*) Eingesetzt durch Beschluss des Deutschen Bundestages vom 15. Dezember
1999 - entspricht der Bundesdrucksache 14/2350

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3.8          Exkurs: Handelstheorien als Leitbilder

3.8.1       Eine kurze Geschichte des Freihandels

3.8.1.1    Britische Hegemonie und Freihandel

Wir beginnen unseren Durchgang durch die Geschichte des Freihandels naheliegenderweise mit einem Blick auf dessen Leitidee, Ricardos sogenannte Theorie der komparativen Kostenvorteile.

Sie geht bekanntlich davon aus, dass es für das Wohl der Menschheit das Beste sei, wenn jedes Land sich auf die Herstellung derjenigen Güter spezialisiert, für die es den vergleichsweise geringsten Arbeitsaufwand benötigt, und die anderen Güter durch den Handel erwirbt. Damit wird nicht nur das Prinzip der produktivitätssteigernden Arbeits­ teilung, sondern auch das liberale Gesellschaftsprinzip auf die internationalen Beziehungen übertragen: „Bei einem System des vollkommen freien Handels wendet natürlich jedes Land sein Kapital und seine Arbeit solchen Zweigen zu, die jedem am vorteilhaftesten sind. Dieses Verfolgen des individuellen Vorteils ist bewundernswert mit dem allgemeinen Wohle des Ganzen verbunden“ (Ricardo 1979: 114f.). Freilich hatte Adam Smith das auch schon so gesehen. Die Pointe Ricardos liegt jedoch in der Zuspitzung, dass der Handel sich selbst für die Länder lohnt, bei denen die Arbeitsproduktivität in allen Branchen entweder höher ist als bei den durchschnittlichen Konkurrenten oder bei denen sie in allen Branchen niedriger ist: Auch sie sollten sich spezialisieren, nämlich auf den Bereich, in dem die Produktivität komparativ – d.h. im Vergleich zwischen den Bereichen, in denen sie selber bisher tätig sind – am höchsten ist. „Zwei Menschen können beide Hüte und Schuhe erzeugen, und einer ist dem anderen in beiden Tätigkeiten überlegen. Aber in der Herstellung von Hüten kann er seinen Konkurrenten nur um ein Fünftel oder 20 Prozent überflügeln, und in der Schuherzeugung übertrifft er ihn um 1/3 oder 33 Prozent. Wird es nicht in beider Interesse liegen, dass der Überlegene sich ausschließlich mit der Schuherzeugung und der Unterlegene mit der Hutmacherei beschäftigt?“ (Ricardo 1979: 117). Es sollen also alle am Handel teilnehmen, sowohl die, die der Meinung sind, sie seien auf allen Gebieten so überlegen, dass sie den Austausch nicht brauchen, als auch die, die aufgrund ihrer Unterlegenheit auf allen Gebieten der Meinung sind, sie könnten aus ihm keinen Vorteil ziehen. Keiner soll denken, er könne alles, und keiner soll denken, er könne nichts, sondern wirklich jeder soll sich im eigenen Interesse spezialisieren und zugleich erfahren, dass er die anderen braucht. Selbst der Stärkste hat relative Schwächen, braucht also Handels-partner, und selbst der Schwächste hat relative Stärken, mit denen er im Handel aufwarten kann. Alle können und sollen einbezogen werden, niemand muss und darf ausgeschlossen werden. Indem Ricardo so die Extreme einbezieht, will er eben deutlich machen, dass im freien Handel keiner Verluste erleidet: Es ist nie ein Nullsummenspiel, immer ein Positivsummenspiel.

Die Tragweite der Smith-Ricardoschen Idee zeigt sich daran, dass die Sozialwissenschaften aus ihr das Prinzip der modernen im Unterschied zur traditionellen Gesellschaft überhaupt hergeleitet haben: fortschreitende Rollendifferenzierung, Individualisierung und daher Zusammenhalt, Solidarität immer weniger aufgrund vorgegebener natürlicher Gemeinsamkeit, sondern nur als Anerkennung des anderen in seinem Anderssein.

Das ist die ideale Seite der Sache. Auf die reale Seite werden wir gestoßen durch das konkrete Beispiel, mit dem Ricardo seine These erläutert. Es ist der freie Handel zwischen England und Portugal, bei dem sich Portugal auf die Lieferung von Wein und England auf die von Tuch spezialisiert hat. Befremdlich ist aber das Beispiel noch nicht deshalb, weil es sich offenbar um sehr ungleiche Partner handelt. Denn darin liegt ja eben die Pointe Ricardos, am Extrem der Ungleichheit den Vorteil des freien Handels zu demonstrieren. Befremdlich ist, dass Ricardo die Dinge hypothetisch so darstellt, als sei Portugal sowohl in der Wein- als auch in der Tuchherstellung produktiver gewesen! Da nicht anzunehmen ist, dass er die Leser in diesem Punkt täuschen konnte, mag die Erklärung darin liegen, dass er auf einem hohen Abstraktionsniveau denkt und seine Beispiele spielerisch-willkürlich wählt. Das ist ihm auch im 19. Jahrhundert schon vielfach vorgeworfen worden. Aber diese Erklärung reicht nicht aus. Denn er nimmt ja nicht irgendein, sondern gerade dieses bekannte Beispiel und kehrt es um. Der Grund wird klar, wenn man seinen Text nicht mit der Brille der Ökonomielehrbücher, sondern unbefangen in seinem historischen Kontext liest. Sein Thema ist nämlich gar nicht eine „Lehre von den komparativen Kostenvorteilen“, sondern die Frage, ob man über den Außenhandel die Profitrate steigern kann. Und seine Antwort ist, dass man das nur erreicht, wenn man die Nahrungsmittel billiger macht und so die Löhne senken kann. „Es war mein Bestreben, durch dieses ganze Werk zu zeigen, dass die Profitrate niemals anders als durch eine Senkung der Löhne erhöht werden kann und dass eine dauernde Senkung der Löhne nur durch ein Sinken der Preise der lebenswichtigen Güter, für welche die Löhne verausgabt werden, eintritt“ (Ricardo 1979: 113). Wie man die Nahrungsmittel verbilligen konnte, das wusste aber jeder interessierte Leser: Indem man die kurz vor dem Erscheinen von Ricardos Buch, nämlich 1815 eingeführten hohen Kornzölle wieder senkte oder abschaffte! „Wenn wir anstatt unser eigenes Getreide anzubauen oder die Kleidung und die anderen lebenswichtigen Güter des Arbeiters selbst zu erzeugen, einen neuen Markt entdecken, durch den wir uns mit diesen Waren wohlfeiler versorgen können, so werden die Löhne fallen und der Profit wird steigen“ (Ricardo 1979: 113). Im landwirtschaftlichen Bereich musste also endlich die Freiheit des Handels einziehen, denn bei den überlegenen Industriewaren verstand sie sich von selbst. Ricardo will demnach mit seinem konstruierten Fall zeigen, dass selbst bei einer absoluten Unterlegenheit Englands in beiden Bereichen eine Spezialisierung auf die komparativ stärkere Industrie im Handel mit Agrarländern vorteilhaft wäre. Und er nimmt damit natürlich Partei in dem langen Streit zwischen Landadel und Industriebürgertum, der erst ab 1846 zugunsten des letzteren beendet wurde: Die Hungersnot in Irland nach der Missernte von 1845 hatte demonstriert, dass Großbritannien seine wachsende Bevölkerung nicht mehr selber ernähren konnte. Also wurden die Einfuhrzölle auf Getreide (auch Baumwolle und andere Roh    stoffe) endlich abgeschafft. Die Freihandelsbewegung hatte sich durchgesetzt. Die Fabrikanten aber reagierten ganz der Logik Ricardos gemäß mit einer Senkung der Löhne um bis zu 25 Prozent (Marx 1969: 300).

Noch in anderer Hinsicht ist das Beispiel Ricardos irritierend. Wusste er nicht, dass der „freie“ Handel zwischen England und Portugal auf den berühmt-berüchtigten Methuen-Vertrag von 1703 zurückging, der schon im 18. Jahrhundert als Meisterleistung der britischen Diplomatie gesehen wurde, nämlich im Überlisten des Partners? (vgl. z.B. Smith 1975: 329f.). Er war sogar der klassische Fall jener merkantilistischen Verträge, die nur der Form nach auf Gegenseitigkeit beruhten, inhaltlich jedoch ganz bewusst auf die Schädigung des anderen zielten. Denn nach herrschender Lehre war der Schaden des anderen der eigene Gewinn und umgekehrt, weil man dem Wirtschaftkrieg gar nicht ausweichen konnte. So wurde Portugal nach dem Abkommen von 1703 derart mit englischen Tuchwaren überschwemmt, dass es mit seinem Weinexport nach England die Handelsbilanz nicht mehr ausgleichen konnte und mit brasilianischem Gold bezahlen musste – eine Katastrophe nach merkantilistischer Lehre. Smith (1975: 331ff.) sucht zu zeigen, dass es keine Katastrophe war. Zudem geriet der Portweinhandel selber unter englische Kontrolle. Drittens wurde Portugal der erste jener zahlreichen weiteren Absatzmärkte der expandierenden englischen Industrie, die eben darum zu keiner eigenen industriellen Entwicklung kamen (der Minister Marques de Pombal, der die Probleme erkannte und ihnen seit 1756 mit Reformen beikommen wollte, wurde 1777 auf Betreiben des Landadels entlassen und verbannt). So betrug das Bruttoeinkommen Portugals schon zur Zeit Ricardos nur noch ein Zehntel des britischen. Viertens war das Land seit dem Sieg Wellingtons über die Franzosen 1810 bis 1822 englisches Protektorat – also zum Zeitpunkt des Erscheinens von Ricardos „Grundsätzen“. Ist der politische Status eines Protektorats demnach eine gute Voraussetzung für freien Handel? Warum nur wählt Ricardo dieses offensichtliche Gegenbeispiel zum freien Handel, um für diesen zu werben? Redet er ironisch, um nicht zu sagen zynisch? Der Grund könnte auch die schon erwähnte Abstraktheit seines Denkens sein, hier im Hinblick auf geschichtliche Zusammenhänge: Er sieht von ihnen ab, sie interessieren ihn einfach nicht. Aber beim Methuen-Vertrag und seinen Folgen ging es ja nicht um eine weit zurückliegende, belanglose, sondern um jüngste, durchaus aktuelle Vergangenheit! Es gibt wohl nur eine Erklärung: Der Sieger der Geschichte vergisst unwillkürlich und unbewusst, wie er zu seinem Sieg gelangt ist, und gibt ihm eine ideale, auch die Moral befriedigende Interpretation. Der, der den Krieg bzw. Wirtschaftskrieg in überwältigender Weise gewonnen, im Grunde alle unterworfen hat, proklamiert nun großmütig den Frieden bzw. eben den freien Handel, den er eigentlich immer schon gewollt habe. Denn das war doch die Situation, in der sich Großbritannien 1817 befand und die Ricardo zum Ausdruck brachte. Nachdem 1815 der Hauptkonkurrent Frankreich endgültig überwunden war, gab es in der Tat niemanden mehr, der Großbritannien wirtschaftlich wie in der Beherrschung der Meere noch ernsthaft infragestellen konnte. Zwar gab es auf dem Kontinent ein Gleichgewicht der Mächte, aber zur See ein eindeutiges englisches Machtmonopol. Schon nach Trafalgar verfügte die Royal Navy über mehr Kriegsschiffe als alle anderen Kriegsflotten der Welt zusammengenommen. Und schon 1800 war das Industrialisierungsniveau pro Kopf in Großbritannien doppelt so hoch wie im europäischen Durchschnitt (Kennedy 1989: 237).

Was man somit an Ricardos Text selber erkennen kann, ist der bemerkenswerte Sachverhalt, dass der freie Handel auf erfolgreichem Protektionismus beruht, wenn er auch diese seine dunkle Herkunft begreiflicherweise vergessen machen möchte.

Natürlich ist das nicht bloß an Ricardos Text zu erkennen, sondern zumal an der realen Geschichte. Großbritannien ist bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts durchaus keinen eigenen, etwa auf den freien Handel zielenden Weg gegangen, sondern hat die merkantilistische Politik der anderen europäischen Staaten sehr wohl mitgemacht. Es konnte zum Initiator des Freihandels vielleicht sogar nur deshalb werden, weil es sie am konsequentesten praktiziert hat; jedenfalls – da glückliche Umstände auch hier mitgespielt haben – deshalb, weil es in dieser Politik am erfolgreichs­ ten war.

Außer dem Methuen-Vertrag ist der sogenannte Navigation-Act von 1651 ein treffender Beleg für diese Tatsache. Ursprünglich gegen die holländische Handelsdominanz gerichtet, wurde das Gesetz auch beibehalten, als sie längst gebrochen war, und galt mit gewissen Modifikationen bis zur Einführung des Freihandels also rund 200 Jahre. Es besagte kurzgefasst: 1. Allen nichtenglischen Schiffen ist es „bei Strafe des Verlustes von Schiff und Ladung verboten“, mit englischen Kolonien Handel zu treiben. 2. Das gleiche Verbot gilt für die Küstenschiffahrt und –fischerei Großbritanniens. 3. Europäische Waren dürfen ebenfalls nur auf englischen Schiffen oder auf denen des Herstellungslandes eingeführt werden (gegen den Zwischenhandel) (Smith 1975: 225). Gewiss hat sich England mit diesem Gesetz nicht besonders hervorgetan, denn Frankreich und schon Spanien haben ganz ähnliche Regelungen getroffen. Interessant ist jedoch, dass der Vorreiter der Freihandelslehre Adam Smith keine Bedenken hatte, die Regelung ausdrücklich zu begrüßen und ausführlich zu begründen. Zwar räumt er ein, „dass einige Bestimmungen dieser berühmten Akte auch aus nationaler Feindseligkeit hervorgegangen sein können. Sie sind jedoch ebenso klug, als ob sie alle von der wohlüberlegtesten Weisheit diktiert worden wären. Zu jener Zeit verfolgte nationale Feindseligkeit genau das gleiche Ziel, das die wohlüberlegteste Weisheit im Auge gehabt hätte: die Verminderung der Seemacht Hollands, der einzigen Seemacht, welche die Sicherheit Englands gefährden konnte.“Smith erläutert auch sehr schön, weshalb die Akte für die Freiheit des Handels und den Wohlstand, den sie bringen kann, „nicht günstig“ sei. Dennoch kommt er zu dem Schluss: „Da die Verteidigung jedoch von viel größerer Bedeutung als Reichtum ist, ist die Navigationsakte vielleicht die weiseste von allen Handelsbestimmungen Englands“ (Smith 197: 226f.). Von daher erscheint es gar nicht mehr als Ironie der Geschichte, dass der Prophet des Freihandels nach dem großen Erfolg seines Werkes in Würdigung seiner wissenschaftlichen    Verdienste zum Zollkommissar von Schottland ernannt wurde. Denn für die Orientierung der politischen Praxis Englands hat seine Freihandelstheorie bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts ohnehin kaum etwas bedeutet (Fieldhouse 1965: 66). Und das spiegelt sich eben in seiner eilfertigen Inkonsequenz.

Dass Großbritannien vielmehr in der merkantilistischen Politik besonders konsequent war, zeigt die Kolonisierung Indiens so deutlich, dass sich eine Erläuterung fast erübrigt.

Denn Indien war nicht irgendein Land der später so genannten Dritten Welt, sondern das Land, auf das sich wegen seines sagenhaften Reichtums schon seit dem 15. Jahrhundert die Sehnsüchte der europäischen Kolonialmächte richteten. Bekanntlich war die Entdeckung Amerikas ja gleichsam ein Nebeneffekt dieser Sehnsüchte und war noch das Ziel von Napoleons Ägypten-Expedition eigentlich Indien. Indem es seit der Schlacht von Plassey 1757 endgültig unter britischen Einfluss kam, war England sozusagen automatisch der Sieger unter den Kolonialmächten.

Der Sinn der merkantilistischen Kolonialpolitik bestand nun darin, die positive Handelsbilanz dadurch zu sichern, dass die abhängigen Gebiete Rohstoffe und Nahrungs- bzw. Genussmittel lieferten, selber aber kein Gewerbe entwickeln durften, sondern als Absatzmarkt für die Industrie des Mutterlandes dienten. Nur war das mit Indien lange Jahrhunderte nicht zu machen! Denn dort war die Nachfrage nach europäischen Fertigprodukten lächerlich gering, weshalb nicht einmal die Importe aus Indien durch Exporte gedeckt werden konnten. So wurde der Ostindischen Kompanie im 17. Jahrhundert vorgeworfen, Geld außer Landes zu lassen – eine Sünde wider den Heiligen Geist des Merkantilismus. Und ihre Verteidiger (Mun, Child) mussten den Engländern erklären, dass die Kompanie doch auch mit anderen Ländern noch Geschäfte mache, die wieder Geld hereinbrächten (Haussherr 1954: 220). Anfang des 18. Jahrhunderts aber konnte man dieser miss­ lichen Situation nur dadurch Herr werden, dass man massive Einfuhrbeschränkungen zum Schutz der englischen Manufakturen verhängte (Fieldhouse 1965: 105).

Die Handelsverhältnisse begannen sich erst zugunsten Englands zu verändern, als das Mogul-Reich zunehmend zerfiel und die französische Ostindische Kompanie ihre Positionen nicht mehr behaupten konnte – also aufgrund politischer Machtverschiebungen. Jetzt konnten die Briten die indischen Streitigkeiten ausnutzen und immer größere Gebiete unter ihre Kontrolle bringen. Jedenfalls seit 1763 erfolgte die Kolonisierung nicht mehr hauptsächlich durch die private Ostindische Kompanie und bloß peripher, sondern unter staatlicher Einflussnahme, und sie erfasste bis etwa 1820 den ganzen Subkontinent. Dabei machte die Kompanie Gewinne, die sie durch den Handel allein niemals erzielt hätte (Fieldhouse 1965: 127).

Zumal aber konnten die Briten die Arbeitsteilung und den Austausch nun zu ihrem Vorteil umgestalten! Obwohl noch 1815 der indische Export von Baumwollwaren nach Großbritannien den Export in die umgekehrte Richtung bei weitem überwog (und zwar trotz der fortgeschrittenen Industrialisierung im Mutterland), war Großbritannien nun in der Lage, Indien zum Kauf seiner Stoffe zu zwingen – mit dem Ergebnis, dass das Land 1850, als der Freihandel seinen Siegeszug antrat, ein Viertel des gesamten Exports von Lancashire abnehmen musste und das eigene Gewerbe weitgehend verloren hatte. Vollendet war dieser Prozess allerdings erst, als England sich entschloss, in Indien die Produktion von Baumwolle und anderen landwirtschaftlichen Rohstoffen (Jute, Indigo, Opium) im Großen zu betreiben. Nun konnte Indien, das früher Baumwollwaren in die ganze Welt geliefert hatte, nur noch Rohbaumwolle ausführen, die in England verarbeitet und dann als Fertigprodukt wieder eingeführt werden musste. Und da die Landwirtschaft nicht mehr vorrangig der Ernährung der Bevölkerung diente, kam es immer wieder zu Hungersnöten (Bairoch 1973: 102).

Natürlich hatte diese Umkehrung des Handelsverhältnisses zwischen den beiden Nationen ihren Grund auch in der industriellen Überlegenheit Englands. Wäre sie demnach auch ohne koloniale Gewalt unter Freihandelsbedingungen eingetreten? Das ist erstens eine rein hypothetische, um nicht zu sagen sinnlose Frage. Denn sie setzt doch voraus, dass Indien nicht nur als selbständiger Staat weiterbestanden hätte, sondern auch freiwillig einer solchen Arbeitsteilung zugestimmt und darin sogar noch seinen Vorteil erkannt hätte! Zweitens war Indien noch im 18. Jahrhundert ein hochentwickeltes Land, das viele Bedingungen für den industriellen Fortschritt durchaus erfüllte: Seine Landwirtschaft war in der Lage, die notwendigen Überschüsse zu erzeugen. Es gab hochqualifizierte Fachkräfte nicht nur im Textilbereich, sondern auch in der Stahlproduktion oder im Schiffbau. Es gab genügend Geldreichtum für potentielle Investitionen und auch unternehmerische Initiative (vgl. Kennedy 1989: 42 f.). Drittens hätte sich die industrielle Überlegenheit Englands umgekehrt jedenfalls nicht in diesem Ausmaß entfalten können ohne die gewaltsam hergestellten Absatzmöglichkeiten. So musste Indien z.B. Stoffe aus Großbritannien einführen, weil die im Land für den eigenen Markt hergestellten Stoffe von der Kolonialmacht mit hohen Steuern belegt wurden. Ohne diese Maßnahme aber, meint die 1826 erschienene History of British India, „hätten die Mühlen von Paisley und Manchester gleich zu Anfang mit ihrer Arbeit aufgehört und wären kaum wieder in Bewegung zu setzen gewesen, nicht einmal durch Dampfkraft. Sie wurden durch die Opferung der indischen Hersteller geschaffen“ ( Chomsky 2001: 42). Die Mechanisierung der Weberei, die seit 1825 erfolgte, konnte erst „unter dem Anreiz der Außenmärkte stattfinden“; und der enorme Anstieg des Imports von Rohbaumwolle bzw. des Exports von Fertigbaumwolle führte zu Transportschwierigkeiten und so zum Bau der ersten Gütereisenbahn zwischen Manchester und Liverpool 1830 (Bergeron, Furet, Kosselleck 1974: 190f.). Der Kolonialismus ist demnach nicht nur im Freihandel, sondern auch in der industriellen Entwicklung Englands als (eine) Voraussetzung enthalten.

Das muss den damaligen Liberalen übrigens sehr wohl bewusst gewesen sein. Denn bei aller Kritik am Kolonialismus im Allgemeinen (Disraeli 1852: „Diese verdammten Kolonien ... sind ein Mühlstein um unseren Hals!“) haben sie die Herrschaft über Indien seltsamerweise nie infragegestellt. „Sogar die entschiedensten Vertreter des Freihandels und des Laissez-faire wurden Manipulatoren von Zolltarifen und zu bürokratischen Planern, wenn es um Indien ging“ (Eldridge 1998: 58).

Es ist wahr, dass die Liberalen schon seit Adam Smith und Jeremy Bentham („Emanzipiert eure Kolonien!“ 1793) den Kolonialismus und eine kostspielige Außenpolitik überhaupt ablehnten. Als sie sich seit den 40er Jahren durchzusetzen begannen, gab Großbritannien in der Tat auch Kolonien frei (Kanada, Australien, später Südafrika) und wandte sich zugleich international gegen eine weitere koloniale Expansion.

Es ist jedoch ebenso wahr, dass England zur selben Zeit sein Kolonialreich – sozusagen im Selbstlauf – immer noch jährlich durchschnittlich um 250000 qkm ausdehnte (Kennedy 1989: 246), und dass andere, nicht unmittelbar unter britischer Herrschaft stehende Regionen der Erde von der Wucht seines Exports getroffen wurden. Sie wurden zu einer Arbeitsteilung mit England gezwungen, die der merkantilistischen durchaus analog war. Man denke nur an den Opiumkrieg: Das große China sah gar keinen Grund, mit den westlichen Barbaren in intensiveren Austausch zu treten. Die Briten fanden aber heraus, dass Indien sich auch sehr kostengünstig auf den Anbau von Mohn spezialisieren ließ, der dann ins benachbarte China exportiert wurde. Begreiflicherweise unterband das chinesische Reich jedoch 1800 den Import, weil das Opium seiner Auffassung nach die Gesundheit der Bevölkerung gefährdete. Daraufhin wurde es lange Jahrzehnte eingeschmuggelt, bis 1838 ein rigoroser chinesischer Beamter große Mengen der Droge beschlagnahmen und alle ausländischen Warenkontore schließen ließ. Die Folge war, dass England China den Krieg erklärte, um die Öffnung der Häfen für den Drogenimport zu erzwingen, was ihm 1842 schließlich gelang. Auch etwa Ägypten oder die lateinamerikanischen Staaten, die sehr wohl über ein Indus­ trialisierungspotential verfügten (Brasilien, Argentinien), gerieten unter den deindustrialisierenden Einfluss des Handels mit England.

Das war der reale Hintergrund, auf dem sich die Freihandelsidee durchsetzte. Großbritannien verband mit der Aufhebung der Kornzölle (1846) und der Navigationsakte (1849) die Hoffnung, dass die anderen europäischen Staaten seinem Beispiel folgen würden. Diese Hoffnung war nicht unbegründet, denn viele von ihnen verfügten ebenfalls über Kolonien, und aufgrund des langen Friedens waren die politischen Voraussetzungen günstig. In der Tat folgte Holland sofort, Spanien 1850, und mit dem Handelsvertrag von 1860 zwischen England und Frankreich (sog. Cobden-Vertrag) gelang über die Meistbegünstigungsklausel der Durchbruch für fast ganz Europa. Zahlreiche internationale Abkommen (z. B. zur Sicherung der Freiheit auf den Meeren) und die ersten Weltausstellungen vervollständigten das Bild des friedlichen Handels und Wandels (Palmade 1974: 120ff.).

Doch die Zeit des Glücks währte nicht lange. Schon nach der Wirtschaftskrise von 1873 lebte der Protektionismus wieder auf. Weil das neue Deutsche Reich von der Krise besonders betroffen war und über keine kolonialen Ausweichmöglichkeiten verfügte, wurde es zu seinem Vorreiter. 1879 beschloss der Reichstag hohe Zölle sowohl auf Eisenwaren als auch auf landwirtschaftliche Erzeugnisse. Als die deutsche Industrie daraufhin den Spitzenplatz in Europa eroberte, zogen ab 1890 die anderen Staaten nach. Auch Großbritannien spürte natürlich die deutsche und amerikanische Konkurrenz. Die 1881 gegründete „Fair Trad League“ konnte sich aber nicht durchsetzen. Warum hielt England bis zum 1. Weltkrieg im Grunde am Freihandel fest, obwohl es sich bekanntlich am Imperialismus durchaus beteiligte? Weil das Empire einen riesigen geschützten Markt bildete, auf den es ausweichen konnte, wenn in Europa Marktanteile verloren gingen!

Wir halten fest, dass die Freihandelstheorie nach rund 200 Jahren protektionistischer Vorbereitung ganze 30 Jahre erfolgreich praktiziert wurde; und zwar exklusiv von den europäischen Staaten, die an der ersten industriellen Revolution teilnahmen.




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