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Die "fette Henne" wird 45
Bonner Bundesadler auch Modell für Wappenvogel im ReichstagSein bekanntestes Werk haben die Menschen auf Fotos, im
Fernsehen und in der Zeitung schon so oft gesehen, daß sie es
gar nicht mehr als das Werk eines Künstlers identifizieren.
Hoch oben an der Stirnwand des Plenarsaals des Deutschen
Bundestages prangt der Bundestagsadler von Ludwig Gies. In seinem
Schatten haben sich berühmte Parlamentarier der Bundesrepublik
Deutschland spannende Rededuelle geliefert: Herbert Wehner und
Konrad Adenauer, Willy Brandt und Rainer Barzel, Helmut Schmidt und
Helmut Kohl.
Aus Gips schuf Gies 1953 den Bundesadler, an den sich Generationen
von Abgeordneten und Fernsehzuschauern gewöhnt haben und der
nicht nur im Volksmund wegen seiner gedrungenen Form
liebevoll-spöttisch "fette Henne" genannt wird. Heute
fällt es schwer, sich von dem gewohnten Bild zu lösen.
Nach Abriß des alten Plenarsaales schuf Günter Behnisch,
Architekt des neuen Bundestagsplenarsaals in Bonn, eine
überarbeitete Version des Giesíschen Adlers, die sich
optisch nur unwesentlich vom Original unterscheidet.
Ende Mai beschloß der Ältestenrat des Bundestages auf
Empfehlung der Baukommission, daß das Bonner Symbol aus
Gründen der Kontinuität und des Wiedererkennens auch den
Plenarsaal im Berliner Reichstag " ab 1999 Heimat des Deutschen
Bundestages " zieren soll. Der Architekt des Reichstagsumbaus Sir
Norman Foster erhielt den Auftrag, den alten Plenaradler etwas
"straffer" zu gestalten. Die Parlamentarier folgten damit einer
Empfehlung des Architekten, der vorgeschlagen hatte, am bisherigen
Adler-Modell festzuhalten. Im Juni soll Foster dem Bundestag einen
Entwurf vorlegen. Erstmals muß dabei auch der Rücken des
Wappenvogels gestaltet werden, denn der Adler wird im Reichstag vor
einer Glaswand der Ostseite des Gebäudes schweben.
Daß der Bundesadler des alten Plenarsaales später seine
bekannteste Arbeit werden sollte, ahnte Gies sicher nicht. Denn
eines seiner künstlerisch größten Werke schuf er
schon 1921. Es war das große, sich krümmende Holzkruzifix
für den Lübecker Dom, das die Nazis als entartet
diffamierten und der 1944 in Berlin verbrannte. Gies zählt mit
seinen Plastiken, Plaketten und Bildern zu den wichtigsten
Expressionisten in Deutschland. Doch sein künstlerisches
Schaffen galt den Nazis als "undeutsch".
Seine modernen Arbeiten mit großer Ausdruckskraft, die
abstrahierten und den Menschen auch im Leid zeigten, wurden im
Dritten Reich der Lächerlichkeit preisgegeben. Sie
gehörten wie andere große Werke deutscher Kultur zu den
verspotteten Werken der Münchener Ausstellung "Entartete
Kunst" 1937. Im gleichen Jahr verlor Gies sein Lehramt an der
Berliner Akademie der Bildenden Künste und wurde aus der
Preußischen Akademie der Künste ausgeschlossen.
Zu Giesí wichtigen Plastiken und Bildern gehören neben
dem Lübecker Kruzifix der Silber- und Goldkranz in der
Schinkelschen Wache Unter den Linden (1927), sein Lamm aus
Porzellan für die Berliner Porzellan-Manufaktur (1928), die
Rheinlandschaft mit Schleppkahn für den Duisburger
Hauptbahnhof (1935), die später übermalt wurde, sein
eindrucksvoller, leidender Christuskopf in Lindenholz (1936), der
Adler in der alten Reichskanzlei, den Hitler als zu wenig
nordisch-heraldisch entfernen ließ, der Adler in der
ehemaligen Reichsbank von Berlin, seine Geigerin von 1947, das
Grabmal für Hans Böckler auf dem Kölner
Melatenfriedhof (1951), der Harfenspieler für das Kölner
WDR-Funkhaus (1952), der Erlkönig (1952) und das Engelfenster
für die Kolumba-Kapelle in Köln (1954). Giesí
künstlerische Vielfalt zeigt sich auch in seinen Baukeramiken
für das Düsseldorfer Phönixhaus und die
Gutehoffnungshütte in Oberhausen, in den Stuckreliefs für
das Haus der Metallgewerkschaft in Berlin, der geschnitzten
Orgelwand für die Aula der Bonner Universität und den
sieben Meter hohen Genien im Atrium des Essener
Folkwang-Museums.
In diesen Werken wird auch der thematische Dreiklang Giesí
deutlich. Dem Sakralen widmete sich Gies ebenso wie dem Alltag der
arbeitenden Menschen und den feierlich-anrührenden Motiven,
die sich in seinen Medaillen und Kränzen widerspiegeln. Eine
seiner Medaillen, die Heine-Gedächtnis-Medaille der Stadt
Düsseldorf in Gold, sollte 1960 zu hohen politischen Ehren
kommen. Sie wurde keinem geringeren als Bundespräsident
Theodor Heuss bei der Verleihung der Ehrenbürgerrechte
überreicht. Drei Jahre zuvor hatte übrigens Heuss selbst
Ludwig Gies mit einer hohen Auszeichnung bedacht: mit dem
Großen Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland.