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Das Parlament
Nr. 04 / 24.01.2005

 
Bundeszentrale für politische Bildung
 

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Bernd Jürgen Wendt

Der deutsche Freund in Versailles

Wiederentdeckung eines großen Textes von John Maynard Keynes

Die anhaltende Kontroverse über den "Keynesianismus" oder "Neokeynesianismus" als Allheilmittel zur Depressionsbekämpfung durch eine nachfragegesteuerte Konjunkturpolitik hat die facettenreiche und interessante Persönlichkeit von John Maynard Keynes fast ganz hinter seiner ebenso gefeierten wie befehdeten Rolle als revolutionärer "Einstein der Ökonomie" sowie als Chefarchitekt der britischen Kriegsfinanzierung und der (dann nicht umgesetzten) Planungen zur Neuordnung des Weltwährungssystems nach dem Krieg verblassen lassen.

Dem gerade gegründeten Berliner Verlag Berenberg sei ausdrücklich Dank dafür, die beiden erstmals 1949 unter dem Titel "Two Memoirs" erschienenen autobiografischen Texte - "Dr. Melchior. Ein besiegter Feind" (Februar 1920) und "Meine frühen Überzeugungen" (September 1938) - auch wieder dem deutschen Publikum zugänglich gemacht zu haben. So besteht die Möglichkeit, sich von dem Menschen und Schriftsteller Keynes, seiner scharfen Beobachtungsgabe, seinem analytischen Verstand, seiner unumstrittenen Kompetenz als Nationalökonom und Finanzpolitiker, seiner breiten Palette von beißender Ironie bis zu feinem Humor in der Schilderung von Menschen und Situationen und vor allem von seiner meisterhaften Feder verzaubern zu lassen.

Die Sorge um die Widerstandskraft von Vernunft und Zivilisation gegenüber den Massenleidenschaften der Moderne trieb ihn zeitlebens um. Sie verbindet auch diese thematisch so disparaten beiden Texte. "Wir wussten nicht, dass die Zivilisation eine dünne und prekäre Kruste ist, die sich kraft der Persönlichkeit und des Willens sehr weniger einzelner gebildet hat und nur durch Regeln und Konventionen intakt bleibt, welche mit Geschick eingerichtet und mit List bewahrt werden."

Immer noch unter dem starken Eindruck der europäischen "Urkatastrophe" von 1914 und bereits im Schatten eines neuen Krieges rechnet Keynes hier im September 1938 nicht nur mit den ihm rückblickend als oberflächlich erscheinenden Überzeugungen seiner Cambridger Studentenzeit ab, sondern auch mit den, wie er meint, allzu leichtgewichtigen, praxisfernen und letztlich unverbindlichen einstigen Glaubensfundamenten der "Bloomsbury Group". Dieser elitäre Zirkel der britischen Bohème führte von 1907 bis in die 30er-Jahre im Londoner Stadtteil Bloomsbury namhafte Verleger, Schriftsteller (Virginia Woolf und L. Strachey) Kritiker, Maler, Philosophen (G. M. Moore) und Wissenschaftler wie R.Trevelyan und eben Keynes zu Diskussionen über kunsttheoretische, ethische, kultur- und sozialkritische Fragen zusammen .

Der Kreis bot Keynes die Plattform zum Vortrag seiner "Two Memoirs". Ein gemeinsames intensives, wenn auch von vielen Rückschlägen begleitetes Ringen um um wirtschaftlich und finanziell vernünftige Reparationslösungen schmiedete auf der Pariser Friedenskonferenz 1919 inmitten einer hysterischen Atmosphäre von Völkerhass und aufgeputschten Kriegsleidenschaften eine einmalige Freundschaft zusammen, die bis zum frühen Tode des deutschen Partners unter den brutalen psychischen Drangsalierungen des braunen Terrors 1933 anhalten sollte:

Hier der "Sieger" Keynes, als Finanzexperte des Schatzamtes der britischen Delegation zugeordnet, dort der "Besiegte", der jüdische Privatbankier und Teilhaber des renommierten Hamburger Bankhauses M. M. Warburg, Dr. C. Melchior, in gleicher Funktion Mitglied der deutschen Delegation. Keynes setzt seinem Freund hier ein literarisches Denkmal, das durch seine menschliche Wärme, seine aufrichtige Achtung und den Geist der Versöhnung gegenüber dem Gegner von einst den Leser sehr berührt.

Beide sollten politisch bald in eine Außenseiterposition geraten: Keynes wurde nicht zuletzt durch seine furiose Abrechnung mit dem Versailler Vertrag in seinem 1919 erschienenen und umgehend ins Deutsche übersetzten Bestseller "Die wirtschaftlichen Folgen des Friedensvertrages" und seinen vorzeitigen Auszug unter Protest aus der britischen Delegation 1919 in den 30er-Jahren als "Appeaser" gegenüber Hitler-Deutschland diffamiert, mit schmuddeligen Anspielungen auf seine angeblich auch Melchior gegenüber gezeigten homoerotischen Neigungen. Die Verweigerung seiner Unterschrift unter das Versailler Diktat rettete Melchior nicht davor, als jüdischer "Novemberverbrecher" mit dem Bannstrahl der antisemitischen Extremisten belegt zu werden.

Dorothea Hauser erleichtert mit ihrer kompetenten Einleitung auch dem interessierten Laien den Einstieg in dieses lesenswerte Buch.

John Maynard Keynes

Freund und Feind. Zwei Erinnerungen.

Aus dem Englischen von Joachim Kalka.

Mit einer Einleitung von Dorothea Hauser.

Berenberg Verlag, Berlin 2004; 126 S., 19,- Euro

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