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Das Parlament
Nr. 05-06 / 02.02.2004

 
Bundeszentrale für politische Bildung
 

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Ruth Allenstein

Historische Momente

Jüdische Geschichtsschreibung
Ist die Geschichte der Juden die Geschichte eines Volkes oder die einer Religionsgemeinschaft? Besteht sie aus einer Aneinanderreihung zahlreicher Einzelgeschichten oder ist sie das Beispiel einer in der Welt weit verstreuten Diaspora? Besteht sie nur aus Verfolgungen und Kalamitäten oder ist sie am Ende gar als Erfolgsgeschichte zu betrachten? Historiker haben diese Fragen, je nach ihrem individuellen Standpunkt und besonderem wissenschaftlichen Ansatz, verschieden beantwortet, wie dieser Band deutlich zeigt.

Zu Wort kommen Historiker aller Schattierungen: Zionisten, Vertreter eines Diasporajudentums, west- und osteuropäische, amerikanische, jüdische und nichtjüdische Wissenschaftler. Während sich die einen wie Salo Wittmayer Baron und der Doyen der jüdischen Geschichte in Großbritannien, Cecil Roth, zeitlebens gegen eine "tränenreiche Version" jüdischer Geschichte gewehrt haben, interpretieren andere, zum Beispiel der Völkerpsychologe Moritz Lazarus, Leopold Zunz und Heinrich Graetz die jüdische Vergangenheit als Leidensgeschichte, wenn auch mit voneinander abweichender Akzentsetzung.

Im ersten Kapitel werden zunächst Klassiker und Grundmodelle der jüdischen Geschichtsschreibung vorgestellt. Der Bogen reicht vom emanzipatorischen Ansatz eines Isaak Markus Jost über den marxistischen eines Raphael Mahler bis hin zum klassisch-zionistischen eines Haim Hillel Ben-Sasson. Die Texte des zweiten Kapitels befassen sich mit der Frage, ob die jüdische Geschichte nur ein zusätzliches Kapitel in der Weltgeschichte sei oder ob sie einen historisch-theologischen Sonderweg darstelle. In einem anderen Kapitel wird darauf hingewiesen, dass sowohl Israel als auch die Diaspora die jüdische Erfahrungswelt und die Vorstellung von Juden geprägt haben. Hier geht es vor allem um Migration, Heimkehr und Heimatlosigkeit.

Während für Jizchak Fritz Baer die Diaspora, die er mit dem hebräischen Wort "Galut" (Exil) bezeichnet, durch "Verfolgung, Schimpf und Ratlosigkeit" gekennzeichnet war, die nur durch die Gründung eines jüdischen Nationalstaates beseitigt werden konnten, macht Yosef Hayim Yerushalmi geltend, dass sich Juden im Exil durchaus zu Hause gefühlt hätten.

Ein weiteres Kapitel geht auf das Spannungsverhältnis zwischen Integration und Selbstbewahrung ein. Die einen, so Simon Dubnow, kritisieren die Assimilation. Salo Wittmayer Baron dagegen, weder Zionist noch Diaspora-Nationalist, sucht einen Mittelweg zu finden zwischen Gleichberechtigung und Bewahrung. Gerson D. Cohen wiederum streicht den "Segen der Assimilation in der jüdischen Geschichte" heraus.

Ein zentrales Element in der Wahrnehmung der jüdischen Geschichte stellen zweifellos die Auswirkungen des Judenhasses auf die jüdische Identitätsbildung in der Moderne dar. Bei einigen Juden führten Antijudaismus und Antisemitismus zur Stärkung ihres jüdischen Selbstbewusstseins, bei anderen jedoch zu jüdischem Selbsthass.

Im Mittelpunkt des letzten Kapitels steht der 1819 gegründete "Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden", der die Bewahrung und wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Judentum fördern wollte. Fürchteten wie Leopold Zunz doch viele, dass spätere Generationen infolge zunehmender Assimilations- und Säkularisierungsprozesse den Zugang zu jüdischen Kulturgütern verlieren könnten. Zugleich sollten die Studien des Vereins eine entscheidende Rolle bei der "Verbesserung der Juden" spielen, zu ihrer Integration in der allgemeinen Gesellschaft beitragen und Nichtjuden eine Tür zur jüdischen Kultur öffnen.

Inzwischen haben, laut Gershom Scholem, drei historische Momente - nämlich der Zionismus, der Holocaust und die Gründung des Staates Israel - dazu geführt, dass die Geschichtsschreibung nicht mehr Mittel in der Auseinandersetzung zwischen Juden und ihrer nichtjüdischen Umgebung ist, sondern konstruktiver Teil eines innerjüdischen Diskurses.

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erhielt die Diskussion über die jüdische Geschichtsschreibung durch Yosef Hayim Yerushalmi, Amos Funkenstein, Susannah Heschel und Laurence J. Silberstein neue Impulse - trotz oder gerade wegen ihrer recht gegensätzlichen Standpunkte. Die mit ausführlichem Anhang von vier Wissenschaftlern herausgegebenen und ausführlich kommentierten Texte - darunter befinden sich auch einige bislang schwer verfügbare Texte - veranschaulichen sehr gut die Bandbreite unterschiedlicher Positionen zur jüdischen Geschichte und schärfen Blick und Sensibilität für deren Komplexität.

Michael Brenner, Anthony Kauders, Gideon Reuveni, Nils Römer (Hrsg.)

Jüdische Geschichte lesen.

Texte der jüdischen Geschichtsschreibung im 19. und 20. Jahrhundert.

Verlag C.H.Beck, München 2003; 447 S., 29,90 Euro

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