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Das Parlament
Nr. 21 / 23.05.2005

 
Bundeszentrale für politische Bildung
 

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Almut Lüder

Die Mauer in der Sold-Tüte

15 Jahre Armee der Einheit
Noch in der Nacht zum 3. Oktober 1990 wurden die alten DDR-Fahnen eingezogen. Die Dienst habenden Wachoffiziere tauschten in den Kasernen ihre NVA- (Nationale Volksarmee) gegen die Bundeswehruniform aus. Aus Bundeswehr und NVA sollte die Armee der Einheit werden. Der Leiter des Bundeswehrkommandos Ost, General Jörg Schönbohm, warb bei seinem Dienstantritt einen Tag später bei den Soldaten um Vertrauen: Wir kommen nicht als Eroberer, sondern als Deutsche zu Deutschen.

Offiziere, die für die Staatssicherheit (Stasi) gearbeitet hatten, wurden abgewickelt. Etliche gingen aber auch freiwillig und unaufgefordert. Die schrottreife NVA-Ausrüstung wurde aussortiert, marode Kasernen schrittweise renoviert. Schon bald würdigte der damalige Verteidigungsminister Gerhard Stoltenberg die Entwicklung der neuen Bundeswehr als "Schrittmacher der deutschen Einheit."

Wie denken ehemalige NVA-Angehörige über die Armee der Einheit heute, wie haben sie den Zusammenschluss beider Armeen erlebt, unterscheiden sie sich von den Kollegen aus dem Westen? Fragen wir zwei Bundeswehroffiziere, die den überwiegenden Teil ihrer Dienstzeit in der NVA geleistet haben. Beide stehen kurz vor der Pensionierung, beide waren SED-Parteigenossen, beide machen aus ihren Herzen keine Mördergruben. Thomas Hausmann, Jahrgang 1950, war bei der NVA zuletzt Oberstleutnant und ist heute nach anfänglicher Zurückstufung bei der Bundeswehr wieder Oberstleutnant.

Manfred Usczeck, Jahrgang 1948, war bei der Volksmarine zuletzt Kapitän zur See und ist heute bei der Marine Fregattenkapitän.

Strausberg. Am östlichen Rand von Berlin, noch im Einzugsbereich der S-Bahn. Heute Standort der Bundeswehrakademie, vor der Wende Sitz des Ministeriums für Nationale Verteidigung der DDR. Hausmann erinnert sich, vor der Wende trieben sie im Reliefsaal Kommandostabsübungen und Kriegsspiele auf allerhöchster Ebene sowie im engsten Kreise, wie es bei der NVA hieß. Nach der Wende wurde in dem Saal bis Mitte 1991 die künftige Stationierung der Bundeswehrstandorte im Osten Deutschlands dargestellt. Früher war die Fassade des Baus aus dem Jahr 1985 mit Klinker verkleidet, heute leuchtet sie in königsblauer und weißer Farbe. Die Kennzeichen der Autos auf dem großen Parkplatz deuten auf die Herkunft der Soldaten aus Ost und West hin. Ringsum haben sich Aldi und Lidl angesiedelt. Die Plattenbauten mit den privaten Wohnungen sind weitgehend renoviert. Hausmann blickt zurück auf seine beruflichen Veränderungen nach dem 9. November 1989: "Die Wende war ein gewaltiger Einschnitt." Immer wieder habe er sich kneifen müssen und sich sagen müssen: Das ist die neue Realität. Vieles sei fair gelaufen und durchaus überzeugend, Ergebnisse seien schnell erkennbar gewesen. Manfred Usczeck hingegen hat am Anfang manches nicht wahrgenommen. Die Entwicklung zur Armee der Einheit sei ein Prozess gewesen, darauf legt er Wert.

Die Innere Führung als demokratische Errungenschaft der Bundeswehr nach ihrer Gründung im Jahr 1955 war ein Motor für das Zusammenwachsen beider Armeen nach 1990. Deren eine Säule ist der Staatsbürger in Uniform. Dem Soldaten werden die gleichen Grundrechte zugestanden wie einem Zivilbürger, so sie nicht mit dem militärischen Auftrag kollidieren. Die Innere Führung war ein Leitfaden für die Soldaten in der Armee der Einheit und der Kitt beim Zusammenwachsen beider Streitkräfte: "Das war das erste, was man versucht hat, mir bei zu bringen. So nach dem Motto, du kennst die Innere Führung nicht, du weißt ja gar nicht, was das ist. Warum auch? Ich bin halt in einem anderen System groß geworden", erklärt Usczeck. Er habe eine andere Art der Menschenführung gelernt. In der NVA herrschte das Prinzip Befehl und Gehorsam, in der Bundeswehr werden Aufträge erteilt. Usczeck resümiert: "Die Innere Führung ist sicherlich ein Grund dafür, weshalb es die Bundeswehr leichter hatte mit der Einheit als andere Bereiche."

"Für mich ist es heute noch ein kaum erklärbares Wunder, dass ausgerechnet die Soldaten, die zum Hass aufeinander erzogen wurden, sich relativ schnell geeinigt und verstanden haben", stimmt Usczeck Stoltenbergs Schrittmacher-These auch aus menschlicher Sicht zu. Die hohe Gefechtsbereitschaft in der NVA mit einer ständigen Präsenz der Soldaten von mindestens 85 Prozent in den Kasernen für den Fall eines Krieges habe nur durch die Erziehung zum Hass auf den Feind im Westen funktioniert, weiß Usczeck noch sehr genau. Der Sohn eines Marinesoldaten aus Vorpommern habe damit keine Probleme gehabt. Er wäre sogar so weit gegangen, für die Staatssicherheit zu arbeiten, wenn man ihn herangetreten wäre. "Das hätte ich für mein Vaterland getan", gibt er freimütig zu. Heute sei er mit den Kameraden, die für die Stasi gearbeitet haben, nicht mehr befreundet. Wahrscheinlich der Grund, weshalb man ihn nicht um eine Zusammenarbeit geworben hat.

Usczeck erinnert sich, wie das tiefe Feindbild vom Westen allmählich abgelegt wurde. Er spricht vom Abtasten, vom vorsichtigen Annähern an den früheren "Feind". "Als man merkte, das waren Menschen wie du und ich, die nicht mit dem Messer im Mund nur darauf warteten, einem den Dolch in den Rücken zu stechen, sondern genauso arbeiteten, wie wir das auch gemacht haben, wurde das Verhältnis zu den West-Offizieren besser. Später haben mir Soldaten aus anderen Nationen gesagt, Soldaten machen auf der ganzen Welt den gleichen Job." Schuld daran, wenn aufeinander geschossen werde, sei die Politik. Deshalb erwarte man von ihr, dass sie verantwortungsvolle Entscheidungen trifft. Schließlich hängen daran Menschenleben.

Usczecks Aufgaben in Strausberg bestehen heute unter anderen darin, in Seminaren NATO-Partnern als Vorbereitung für einen gemeinsamen Einsatz die Bundeswehr zu erklären sowie deutsche Geschichte und Mentalität zu erläutern. Zum Berlinprogramm der Seminarteilnehmer gehören auch ein Besuch des Stasi-Untersuchungsgefängnisses in Hohenschönhausen und die Stasi-Zentrale in der Normannenstraße. Besonders das Stasi-Untersuchungsgefängnis ist der Beweis, mit welcher Widerwärtigkeit erklärte oder tatsächliche Systemgegner gequält und unter Folter zu Geständnissen gezwungen wurden. Betroffene übernehmen dort die Führungen durch den Terrorapparat. "Davon habe ich nichts gewusst", beteuert Usczeck heute. Ob diese Erkenntnis für ihn die DDR im Nachhinein relativiert habe? "In dieser Hinsicht ja."

Kurz nach der Wende wurde Usczeck sehr bald stellvertretender Kommandeur in Rostock, später Kommandeur in Glücksstadt nordwestlich von Hamburg. Anfangs kündigten Soldaten an, lieber von der Bundeswehr wegzugehen, als sich von einem NVA-Offizier kommandieren zu lassen. "Ich versichere, keiner hat meinetwegen die Bundeswehr verlassen. Sie haben schnell erkannt, dass ich von meinen fachlichen, militärischen und menschlichen Leistungen gut rüberkomme. So habe ich es zumindest empfunden. Es war für mich die schönste Zeit." Er habe einige Freunde in dieser Zeit gefunden, zu denen er nach wie vor Kontakt habe.

Hausmanns Erfahrungen verliefen in ähnlichen Wellenbewegungen. Er erinnert sich, wie im September 1990 ein Oberstleutnant der Bundeswehr an seine Bürotür klopfte und ihn um seine Hilfe bat. "Das war für mich die Schlüsselbegegnung zwischen einstigen Feinden." Hausmann verschlug es von Strausberg zunächst in den Berliner Westen nach Steglitz und dann für dreieinhalb Jahre nach Köln. "Das war überall sehr angenehm. Ich habe immer gesagt, wer ich war. Es hat sich niemand unfair verhalten. Meine Fähigkeiten sind immer geachtet worden, ich habe aber auch nie die Auseinandersetzung gescheut. Ich habe unter den Soldaten aus dem Westen viele Kameraden und Freunde gewonnen", sagt der Vater zweier Kinder, der in Mos-kau zum Militärwissenschafter ausgebildet wurde. Die Unterschiede zwischen Soldaten Ost und West seien als Kollegen heute nicht mehr auszumachen. In der Truppe funktioniere die Zusammenarbeit gut.

Trotzdem brodelt es in Hausmann gewaltig. Umso mehr, je näher er auf die Pensionsgrenze zugeht. Wenn er in knapp drei Jahren aus der Bundeswehr ausscheiden wird, beträgt sein Ruhegehalt nicht 75 Prozent seines jetzigen Gehaltes wie bei einem Westoffizier sondern etwas mehr als 50 Prozent. Seine 22 Jahre Zugehörigkeit zur NVA werden nicht in der gleichen Höhe berechnet wie die Jahre bei der Bundeswehr nach der Wende - teilweise im Westen. Wie ein Sprecher des Bundesverteidigungsministeriums mitteilte, geht das auf eine Grundentscheidung im Eini-gungsvertrag zurück, wonach alle DDR-Biografien gleich behandelt werden sollen. "Die im Sonderversorgungssystem der ehemaligen NVA erworbenen Anwartschaften wurden deshalb in die gesetzliche Rentenversicherung übergeleitet." Ein Berufssoldat der Bundeswehr mit NVA-Vordienstzeiten erhalte ein Ruhegehalt für die Zeit in der Bundeswehr und regelmäßig ab dem vollendeten 65. Lebensjahr. Des Weiteren erhält er eine Altersrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung, insgesamt jedoch nicht mehr als 71,75 Prozent des Gehalts. Wann es zu einer Angleichung bei den Ruhegehältern von Berufssoldaten mit NVA-Vordienstzeiten und den übrigen Berufssoldaten kommen wird, dazu Bundesverteidigungsminister Peter Struck (SPD): "Im Fall der Ruhegehälter wurde durch den Einigungsvertrag verbindlich eine Regelung festgelegt. Berufssoldaten mit NVA-Dienstzeiten erhalten ein Ruhegehalt für die Zeit in der Bundeswehr und eine Altersrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung für die Dienstzeiten in der NVA. Auch wenn diese Entscheidung aus heutiger Zeit nicht jedem einleuchtet, gilt der Einigungsvertrag auch in diesem Fall!"

Hausmann stellt verbittert fest: "Die Armee der Einheit ist eine Losung für mich. Die NVA ist am 2.Oktober 1990 aufgelöst und von der Bundeswehr aufgesogen worden. Wir sind Deutsche zweiter Klasse." Seine Jahre in der NVA galten bis vor wenigen Tagen nach Paragraf 8 des Wehrpflichtgesetzes als "gedient wie in fremden Streitkräften". Zwar ist der Passus nun abgeändert worden in "Wehrdienst außerhalb der Bundeswehr", dennoch kritisiert Hausmann: "Diese Formulierung ist zutreffender als die vorherige. Jedoch ändert sie nichts an der Tatsache, dass im Jahre 15 der Deutschen Einheit wir mit der wirtschaftlichen Einheit der Menschen immer noch nicht weiter gekommen sind." Für Hausmann gilt: Die Armee der Einheit hat noch lange nicht einen Status quo erreicht, obwohl es doch im Artikel 3 des Grundgesetzes heißt: "Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich."

Im Moment scheinen allen Verantwortlichen die Hände gebunden zu sein. Der gerade ausgeschiedene Wehrbeauftragte Willfried Penner war über die unterschiedliche Besoldung stets unglücklich. Der Beauftragte für Sonderaufgaben Werner E. Ablaß lässt keine Gelegenheit aus, um auf diesen Zustand aufmerksam zu machen. Das Verteidigungsministerium argumentiert: "Die regionale Differenzierung in der Besoldung zwischen den alten und neuen Bundesländern auf der Grundlage des Bundesbesoldungsgesetzes hat das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 12. Februar 2003 ausdrücklich bestätigt. Die Aufrechtherhaltung zweier verschieden hoher Besoldungen ist danach im Hinblick auf die allgemeinen wirtschaftlichen und finanziellen Verhältnisse in den neuen Ländern noch gerechtfertigt, weil insbesondere die Wirtschaftskraft und die finanzielle Leistungsfähigkeit aller neuen Länder weiterhin deutlich hinter den alten Bundesländern zurückbleiben."

Hausmann und Usczeck hätten sich im Jahr 15 der Deutschen Einheit gewünscht, dass die Gehälter und Pensionen Ost den westlichen endlich angeglichen werden. Erst wenn es dazu kommt, dass die Einheit nicht nur unter den Menschen und den beiden Armeen sondern auch in der Besoldung erreicht sein wird, werden die beiden erst von einer rundherum gelungenen Armee der Einheit sprechen können.


Almut Lüder arbeitet als freie Journalistin in Berlin.

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