Mourad Kusserow
Algeriens steiniger Weg in die Freiheit
Vor 50 Jahren begann in Nordafrika ein
schmutziger Kolonialkrieg
In Algerien begann vor 50 Jahren - am 1. November 1954 - ein
blutiger Kolonialkrieg, mit dem eine 132 Jahre währende
Fremdherrschaft zu Ende ging. Die Wunden dieses fast
achtjährigen "schmutzigen Krieges" sind auch heute noch nicht
verheilt.
Anfang November 1954 gingen in ganz AlgerienBomben hoch, wurden
Polizeistationen, Rathäuser und Kasernen der
französischen Armee überfallen - die Anschläge, von
Paris zunächst nicht ernst genommen, leiteten jedoch das Ende
der französischen Kolonialherrschaft ein: sie wurden von
lediglich 2.400 Kombattanten ausgeführt. Sie gingen auf das
Konto der bis dahin völlig unbekannten Untergrundorganisa-tion
FLN - Algerische Nationale Befreiungsfront - und ihres
militärischen Arme, der ALN - Algerische Nationale
Befreiungsarmee.
Am Ende des Zweiten Weltkrieges hatten Algerien, Marokko und
Tunesien gehofft, dass die feierlich verkündete
Atlantik-Charta der Alliierten auch ihnen das
Selbstbestimmungsrecht bringen würde. Doch wie in Indochina
versuchte Frankreich auch in Nordafrika, sein Kolonialreich zu
retten. Neun Jahre später - nach der Niederlage Frankreichs in
Indochina - brannte der gesamte Maghreb. 1956 verlor Frankreich
Marokko und Tunesien. Paris weigerte sich, Algerien die
Unabhängigkeit zu gewähren: aus staatlichen und
politischen Gründen. Algerien war kein Protektorat wie Marokko
und Tunesien gewesen, sondern bestand - für Paris - aus drei
zur "einen und unteilbaren Republik" zählenden Departements.
Die große Zahl der französischen Siedler - die Colons -
besaßen in Paris erheblichen politischen Einfluss.
Der Krieg, der ganz Algerien erfasst hatte, wurde als
Bewegungskrieg geführt, aus dem keine Partei als
militärischer Sieger hervorging. 1958 stand bereits eine halbe
Million französischer Soldaten in Algerien. Der Einsatz
moderner Kampfflugzeuge, die systematische Anwendung der Folter -
die innerfranzösische Diskussion darüber dauert bis heute
an - sowie die revolutionäre Anti-Guerilla-Kriegsführung
brachten keinen entscheidenden Erfolg. Doch schließlich
scheiterte die französische Kriegsmaschinerie, weil es den
algeri-schen Freiheitskämpfern gelang, die Masse des Volkes
und die internationale öffentliche Meinung auf ihre Seite zu
ziehen.
Frankreich selbst stürzte in heftige innere Unruhen. Die
Algerien-Frage drohte die Nation zu spalten. Unzufriedene
französische Offiziere putschten am
13. Mai 1958 in Algier. Auf dem Höhepunkt der Revolte
gelangte General de Gaulle zum zweiten Mal an die Macht. In ihm
sahen die Putschisten und die hinter ihnen stehenden
europäischen Siedler den letzten Garanten dafür, dass
Algerien als "ewiger Bestandteil" Frankreichs erhalten bleibe. Aber
es war gerade General de Gaulle, der statt der militärischen
die politische Lösung suchte.
Er machte den Franzosen klar, dass sich Frankreich früher
oder später aus der weder wirtschaftlich noch militärisch
vertretbaren Position einer Kolonialmacht zurückziehen
müsse. Die überwiegende Mehrheit der 900.000
französischen Siedler antwortete mit Terror. Sprengladungen
detonierten im ganzen Land, auch in Frankreich wurden Attentate
verübt. General de Gaulle entging nur knapp einem
Mordanschlag. Im April 1961 revoltierten die Generäle Challe,
Zeller, Jouhaud und Salan, die sogar eine Landung in Frankreich ins
Auge gefasst hatten. Der Aufstand der Generäle wurde nach
wenigen Tagen von de-Gaulle-treuen Armee-Einheiten niedergeworfen.
General Salan tauchte unter und gründete die OAS
(Geheimarmee), eine berüchtige Terrororganisation.
Zunehmender OAS-Terror konnte den Lauf der Geschichte nicht mehr
aufhalten. Frankreich, das fast am Rande eines Bürgerkrieges
gestanden hatte - Franzosen schossen auf Franzosen -, fand wieder
zu sich selbst. Der Rückzug des Landes aus Algerien war, wie
es der Schriftsteller André Malraux, der unter General de
Gaulles Kulturminister war, formulierte, "ein Sieg über uns
selbst". Die im Mai 1961 im Schweizer Kurort Evian begonnenen
Geheimgespräche zwischen Paris und dem kämpfenden
Algerien führten zur Unterzeichnung des
Waffenstillstandabkommens am 18. März 1962 in Evian.
In Algerien wurden alle Kampfhandlungen eingestellt, doch die
französischen Siedler, die in der OAS ihre letzte Chance
erblickten, entfesselten nach dem Waffenstillstand einen
terroristischen Untergrundkampf von äußerster
Brutalität. Paris sah sich gezwungen, die französische
Armee einzusetzen. 800.000 Siedler sowie 115.000 algerische Juden,
die seit über 2000 Jahre in der algerischen Diaspora friedlich
mit ihren muslimischen Landsleuten zusammengelebt hatten,
verließen das "Land am Tell" in weniger als drei Monaten.
Am 1. Juli 1962 stimmten die Algerier in einem Volksentscheid
über die Selbstbestimmung ab:
99 Prozent entschieden sich für die Unabhängigkeit
ihrer Heimat "in Zusammenarbeit mit Frankreich". Am 3. Juli 1962
proklamierte General de Gaulle die Unahängigkeit Algeriens.
Doch das Ende des Algerienkrieges brachte der einheimischen
Bevölkerung weder den erhofften Wohlstand noch einen
spürbaren Abbau von Rückständigkeit und
Unterentwicklung.
Dennoch - und das wird oft übersehen - alles, was in
Algerien seit dem Ausbruch des Freiheitskampfes am 1. November 1954
geschah und heute geschieht, muss im Zusammenhang mit der
132-jährigen kolonialen Vergangenheit und dem blutigen
Befreiungskrieg gesehen werden, der eine Million Algerier das Leben
gekostet hat. Bis zum Waffenstillstand am 19. März 1962
gehörte Algerien im Bewusstsein vieler nicht zu Afrika, denn
Afrika begann erst südlich der Sahara. Algerien gehörte
zu Europa, Algerien war ein Stück Frankreich.
Noch heute überschattet der Algerienkrieg das
Verhältnis zwischen Frankreich und Algerien. Lange Zeit galt
der Algerienkrieg in den Augen viele Franzosen als ein
"Polizeiaktion", genannt "Pazifizierung". Man sprach von "den
Ereignissen in Algerien", auf keinen Fall von "Kolonialkrieg" und
"Folter". Doch jetzt, 50 Jahre nach Ausbruch des Algerienkrieges,
der fast acht Jahre gedauerte hatte, ist die Zeit reif, für
eine systematische Aufarbeitung der Geschichte, nicht nur in
Frankreich, sondern auch in Algerien.
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