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06/2002
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VORWORT

Wählen – warum eigentlich?

Bundestagspräsident Wolfgang Thierse.

Von Bundestagspräsident Wolfgang Thierse

"Politik interessiert mich nicht" – die Antwort hört man oft, wenn man für die Teilnahme an Wahlen wirbt. Es ist erlaubt, ist eine in der Demokratie mögliche Haltung, sich von den öffentlichen Angelegenheiten fern zu halten, sich um anderes als um Politik zu bemühen.

"Die da oben machen sowieso, was sie wollen" – dieser Satz symbolisiert dagegen eine Abwendung von Politik, die offenbar einer Gefühlslage von Resignation und Protest entspringt.

"Die taugen alle nichts" – dahinter steckt oft ein bekennender Nichtwähler. Er ist oft politisch gut informiert und meint, dass keine der Parteien und keiner der Kandidatinnen und Kandidaten neben seiner eigenen Haltung bestehen könne.

"Was hat das denn mit mir zu tun?", fragen manche Jugendliche, wenn sie begründen sollen, dass sie nicht zur Wahl gehen.

Das sind, vermute ich, die vier Hauptmotive der Nichtwähler, die eine zahlenmäßig immer größere Rolle spielen. Da hilft es nicht zu erklären, dass Wahlenthaltung zu merkwürdigen Ergebnissen führen kann: Oft genug haben Parteien an tatsächlichen Wählerstimmen verloren und trotzdem ihren Anteil an den Stimmen und die Anzahl ihrer Parlamentssitze – damit möglicherweise ihre Macht – gesteigert. Wem es ohnehin gleichgültig ist, wer die Regeln des Zusammenlebens gestaltet, wer sich nicht der Mühe unterziehen will, sich mit seinen Wahl- und Einflussmöglichkeiten zu beschäftigen, wem keines der politischen Angebote gut genug ist und wer nicht versteht, wo seine eigenen Interessen an den öffentlichen Angelegenheiten liegen, dem wird es gleichgültig sein, wer in den Stadträten, Parlamenten und Regierungen das Sagen hat.

Man muss also die verschiedenen Motive der Nichtwählerinnen und Nichtwähler entkräften. Am einfachsten dürfte das bei der Frage sein, was denn etwa der Deutsche Bundestag mit den Interessen der Einzelnen in der Gesellschaft zu tun habe. Das beginnt mit allgemeinen, aber wirksamen Werten und endet bei ganz konkreten Alltagsproblemen. Beispielsweise die Freiheit des Einzelnen von staatlicher Bevormundung: Nur die Demokratie will diese Freiheit garantieren. Wählen gehen wäre eine Unterstützung der Demokratie selbst: "Ja, diese Staatsform will ich, weil sie die freiheitlichste von allen ist, durch meine Stimmabgabe stärken." Es endet bei ganz konkreten Fragen wie etwa nach der Höhe der Rente, der Qualität der gesundheitlichen Versorgung, der persönlichen Sicherheit durch Polizei und Justiz. Will ich, dass meine Versorgung im Krankheitsfalle umfassend ist, oder will ich, dass ich gegen bestimmte Krankheiten, für bestimmte medizinische Leistungen nicht versichert bin? Das sind Alternativen, von denen jeder Einzelne betroffen ist und sich entscheiden kann. "Politik bestimmt in vielen Fällen über meine persönlichen Möglichkeiten mit. Da bestimme ich lieber auch über die politischen Alternativen mit."

Schwieriger wird es schon, das hartnäckige Vorurteil zu entkräften, "die da oben" machten ohnehin, was sie wollten. Die Einsicht in die Notwendigkeit, die Erfahrung, dass diese oder jene Problemlösung die einzige ist, die derzeit möglich ist, bestimmt unsere Entscheidungen im Parlament viel häufiger als das, was der einzelne Parlamentarier für wünschbar hält. Letztendlich ist es immer so, dass politische Entscheidungen mehrheitsfähig sein müssen. Was aber mehrheitsfähig ist, entscheiden die Wähler! Wer nicht wählt, bekommt es vielleicht im Ergebnis – aus seiner persönlichen Sicht – mit den Falschen zu tun, also mit Mehrheiten, die er nicht gewollt hat.

Wem keine Partei gut genug ist, und wer deshalb nicht wählt, verzichtet darauf, derjenigen zu Einfluss zu verhelfen, die seiner eigenen Haltung vielleicht doch am Nächsten kommt. Die Rede vom "kleineren Übel" ist so gesehen gar nicht so falsch. Denn sie verlangt, dass wir uns als Wähler die Mühe machen, herauszufinden, welches Programm und welche Personen den jeweils eigenen Vorstellungen am ehesten entsprechen. Da hat es natürlich jemand, der die Partei seiner Wahl gar nicht für ein Übel hält, etwas einfacher.

Wer sich hingegen gar nicht für Politik interessiert, entzieht sich jeglicher Mühe, an den öffentlichen Angelegenheiten teilzuhaben. Er muss hinnehmen, was dann kommt, ohne seinen eigenen Einfluss geltend gemacht zu haben. Das ist der Verzicht auf ein Bürgerrecht. Das kann ich nur bedauern, denn dass dieses Bürgerrecht völlig mühelos wahrgenommen werden könnte, kann ich nicht versprechen. Politik ist nicht bloß unterhaltend, sondern kostet auch Mühe und Anstrengung. Um diese Mühe bitte ich, denn ohne Demokraten, ohne Wählerinnen und Wähler gibt es keine Demokratie. An der politischen und persönlichen Freiheit, die sie bietet, habe ich in Kenntnis der Alternative Diktatur nämlich auch ein persönliches Interesse.

Quelle: http://www.bundestag.de/bp/2002/bp0206/0206019a
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