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Das Parlament
Nr. 30 - 31 / 25.07.2005

 
Bundeszentrale für politische Bildung
 

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Wolfgang Hanneforth

Sind wir so frei wie wir glauben?

Hirnforschung und Willensfreiheit

Das Thema "Willensfreiheit" ist uralt und doch immer wieder neu. Bestimmt der Mensch kraft seines Willens und seines Urteilens sein Handeln oder sind es äußere Umstände, die alles menschliche Tun determinieren? Schon die Philosophen der Antike, die Theologen des Mittelalters und nun - in der Neuzeit - die Naturwissenschaftler gemeinsam mit den Philosophen beschäftigt(e) die Frage, ob dem Menschen ein freier Wille zugesprochen werden kann.

Bestimmt das Sein das Bewusstsein? Ist der freie Wille eine Illusion, die uns das Gehirn nur vorgaukelt? Ist Entscheidungsfreiheit eine Täuschung, die sich in Hirnprozessen und -strukturen nirgends widerspiegelt? Ist mein "Ich" oder aber ist mein Gehirn für mein Handeln verantwortlich?

Diese sehr spekulative Diskussion wird mehr und mehr von Erkenntnissen der Naturwissenschaften beeinflusst, ja in gewisser Hinsicht auch "versachlicht". In dem von Christian Geyer herausgegebenen Bändchen kommen dazu nahezu 30 Autoren zu Wort. In wenigstens der Hälfte dieser Beiträge wird auf ein offenbar als bahnbrechend empfundenes Experiment von Benjamin Libet, em. Professor für Neurophysiologie am Center for Neuroscience an der University of California at Davis, Bezug genommen. Erfreulicherweise ist eine Übersetzung dieser Untersuchung mit dem Titel "Haben wir einen freien Willen?" ebenfalls abgedruckt.

Seine Ergebnisse sind kurz zusammengefasst: Freien und bewussten Handlungsentscheidungen geht eine spezifische elektrische Veränderung (Bereitschaftspotenzial = BP) im Gehirn voraus, die 550 ms (Millisekunden) vor der Handlung einsetzt. Die menschlichen Versuchspersonen wurden sich ihrer Handlungsintention erst 350 - 400 ms nach Beginn eines BP und circa 200 ms vor der motorischen Handlung bewusst. Eine Entscheidung findet demnach - so folgert Libet - im Gehirn statt, ehe Handeln und eine Entscheidung, ein Wille zum Handeln der Person bewusst werden.

Lernvoraussetzungen

Hirnforscher, allen voran Wolf Singer vom Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt/M. und Gerhard Roth, Professor für Verhaltensphysiologie in Bremen, vertreten vehement die Auffassung: Unser bewusster Willensimpuls ist eher etwas wie ein Ratifizieren einer Entscheidung, die das Gehirn längst zuvor getroffen hat. Hochentwickelte Wirbeltiergehirne - eine Nervenzelle der Großhirnrinde hat 10.000 bis 20.000 verschiedene Eingangsverbindungen - seien hochorganisierte, distributiv organisierte Systeme, in denen eine riesige Zahl von Operationen gleichzeitig ablaufe. Alles Lernen beschränke sich auf die Veränderung der Effizienz bestehender Verbindungen.

Dabei gebe es keine Kommandozentrale oder irgendwie geartete Konvergenzzentren, über und durch die sich klare Festlegungen für bestimmte Handlungsoptionen entwickeln könnten. Dem bewussten Erleben gehen demnach notwendige und offenbar auch hinreichend unbewusste neuronale Geschehnisse voraus: solche unbewusst innerhalb oder außerhalb der Großrinde ablaufenden Prozesse führten zu Handlungsvorbereitungen, die das Gefühl hervorbringen "ich will jetzt etwas tun". Unsere Handlungsintentionen würden so häufig erst nachträglich den tatsächlichen Handlungen angepasst. Diese Aussagen der Hirnforscher gipfeln in dem Satz: "Nicht ich, sondern mein Gehirn hat entschieden."

Noch Schuldzuweisungen?

Konsequenterweise hätte somit auch die Rechtsprechung die geltende Praxis im Lichte der Erkenntnisse der Hirnforschung zu überprüfen: Gibt es überhaupt noch eine Schuld, wenn das Handeln determiniert ist und einer Handlung keine freie Entscheidung zugrunde liegt? Die Mehrheit der Autoren setzt den Deterministen, die die Willensfreiheit leugnen, ihre Sichtweise des Indeterminismus entgegen:

Schon allein der Tatbestand, dass Hirnforschung noch immer sehr viel mit Nichtwissen als mit Wissen zu tun habe, sollte nicht übersehen werden: weder die genaue Anordnung der Nervenzellenverbindungen in der Großhirnrinde noch deren funktionelle Gewichtung seien hinlänglich bekannt. Ein völliges Rätsel sei, wie die enorme Plastizität des Gehirns - unter geeigneten Bedingungen und durch Üben können nach aktuellen Untersuchungen sogar neue Nervenzellen nachwachsen - mit der relativen Stabilität und Wahrnehmung zusammenhänge. So seien die Gehirne mit ihrem inhärenten Vermögen, unvorhergesehen oder offen zu reagieren, außerordentlich komplexe Systeme, mit denen eine Determinierung derzeit auch nicht annähernd zu begründen sei.

Das Vorhandensein eines Bereitschaftspotenzials sei noch kein geeigneter Indikator dafür, dass wir nicht mehr willentlich auch anders hätten handeln können und durch Vorentscheidungen des Gehirns determiniert seien. So seien die Experimente von Libet nicht geeignet, Determiniertheit zu beweisen - allerdings auch nicht, Willensfreiheit zu bestreiten.

So bleibt die alte und wieder neue Streitfrage nach der Willensfreiheit weiterhin offen. Vielleicht bringt der jüngst vorgestellte "stärkste Kernspintomograph Europas" neue Erkenntnisse? Solange sind die Leser frei(!?), sich für die lohnende Lektüre des anspruchsvollen Bändchens zu entscheiden und sich mit dem aktuellen Stand der Argumentation zum Pro und Contra von Willensfreiheit auseinanderzusetzen.


Christian Geyer (Hrsg.)

Hirnforschung und Willensfreiheit.

Zur Deutung der neuesten Experimente

edition suhrkamp, Frankfurt/M. 2004; 295 S., 10,- Euro

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