großen Ganzen.

Der Dienstplan der Stenografen.
Der Dienstplan der Stenografen.

Aber noch ist die Geschichte ja nicht zu Ende. Der Kontrolldurchgang nach dem Turnusstenografen entfällt auf den Revisor, der sechs Fünf-Minuten-Protokolle zu überprüfen hat. Mehrmals am Tag. Erst dann wird der Text an den Redner oder die Rednerin geschickt. Dem Abgeordnetenbüro bleiben zwei Stunden Zeit, das Protokoll zu genehmigen. Keine Rückmeldung gilt als Zustimmung.

"Ein Zahnrädchensystem", sagt Herr Weber und ahmt mit den Händen ein kompliziertes Gebilde nach, "das geht den ganzen Tag und oft bis in die Nacht hinein. Manchmal enden die Sitzungen ja erst um 23 Uhr oder noch später. Und dann müssen Sie sich vorstellen: Das gedruckte amtliche Protokoll soll ja immer gleich am nächsten Morgen vorliegen."

Stenogramm.
Stenogramm.

Erst wenn die Kolleginnen und Kollegen schon längst zu Hause sind, müssen Herr Weber und ein weiterer erfahrener Mitarbeiter die gesamte Schlussredaktion bis zur Druckfreigabe bewältigen – oft bis in die tiefe Nacht hinein. Zuvor aber, kurz nach Ende der Plenarsitzung, ist von Rüdiger Weber noch der neue Dienstplan für den kommenden Tag zu erstellen. Der sieht ein wenig wie der Fahrplan eines Regionalzuges aus, mit geheimnisvollen Kürzeln, die nur die Eingeweihten verstehen.

Stenografen, die diese Aufgaben gut und zuverlässig bewältigen, fallen nicht vom Himmel. 260 Silben in der Minute sollen Berufsanfänger bereits schreiben können. Die richtigen Profis müssen viel schneller sein. Je schneller desto besser, denn es gibt Redner, die legen ein unglaubliches Sprechtempo an den Tag. Der Bundestag übernimmt die Ausbildung dieser Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter selbst, das garantiert Qualität.

Handwerkszeug der Stenografen.
Handwerkszeug der Stenografen.

Viele Jahre hat Herr Weber im Plenarsaal gesessen, so wie heute Henning van de Loo, und im Fünf-Minuten-Takt stenografiert. Später kämpfte er als Revisor mit den Tücken des gesprochenen Wortes. Heute ist er verantwortlich dafür, dass alles läuft wie am Schnürchen und an jedem Morgen nach einer Plenarsitzung ein vollständiges Protokoll mit amtlichem Charakter vorliegt. Das erfordert Meisterschaft und höchste Konzentration. Von allen. Es gibt nur einen Punkt, wo es mit der Konzentration bei Herrn Weber nicht klappt. Sein Schirm. Er lässt ihn liegen, wo immer es eine Möglichkeit dazu gibt. Wie auch an diesem Tag.
Kathrin Gerlof

Quelle: http://www.bundestag.de/bp/2001/bp0108/0108085
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