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Jochen Hippler
Eine atmosphärische Entspannung ist immerhin
erreicht
Pakistan, Indien und die
Kaschmir-Frage
Der Streit zwischen Indien und Pakistan um Kaschmir ist so alt
wie die Länder selbst. Er entstand im Kontext der Teilung des
kolonialen Britisch-Indien in einen pakistanischen und indischen
Staat, die 1947 von London unabhängig wurden. Das damalige
Fürstentum Kaschmir wurde von einem hinduistischen Maharadscha
beherrscht, während die Bevölkerungsmehrheit muslimisch
war. Als der Herrscher seine Option der Unabhängigkeit nicht
durchzusetzen vermochte und unter pakistanischen Druck geriet,
erklärte er den Beitritt zur Indischen Union. Da zuvor
vereinbart worden war, dass die muslimischen Gebiete pakistanisch
und die hinduistischen indisch werden sollten, führte dies zum
Streit zwischen den neuen Ländern.
Allerdings handelte es sich nicht einfach nur um einen Konflikt
um Territorium, er reichte wesentlich tiefer. Die Trennung
Pakistans von Indien stellte einen traumatischen Moment in der
Geschichte des Subkontinents dar. Sie war mit ethnischen
Säuberungen und grauenvollen Massakern verbunden und hatte
mehrere Millionen Flüchtlinge und Hunderttausende von Toten
zur Folge. Der Kaschmir-Konflikt war Teil dieses höchst
schmerzhaften Gründungsprozesses beider Staaten und gewann
deshalb besondere emotionale Bedeutung. Zugleich traf er den Kern
des Gründungsmythos Pakistans: Dieses Land war als Heimat
aller Muslime des Subkontinents gegründet worden. Nun der
mehrheitlich muslimischen Bevölkerung Kaschmirs gegen ihren
Willen den Beitritt zu Pakistan zu verweigern, rührte an die
pakistanische Identität und schien die Abspaltung im
Nachhinein dramatisch zu rechtfertigen, da dies die Feindseligkeit
"der Inder" gegenüber "den Muslimen" zu bestätigen
schien.
Die staatliche Existenz begann also für beide Staaten mit
einem mehrfachen Trauma: Einmal dem der gewaltsamen Teilung selbst,
dann mit dem symbolträchtigen Konflikt um Kaschmir und
schließlich mit dem sofort beginnenden Krieg um die Region
(1948), der zu der im Wesentlichen noch heute gültigen
Waffenstillstandslinie führte. Seitdem wird die
bevölkerungsreiche Südosthälfte als Teil der
Indischen Union von Indien, die nordwestliche Hälfte von
Pakistan kontrolliert. Der UN-Sicherheitsrat entschied damals, dass
das dauerhafte Schicksal Kaschmirs aufgrund eines Referendums der
Bevölkerung entschieden werden müsse - das bis heute
nicht stattfand.
Der Kaschmirkonflikt stellte sicher, dass die Beziehungen
Indiens und Pakistans zueinander dauerhaft feindselig blieben und
beide Länder nie zu einer konstruktiven, kooperativen
Nachbarschaft fanden. Zwei weitere Kriege um das Gebiet (1956,
1965) sowie der Krieg um Ostpakistan, das spätere Bangladesch
(1971), sorgten für eine Vertiefung der Feindschaft.
1987 änderte sich der Kontext der Auseinandersetzungen, als
nach einer manipulierten Wahl im indischen Teil Kaschmirs ein
Aufstand gegen Indien begann, den die indischen Streitkräfte
mit großer Brutalität bekämpften. Rund eine halbe
Million Soldaten sind seither dort stationiert. Die Opferzahlen
unter der Bevölkerung sind umstritten, dürften aber
zwischen 40.000 und 100.000 Toten liegen. Pakistan nutzte die
Chance, politischen und zum Teil militärischen Druck auf den
übermächtigen Nachbarn auszuüben, indem es
politische, propagandistische und auch militärische Hilfe
leistete, wenn letzteres auch bestritten wurde. Seit 1986 kam es
ebenfalls immer wieder zu Gefechten der Streitkräfte am
Siachen-Gletscher. Bis zur Mitte der 90er-Jahre hatte die indische
Regierung mit ihrer Politik der harten Hand den Aufstand zwar nicht
niedergeschlagen, aber in die Defensive gedrängt, auch wenn
die Gewalt in Kaschmir weiterging.
Die Jahre 1998 und 1999 brachten eine dramatische
Verschärfung der Lage. Im Mai 1998 unternahm Pakistan (wie
auch Indien) eine Serie von Atomwaffentests in seiner Provinz
Belutschistan, nahe der afghanischen Grenze. Damit hatte das Land
demons-triert, dass das Atomwaffenmonopol Indiens (seit den
70er-Jahren) nicht länger bestand. Die eindeutige
konventionelle Überlegenheit Indiens war zwar nicht
aufgehoben, aber weit schwerer nutzbar. Das pakistanische
Kalkül bei den Atomtests, die dem Land international viel
Kritik einbrachten, lag neben dem Anspruch auf strategischer
Gleichrangigkeit zum Erzfeind auch darin, die
zurückgedrängte Kaschmir-Frage internationalisieren zu
wollen: Wenn sich zwei Atomwaffenstaaten im Streit um Kaschmir
gegenüberstanden, könnte die internationale Gemeinschaft
nicht länger untätig bleiben, so das Kalkül.
Als dieses nur in geringem Maße aufging, eskalierte die
pakistanische Regierung im Frühjahr 1999 den Konflikt. Mitten
im Winter hatten pakistanische "Freiwillige" und militärisches
und paramilitärisches Personal die Himalaya-Pässe
heimlich überschritten, das indische Grenzgebiet in der Gegend
von Kargil infiltriert und indische Befestigungen auf den
Berghöhen besetzt, die im Winter geräumt worden waren.
Von dort begannen die Eindringlinge im Mai mit dem Beschuss einer
wichtigen Verbindungsstraße im Tal. Indien widerstand der
Versuchung, eine zweite Front in güns-tigerem Gelände zu
eröffnen (etwa im flachen Pandschab), und begann unter
schwersten topographischen und meteorologischen Bedingungen mit der
Rückero-berung der Berggipfel, was zu schweren Verlusten
führte.
Schließlich zog Pakistan aufgrund des wachsenden
internationalen Drucks seine Einheiten aus der indischen Seite
Kaschmirs zurück. Wenngleich Pakistan durch die Operation
einen militärisch-taktischen Erfolg erzielt hatte, so waren
die politischen Kosten hoch. Man stand als Unruhestifter am Pranger
und hatte erneut das eigentliche Ziel nicht erreicht, den
Kaschmirkonflikt zu internationalisieren und so Positionsgewinne zu
erzielen. Das Ergebnis des Kargil-Abenteuers bestand darin, die
Beziehungen beider Länder auf einen neuen Tiefpunkt
abzukühlen, der vorherige Entspannungsversuche zerstörte
und zu einer Phase des tiefen Misstrauens und des diplomatischen
Stillstands führte. Bei einem Gipfeltreffen im Juli 2001 war
die Atmosphäre noch so frostig, dass man sich nicht einmal auf
eine gemeinsame Erklärung einigen konnte. Im Jahr 2002 kam es
zu einem Beinahe-Krieg, als sich rund eine Million Soldaten zehn
Monate lang an der Grenze drohend gegenüberstanden.
In diese Phase der Konfrontation fiel der Militärputsch in
Pakistan 1999, bei dem der zivile, korrupte Ministerpräsident
Nawaz Sharif gestürzt und durch Generalstabschef Pervez
Musharraf ersetzt wurde. Beide allerdings trugen Verantwortung
für die Eskalation um Kargil: Sharif hatte sie angeordnet,
Musharraf militärisch vorbereitet.
Seit Januar 2004 kam es zu einer Entspannung des
indisch-pakistanischen Verhältnisses. Präsident Musharraf
und der damalige indische Präsident Atal Behari Vajpayee
leiteten einen Prozess der Normalisierung der Beziehungen ein und
sprachen auch über Möglichkeiten einer Beilegung des
Kaschmir-Konfliktes. Es kam zu kleinen Symbolen der
Verständigung, etwa am Rande von Cricket-Spielen. Im Oktober
2004 erklärten der neue indische Ministerpräsident Singh
und Musharraf, dass sie eine "friedliche Verhandlungslösung"
anstrebten, zwei Wochen später legte der pakistanische
Präsident nach: Er verlangte in Pakistan eine "nationale
Debatte" um Kaschmir und schlug unter anderem eine
Demilitarisierung der Region vor. Weitgehend und überraschend
waren seine Vorschläge, darüber hinaus verschiedene
Optionen zu diskutieren, die eine Unabhängigkeit Kaschmirs
oder eine gemeinsame Kontrolle nicht ausschließen
dürften. Diese Äußerungen stellten einen Bruch mit
bisherigen pakistanischen Positionen dar, die immer auf einen
Anschluss Kaschmirs gezielt hatten. Als offensichtliche Reaktion
kündigte Indien im November 2004 eine begrenzte
Truppenreduzierung in Kaschmir an.
Im Februar 2005 vereinbarten die Außenminister Singh und
Kasuri, ab April eine Bus- und eine Zugverbindung zwischen Indien
und Pakistan einzurichten. Zehn Tage nach Eröffnung der
Busverbindung erklärte der pakistanische Präsident, dass
der Friedensprozess zwischen beiden Ländern nun "unumkehrbar"
sei, und dass man "vom Konfliktmanagement zur Konfliktlösung
übergehen" werde. Darüber hinaus sprach er davon, dass
eine größere Autonomie Kaschmirs in Indien einen
wichtigen Beitrag zur Konfliktlösung leis-ten könne -
eine zumindest implizit neue Entwicklung.
Das Ergebnis dieses Entspannungsprozesses bleibt bisher im
Atmosphärischen. Zwar hat sich vor allem im letzten Jahr eine
positive Entwicklung beobachten lassen, insbesondere eine
größere Flexibilität auf pakistanischer Seite, aber
durchaus auch erste positive Reaktionen Indiens. Bereits die
Rücknahme der militärischen Konfrontationsstellung an den
Grenzen ist Anlass zu Hoffnung. Aber davon und den kleinen
symbolischen Gesten abgesehen ist substanziell kaum etwas erfolgt,
das die tiefliegenden Ursachen des Konfliktes lösen
könnte. Es ist auch nicht ausgemacht, dass die pakistanische
Regierung ihre neue Verständigungsbereitschaft und
Flexibilität wird durchhalten können. Sie ist in der
eigenen Gesellschaft weitgehend isoliert, aus innenpolitischen
Gründen und wegen der engen Bindung an Washington, wird aber
teilweise auch wegen der neuen Kaschmir-Politik heftig kritisiert.
Auch hat sich in den letzten Wochen das Klima zwischen beiden
Ländern erneut verschlechtert. Indien wirft Pakistan wieder
Unterstützung von Aufständischen in Kaschmir und eine
unzureichende Sicherung von Nuklearanlagen vor. Umgekehrt beschwert
sich Pakistan über unzureichende Angebote Indiens zur
Lösung des Konfliktes.
Eine Gefahr besteht auch darin, dass die internationale
Gemeinschaft glauben könnte, das Problem ignorieren zu
können oder schon für gelöst zu halten. Die
Ankündigung der US-Regierung, moderne F-16-Kampfflugzeuge an
Pakistan und Indien und Nukleartechnologie an Indien zu liefern,
setzt hier ein fragwürdiges Zeichen. Im Jahr 2004 haben sich
zum ersten Mal Ansätze zur Lösung des jahrzehntelangen
Konfliktes abgezeichnet. Das ist noch nicht viel, aber kann Chancen
eröffnen. Nun hängt alles von zwei Faktoren ab: der
Innenpolitik der beiden Kontrahenten und der Frage, ob die
regionale Entspannung international unterstützt wird.
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