Deutscher Bundestag
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Juni 4/2003
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Debatte im vollbesetzten Plenarsaal des Bundestages

Politische Entscheidungsprozesse

Im Zentrum steht der Bundestag

Seit Wochen ist die „Agenda 2010“ in aller Munde. Und immer hat es den Anschein, als sei es eine pure Angelegenheit von Regierung und Parteien. Eine Diskussion, die von Kanzler, Ministern, Parteitagen, Gewerkschaften, Verbänden, Umfragen und Kommentaren in Presse, Rundfunk und Fernsehen bestimmt wird. Dabei ist das Reformvorhaben ein klassisches Beispiel dafür, dass in der deutschen Politik nichts am Bundestag vorbeiführt. Und zwar schon lange bevor konkrete Gesetzentwürfe im Bundestag den ganz gewöhnlichen Gang von Beratung und Beschlussfassung gehen. Denn damit aus Ideen Realität wird, bedarf es mehr, als einen Vorschlag in die öffentliche Diskussion zu werfen. Daran muss intensiv gearbeitet werden, damit es trägt. Und am Ende steht die Entscheidung im Parlament.

Am Anfang steht die Idee. Oder die Erkenntnis, dass es so nicht mehr weitergeht, dass Gesetze an neue Herausforderungen oder Vorschriften der neuen Wirklichkeit angepasst werden müssen. Im Fall der Agenda 2010 weist bereits der Name darauf hin, dass Idee und Erkenntnis schon seit einiger Zeit in der Öffentlichkeit diskutiert werden. Agenda 2010 - diese Bezeichnung ist ganz offenkundig angelehnt an die Vereinbarungen, die die europäischen Staats- und Regierungschefs bei ihrem Treffen im März 2000 in Lissabon trafen: Danach soll die Europäische Union bis zum Jahr 2010 zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt werden. Angesichts der Globalisierung und der raschen Fortentwicklung in der Wissenschaft müssten die Mitgliedstaaten dafür ihre Wirtschaft grundlegend umgestalten. Hausaufgaben also für alle Länder der Europäischen Union. Hausaufgaben insbesondere auch mit Blick auf die Alterung in Gesellschaften wie der Bundesrepublik, die die traditionellen Sozialsysteme schon bald an den Rand ihrer Leistungsfähigkeit bringen wird.

Pressetribüne im Bundestag

Der Name steht also für mehr als ein einzelnes Gesetz zur Lösung eines Detailproblems. Der Name weist auf ein Reformvorhaben, das mit einem grundlegenden Umbau in vielen Bereichen staatlichen Handelns und gesellschaftlicher Gewohnheiten zu tun hat. Ein ganzes Paket von Reformabsichten, die länger wirken und halten sollen als die Mehrheitsverhältnisse einer Wahlperiode - die also auf eine möglichst breite Basis in Bundestag und Bundesrat gestellt werden sollen. Wer eine Ahnung davon hat, wie viele Gespräche nötig sind, um den Weg für kleine Gesetzesnovellen zu ebnen, der kann ermessen, welch ungeheure Kommunikationsleistungen erbracht werden müssen, um Reformen auf breiter Front gleichzeitig anzustoßen. Deshalb war für den Bundestag die Regierungserklärung des Bundeskanzlers am 14. März keine Überraschung, hatte er doch in den Tagen und Wochen zuvor bei verschiedensten Sitzungen der Regierungsfraktionen und der Koalitionsgremien das Terrain bereitet.

Gerhard Schröder wählte als Ort für die Ankündigung der Agenda 2010 nicht von ungefähr den Bundestag. Hier, im Forum der Nation, bekommt jede Äußerung von vornherein eine größere Verbindlichkeit. Hier, im zentralen Organ der Gesetzgebung, müssen alsdann die Einzelheiten beraten und auf ihre Stimmigkeit abgeklopft werden. Und hier ist letztlich der Ort der Entscheidung, die freilich in vielen Fällen mit dem Bundesrat auszuhandeln ist.

Wege in die Öffentlichkeit

Deshalb ist die erste Reaktion der Opposition (besonders wenn ihre Parteifreunde im Bundesrat die Mehrheit stellen) mindestens so wichtig wie die Darlegung des eigenen Ziels, durch weitreichende Strukturreformen Deutschland bis zum Ende des Jahrzehnts „bei Wohlstand und Arbeit wieder an die Spitze bringen“ zu wollen. So der Bundeskanzler. Und das Echo von CDU/CSU-Fraktionschefin Angela Merkel: „Der große Wurf für die Bundesrepublik Deutschland war das mit Sicherheit nicht“. Allerdings bot sie zugleich eine „nationale Kraftanstrengung“ an: „Bei allem, was aus unserer Sicht in die richtige Richtung weist, ... sagen wir, dass wir mitmachen.“

Parteitag

Vor dem Machen steht jedoch die Vorbereitung. Um die öffentliche Begleitung muss sich dabei keine Regierung sorgen. Viele Ideen und Entwürfe finden immer wieder den Weg in die Öffentlichkeit - oft schon, bevor die Beratungen in den zuständigen Gremien begonnen haben. Arbeitsentwürfe aus Ministerien und Parteizentralen stehen damit nicht nur in den Sitzungen von Parteipräsidien und Parteivorständen zur Diskussion, sondern parallel dazu auch schon in Presse, Rundfunk und Fernsehen - mitunter natürlich auch, weil sich der eine oder andere Beteiligte davon Vorteile für die eigene Argumentation erhofft. Auf diese Weise wirkt die öffentliche Reaktion an der Einschätzung der gesetzlichen Wirkungen mit: Wie kommt eine Initiative an? Wie groß wird der Widerstand bei den Betroffenen sein? Welche Folgen für das Wahlverhalten könnten damit verbunden sein? So nimmt die öffentliche Diskussion Einfluss auf die Meinungsbildung in den Partei- und Parlamentsgremien.

Besonders wichtig: die Einschaltung derjenigen, die von den Regelungen betroffen sind, und derjenigen, die sich auf diesen Feldern besonders gut auskennen. Das geschieht gewöhnlich spätestens im Rahmen der parlamentarischen Beratungen durch Anhörungen der Experten in den Fachausschüssen des Bundestages. Bei wichtigen Vorhaben melden sich die Betroffenen aber auch schon im Vorfeld selbst zu Wort, um auf die zu beschließenden Bestimmungen so früh wie möglich Einfluss zu nehmen: von persönlichen Warnungen über das Lancieren entsprechender Hinweise an die Medien bis zur Organisation öffentlicher Proteste. Wenn massenhaft Briefe und E-Mails bei Regierung und Parlament eingehen, wenn zu Demonstrationen aufgerufen wird, wenn auch die Parteibasis irritiert ist, Mitgliederbegehren und Sonderparteitage verlangt, wenn die Medien analysieren, welche Folgen die geplanten Reformen haben, dann bleibt das auch bei den politischen Entscheidungsträgern nicht ohne Wirkung.

Demonstrationen

Auch bei der Agenda 2010. So sorgte die Parteibasis dafür, unterstützt von den flankierenden Protesten aus den Gewerkschaften, dass eine umfangreiche Willensbildung in Gang kam und die beiden Regierungsparteien Sonderparteitage einberiefen. In diesem Zusammenhang hinterlassen auch Meinungsumfragen tiefe Spuren. Hinzu kommt jedoch ebenfalls die Erkenntnis, dass immer wieder kurzfristig unpopuläre Schritte gegangen werden müssen, um mittel- und langfristig das Heft des Handelns in der Hand zu behalten.

Das Ergebnis der Meinungsfindung muss organisiert und in konkrete Gesetzestexte übersetzt werden. Gleich in der ersten Kabinettssitzung wenige Tage nach der Regierungserklärung bekamen alle Minister, deren Fachgebiet von den Agenda-Vorhaben berührt werden, Arbeitsaufträge, sämtliche betroffenen Gesetze zu identifizieren und erste Entwürfe zur Umsetzung auszuarbeiten. Parallel befassten sich seit Mitte März die Koalitionsfraktionen auf jeder Sitzung mit den Aspekten der Agenda. Und von der Seite wirkt auch die Opposition mit, die schon in mehreren „Aktuellen Stunden“ einzelne Themen der Agenda aufrief, dringenden Handlungsbedarf feststellte und mit der Regierung um den besten Weg rang.

Gleichzeitig lief die Diskussion in den Parteien. Vor allem bei SPD und Bündnis 90/Die Grünen. Die Stufenleiter jedoch blieb stets klar: Welchen Rückhalt für die Reformideen bieten die Spitzengremien? Wie nimmt die Basis in Regionalkonferenzen und Sonderparteitagen Stellung? Und dann das eigentlich Entscheidende: Können auch im Bundestag die Bestandteile der Agenda 2010 eine Mehrheit finden? Die Ebenen der Meinungsbildung blieben dabei stets verschränkt. Fraktionen sind der Schnittpunkt zwischen Parteien und Bundestag, zwischen öffentlicher Reaktion in den Wahlkreisen der Abgeordneten und Umsetzung in ein für alle geltendes Regelwerk, und als solche sind Fraktionsmitglieder auch an der innerparteilichen Willensbildung beteiligt. Bei beiden Koalitionsfraktionen entstanden Entwürfe und Papiere, die auf die Parteidiskussion zurückwirkten. Die Kommunikation lief ebenfalls stets auch mitten durch den Bundestag. So lud die Parlamentarische Linke (PL) der SPD-Bundestagsfraktion zu internen Besprechungen und nach außen wirkenden Pressegesprächen, um mit ihren Vorschlägen die Agenda „in Detailfragen zu erweitern und zu verbessern“, wie PL-Sprecher Michael Müller, zugleich stellvertretender Vorsitzender der SPD-Fraktion, erläuterte. „Es ist klar, dass das Papier der PL in sehr vielen Unterbezirken und Bezirken Zustimmung gefunden hat“, resümiert er. Aber es sei „kein Antipapier“ geworden.

Fraktionssitzungen

Intensive Beratungen

Müller blickt auch schon voraus. Seit Wochen liefen intensive Beratungen in der Fraktion, in den Arbeitsgruppen, in den Ministerien mit vorbereitenden Initiativen und Arbeitspapieren als Zwischenergebnis. Aber das, was dann an Gesetzentwürfen in den Bundestag eingebracht werde, unterliege nicht dem oft von Medien erzeugten Interesse einer „1-zu-1-Umsetzung“. Müller: „Es gibt kein Parlament, das alles stets 1:1 umsetzt.“ Das gehe schon handwerklich nicht. Und vor allem: „Das Parlament ist souverän.“ Natürlich wisse die Fraktion zugleich, an welchen Punkten Veränderungen schwierig würden, weil man dann „außerhalb des Rahmens“ springe. Denn dieser Rahmen sei ja inzwischen durch Grundsatzentscheidungen auf verschiedenen Ebenen akzeptiert.

Ausschusssitzungen

Und wie wirken die Debatten innerhalb der Regierungsfraktionen und Regierungsparteien auf Abgeordnete der Oppositionsfraktionen? Was machen sie derweil? Sammeln, warten, positionieren - und an eigene Initiativen und Vorstöße denken. Dem CDU/CSU-Haushaltsexperten Steffen Kampeter beispielsweise erscheint die Agenda 2010 schlicht „überhöht“. Die Situationsanalyse decke sich mit dem, was seit Jahren die internationalen Wirtschaftsinstitute über Deutschland schrieben. „Alle Vorschläge sind weder neu noch besonders originell - das ist alles schon seit langem Gegenstand der Gespräche im Haushaltsausschuss.“ Warum sich die Fachausschüsse vor dem offiziellen Einbringen der Gesetzentwürfe noch nicht mit der Materie im Einzelnen befassen, verdeutlicht er anschaulich: „Wir beschäftigen uns nicht mit Virtuellem.“ Das ist auch das Hauptproblem für den FDP-Gesundheitspolitiker Detlef Parr. Die Liberalen hätten an die Gesamtverantwortung des Bundestages gedacht und signalisiert, deswegen die Reformvorhaben mittragen zu wollen. Inzwischen sei er aber zurückhaltend geworden, weil er nicht wisse, wie die Endfassung nun aussehen werde. Für ihn sei zum Beispiel besonders interessant, wie sich das, was aus dem Haus von Gesundheitsministerin Ulla Schmidt nun als Entwurf eines Gesundheitsmodernisierungsgesetzes auf den Tisch komme, zu dem verhalte, was der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung ursprünglich angekündigt hatte. Parr: „Unser Eindruck ist, dass Schröder im Hinblick auf marktwirtschaftliche Elemente im Gesundheitswesen einige Schritte weiter zu gehen bereit ist als die Gesundheitsministerin. Das wird jetzt spannend.“

Abstimmung

Formulierungshilfen

Spannend für viele: für die Abgeordneten aller Fraktionen, wenn sie die konkreten Gesetzentwürfe erstmals in der Hand haben, und zwar unabhängig davon, ob diese von Fall zu Fall von der Regierung selbst oder von einzelnen Bundestagsfraktionen (auf der Grundlage von zum Beispiel „Formulierungshilfen“ aus den Bundesministerien) in den Bundestag eingebracht und dann in erster Lesung in öffentlicher Sitzung in den Grundzügen beraten werden. Spannend für den Bundesrat, der einem Großteil der Gesetze voraussichtlich zustimmen muss, damit sie in Kraft treten können, und den Rest immerhin mit einem Einspruch aufhalten und dann testen kann, ob die Regierung in den einzelnen Details jeweils auch die „Kanzlermehrheit“ zusammenbekommt. Spannend sehr bald auch für Experten, Beteiligte, Betroffene und deren Interessengruppen, die zu jedem einzelnen Gesetz um Stellungnahmen (zumeist in Form von öffentlichen Anhörungen) gebeten werden. Und spannend nicht zuletzt für die Öffentlichkeit, die über viele Monate hinweg die Arbeit des Parlaments erleben und die Fortschritte der Beratungen, Überlegungen und Kompromisssuche verfolgen können wird.

Da geht es dann möglicherweise nicht nur um kleine Korrekturen oder winzige Ergänzungen. Bis hinein in die Regierungsfraktionen existiert ein Bedürfnis, den öffentlichen Eindruck zu verändern. „Es geht vielen von uns nicht um ein ,Schröder minus’, sondern um ein ,Schröder plus’“, sagt Reinhard Loske, stellvertretender Fraktionsvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen. Die Agenda erwecke den Eindruck einer „notwendigen, aber noch nicht hinreichenden Operation“. Für ihn mache die Kraftanstrengung Sinn, wenn sie in „eine größere Geschichte eingebettet“ werde. Eine Angelegenheit, die nicht nur von Krankengeld und zwölf Monaten Arbeitslosengeld handeln dürfe: „Da muss noch mehr kommen.“ Etwa Antworten auf die Fragen, wie die Wettbewerbsfähigkeit verbessert werden, wie Deutschland als Forschungsstandort wieder nach vorn kommen, wie Innovation und Nachhaltigkeit in ein ganzheitliches Konzept münden kann.

Die zunächst vorherrschende Frage nach der Geschlossenheit der Regierungsfraktionen wird auch in diesem Prozess sicherlich ergänzt werden durch die Frage nach den Einstellungen und Absichten der Opposition, die über die Mehrheit im Bundesrat entscheidend mitsprechen wird. Der Landesgruppenchef der CSU im Bundestag, Michael Glos, sagte, die Opposition sei „keine Ersatzregierung“, aber auch „kein Blockierer“. Seine bildkräftige Formel: „Wir werden kein Loch in die Bordwand eines Schiffes bohren, auf dem wir selbst mit draufsitzen.“ Insofern gebe es ein „gemeinsames Interesse“. Und deshalb werde man spätestens im Vermittlungsverfahren zu einem „konstruktiven Miteinander“ kommen.

Pressetribüne im Bundestag
Pressebühne im Bundestag Kommissionen
Parteitag
Parteitag Kabinett
Demonstrationen
Demonstrationen Pressegespräch
Fraktionssitzungen
Fraktionssitzungen Ausschusssitzungen
Bundesrat
Bundesrat Abstimmung

Gregor Mayntz

Quelle: http://www.bundestag.de/bp/2003/bp0304/0304004
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