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Das Parlament
Nr. 30 - 31 / 25.07.2005

 
Bundeszentrale für politische Bildung
 

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Marco Heinen

Hauptschule - ein Auslaufmodell?

Die doppelt Benachteiligten

Anfang des Jahres sorgte eine Hauptschule in Berlin-Kreuzberg für Furore: Unter den 339 Schülern waren nur fünf deutsche Kinder. Auch an einigen Nachbarschulen erreichte der Anteil der Migrantenkinder etwa 85 bis 90 Prozent. Dass dies den Leistungsschnitt nach unten zieht, weil schlechte Deutschkenntnisse und mangelnde soziale Integration nicht eben lernfördernd wirken, ist bekannt. Und solche Beispiele scheinen denjenigen Kritikern Recht zu geben, die die "Restschule" am liebsten ganz abschaffen würden.

Die Wissenschaftlerin Gundel Schümer vom Berliner Max-Planck-Insitut für Bildungsforschung hat sich mit der sozialen Komponente beschäftigt und ihre Erkenntnisse in dem Aufsatz "Zur doppelten Benachteiligung von Schülern aus unterprivilegierten Gesellschaftsschichten im deutschen Schulwesen" zusammengefasst. Schüler, die unter ungünstigen Umständen lebten, seien im Vergleich zu ihren Altersgenossen aus privilegierten Familien mehr oder weniger stark benachteiligt und hätten schlechtere Bildungschancen, so Schümers These. Sie seien "aufgrund ihrer Herkunft noch einmal benachteiligt, wenn sie - selektionsbedingt - Schulen mit hohen Anteilen an Schülern besuchen, die ebenfalls unter ungünstigen familiären Bedingungen aufwachsen und - diesen Bedingungen entsprechend - bislang wenig erfolgreich in der Schule gewesen sind", schreibt die Erziehungswissenschaftlerin.

Zu einer "sozialen Entmischung" der Schülerschaft komme es vor allem in jenen Bundesländern, in denen die Integrierte Gesamtschule parallel zur Hauptschule angeboten werde. Die Hauptschüler dürften dort, so Schümer, "sehr wohl wissen, dass sie zu einer Minderheit gehören, die bislang wenig erfolgreich in der Schule war" und auch, dass "ihre Chancen eine Lehrstelle oder einen gut bezahlten Job zu finden, geringer sind als für Schüler, die von Schulen einer anderen Schulform kommen". Die Expertin schlussfolgert, dass daraus wohl kaum positive Einstellungen zur Schule und zum Lernen resultieren können. Treffe diese Vermutung zu, dann sei es mit größeren Anstrengungen der Lehrer nicht getan, sondern es müssten strukturelle Änderungen vorgenommen werden, vermutet die Wissenschaftlerin.

"Ich glaube nicht, dass die Hauptschule auf Dauer ein erfolgreiches Modell ist", stellte auch Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn (SPD) Ende 2004 angesichts der mittelmäßigen deutschen PISA-Ergebnisse fest. Sie zweifelt, "ob die frühe Auslese von zehnjährigen Kindern nach der vierten Klasse der richtige Weg ist". Widerspruch kam von der damaligen Vorsitzenden der Kultusministerkonferenz, der rheinland-pfälzischen Bildungsministerin Doris Ahnen (SPD). Die PISA-Studie lasse weder Argumente für ein integriertes noch für ein gegliedertes Schulsystem erkennen; vielmehr müssten die Bundesländer nach ihren unterschiedlichen Voraussetzungen individuelle Lösungen finden, so die Ministerin.

Sie will nicht alle Hauptschulen in einen Topf werfen. Zu groß seien die Unterschiede zwischen dem ländlichen Raum und den Ballungszentren. In Rheinland-Pfalz gebe es überdies bereits mehr als 80 Regionale Schulen - zusammengelegte Haupt- und Realschulen- und etwa 20 Integrierte Gesamtschulen. Es komme auf den Willen der Eltern an, von denen sich einige eher ein integriertes Angebot wünschen, während andere das stärker gegliederte Angebot vorzögen. "Das sind beides legitime Wünsche", so Ahnen. Sie will die Hauptschulen offensiv unterstützen und in ihrem Auftrag stärken. Und dies sei, "Menschen zur Ausbildungsreife zu führen". Als Maßnahmen nennt sie eine stärkere Berufsorientierung, einen frühen Praxisbezug und mehr Schulsozialarbeit. Auch komme den Ganztagsangeboten eine Schlüsselrolle zu. Vor allem aber wendet sich Ahnen gegen die Hauptschuldiskussion an sich. "Es wird über die Schulart diskutiert, aber wir müssen über die Schülerinnen und Schüler diskutieren", sagt sie. Eine Debatte über die Schulstruktur zu führen, dafür sei jetzt nicht die Zeit, weil es dringendere Probleme zu lösen gebe.

Ernst Rösner vom Institut für Schulentwicklungsforschung der Universität Dortmund hält letzteres für ein vorgeschobenes Argument. Die Abschaffung der Hauptschule werde vor allem von Gymnasial- und Realschulehrern bekämpft. Dabei gehe es ihnen jedoch nicht um die Hauptschule, sondern darum, dass sie in einem solchen Fall ihre eigene Rolle neu definieren müssten. Rösner selbst ist für die sukzessive - mindestens zehn Jahre in Anspruch nehmende - Einführung von Gemeinschaftsschulen, wie er sie nennt. Sie soll alle Schüler der Sekundarstufe I aufnehmen und als integriertes System aller drei Bildungsgänge organisiert werden, in dem die verschiedenen Abschlüsse der Sekundarstufe I erreicht werden können. "Die Gemeinschaftsschule ist allerdings keine bloße Addition bislang unverbundener Bildungsgänge, sondern vielmehr ein Rahmen für eine veränderte pädagogische Praxis", heißt es in einer Zusammenfassung seiner Studie zur Schulentwicklung in Schleswig-Holstein.

Die Studie war Grundlage für die Reformpläne, mit denen die ehemalige Kieler Landesregierung unter Heide Simonis (SPD) in die Landtagswahl im März gezogen war. Rösners Modell lehnt sich an das der Regionalen Schulen in Rheinland-Pfalz und der Regelschulen in Thüringen an und zielt darauf ab, "eine Differenzierung nach Bildungsgängen hinauszuschieben oder gänzlich aufzugeben". Einen wesentlichen Grund für die Trennung vom dreigliedrigen Schulsystem ist nach Rösners Auffassung der zu erwartende Rückgang bei den Schülerzahlen, der vor allem im ländlichen Raum Schulschließungen nach sich ziehen werde.

Rösner vergleicht das Schulsystem mit einem Markt. "Und die Hauptschule wird nicht mehr nachgefragt", sagt der Wissenschaftler. Aus über viele Jahre durchgeführten Elternbefragungen wisse man, dass Eltern für ihre Kinder stets einen besseren Schulabschluss anpeilten, als sie ihn selbst erreicht haben. Inzwischen sei diese Dynamik nicht mehr aufzuhalten. Auch habe die Zahl der Berufe zugenommen, für die mindestens ein mittlerer Abschluss Voraussetzung ist. Vielfach würden Gymnasiasten hierbei schon in Konkurrenz zu den Realschülern treten. "Für die Hauptschule bleibt da nicht mehr viel übrig", meint Rösner.

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