Christian Ludwig
Die Lehren aus einem blutigen Weltkrieg
Zwischen Vision und Versagen: der
Völkerbund
Das Jahr 1920 hätte das Ende von Clausewitz einläuten
können. Die These vom Krieg als Fortsetzung der Politik mit
anderen Mitteln, das Recht eines jeden souveränen Staates auf
Krieg zum Erreichen seiner Ziele wurde erstmalig auf
internationaler Ebene in Frage gestellt.
Als der Völkerbund am 10. Januar 1920 offiziell
gegründet wurde, lagen Jahre des Schreckens und der
Verwüstung hinter Europa. Mehr als zehn Millionen Tote hat der
Erste Weltkrieg gekostet. Das Leid schien ein Umdenken zu bewirken.
Weg vom bloßen Kriegsführungsregime, hin zu einem
kollektiven Friedenssicherungssystem. Die neue Weltregierung sollte
Weltfrieden und Internationale Zusammenarbeit ermöglichen.
Bereits vor dem Ersten Weltkrieg hatte sich die Einsicht
entwickelt, dass Kriege sehr verlustreich sein können. Auf den
Haager Friedenskonferenzen 1899 und 1907 wurde das
Kriegsvölkerrecht, die Regeln des Kriegsrechtes
zusammengefasst. Vereinbarungen zum friedlichen Bearbeiten von
Konflikten blieben hingegen vage. Nach dem Weltkrieg lag die
Einrichtung einer neuen internationalen Ordnung nahe.
Die Idee der Völkerbundes ging auf das 14-Punkte-Programm
des amerikanischen Präsidenten Thomas Woodrow Wilson
zurück. Er hatte 1918 in einer programmatischen Rede zur
Nachkriegsordnung die Gründung einer allgemeinen
Staatenverbindung gefordert, "mit dem Zweck, großen und
kleinen Staaten gleichermaßen gegenseitige Garantien ihrer
politischen Unabhängigkeit und territorialen Unversehrtheit zu
gewähren." Die Hegemonie eines Staates sollte nicht
länger durch ein Gleichgewicht der Kräfte, dem
europäischen Ordnungsprinzip seit dem Westfälischen
Frieden, sondern durch die Gründung eines Völkerbundes
verhindert, Kriege völkerrechtswidrig werden. Wilsons Entwurf
wurde die Grundlage der Völkerbundsatzung, die durch britische
und südafrikanische Vorschläge ergänzt wurde. 1919
erreichte Wilson auf der Pariser Friedenskonferenz, dass die
Satzung des Völkerbundes zum Bestandteil der
Friedensverträge von Versailles, St. Germain, Trianon und
Neuilly wurde. Einwände der Kriegsverlierer Deutschland und
Österreich sowie neutraler Staaten wurden nicht
berücksichtigt.
Die beiden Hauptorgane des Völkerbundes waren der Rat und
die Bundesversammlung. In der Bundesversammlung hatten alle
Mitgliedsländer je eine Stimme. Im Rat saßen vier
ständige Mitglieder: Frankreich, Großbritannien, Italien
und Japan. Deutschland und die Sowjetunion traten erst später
dem Völkerbund bei. Sie erhielten dann auch ständige
Sitze. Die USA trat dem Völkerbund gar nicht bei. Daneben gab
es anfänglich vier, später bis zu elf nicht-ständige
Sitze. Beide Organe hatten sich mit jeder Frage zu befassen, die
den Weltfrieden angingen. Da der Rat häufiger tagte,
übernahm er in der Regel die dringlichen Angelegenheiten. Die
Beschlüsse ergingen in der Regel einstimmig. Damit hatte
natürlich jedes Land hatte ein Vetorecht. Ausführende
Organe waren der Generalsekretär und das ständige
Sekretariat in Genf, wo der Bund seinen Sitz hatte. Als
Spezialorganisationen wurden der Ständige Internationale
Gerichtshof und die Internationale Arbeitsorganisation (ILO)
gegründet.
Frieden und Sicherheit
Wichtigste Aufgabe des Völkerbundes war die
Kriegsverhütung sowie die Gewährleistung von Frieden und
Sicherheit. Im Streitfall sollten sich die Kontrahenten einem
"cooling-off"-Verfahren unterziehen. Erst nach neun Monaten, in
denen sie sich einem Schiedsverfahren, einem gerichtlichen
Verfahren oder einem Untersuchungsverfahren unterziehen mussten,
durften sie in den Krieg ziehen. Im Fall einen Krieges oder der
Androhung eines Krieges hatte der Rat zusammenzutreten und
entsprechende Maßnahmen zu beschließen. Herzstück
des Kriegsverhütungssystems waren die Sanktionen. Sie umfassen
die ganze Palette von Boykottmaßnahmen, bis hin zur totalen
Wirtschaftsblockade.
Die Gründe für das Scheitern sind zahlreich. Sie lagen
im Wesentlichen in der Struktur und der Gründungsgeschichte
des Völkerbundes begründet. Aber auch im hemmungslosen
Revisionsstreben auf Seiten der Verlierer und im Status-Quo-Denken
der Sieger des Ersten Weltkrieges. Als verheerend stellte sich die
Verknüpfung des Völkerbundes mit der Nachkriegsordnung
heraus, die in Deutschland massiv bekämpft wurde. Diese
Verknüpfung und die Tatsache, dass die Verlierer des Krieges
vorerst nicht Mitglied im Völkerbund werden durften, haben dem
Völkerbund viele Chancen verbaut. Noch schwerer wog jedoch die
Entscheidung der Vereinigten Staaten von Amerika, trotz des
Engagements Wilsons nicht Mitglied des Völkerbundes zu werden.
Auch die Sowjetunion durfte erst im Jahre 1934 dem Völkerbund
beitreten. Inzwischen war jedoch das nationalsozialistische
Deutschland, das erst 1926 unter dem Reichsaußenminister
Gustav Stresemann dem Völkerbund beigetreten war, schon wieder
ausgetreten. Japan und Italien folgten 1933 und 1937. Es war ein
Kommen und Gehen. Dem Völkerbund fehlte damit von Anfang an
die internationale Legitimation. Der universale Anspruch war auf
diese Weise in den Augen der Verlierer gründlich
diskreditiert.
Hinzu kam des Fehlen eines absolutes Gewaltverbot. Die
Präambel der Satzung verpflichtet die Staaten lediglich
"bestimmte Verpflichtungen zu übernehmen, nicht zum Krieg zu
schreiten". Erst 1928 ächten 15 Nationen mit dem
Kellogg-Briand-Pakt den Krieg als Mittel der Politik.
Gewaltanwendungen unterhalb der Kriegsschwelle wurden vom
Sanktionssystem gar nicht erfasst. Ebenfalls problematisch war die
Durchführung der Sanktionen. Sie blieben den Mitgliedern
überlassen.
Wie wirkungslos das Instrument der Sanktionen war, zeigte sich
1934. Italien hatte Abessinien, das heutige Äthiopien,
überfallen. Der Völkerbund erklärte Italien zum
Aggressor und beschloss Sanktionen gegen Italien. Eingehalten
wurden sie nie. Als die italienischen Truppen 1935 die
äthiopische Hauptstadt Addis Abeba eroberten, forderte der
äthiopische König Haile Selassie den Völkerbund zum
Handeln auf: "Es geht um die Existenz des Völkerbundes. Es
geht um das Prinzip der Gleichheit aller Staaten. Gott und die
Geschichte werden an unser Urteil erinnern - welche Antwort soll
ich meinem Volk mitbringen?" Die Antwort des Völkerbundes war
deutlich: die Sanktionen wurden aufgehoben. Damit war der
Völkerbund am Ende. Er sprach nie wieder Sanktionen aus.
Überhaupt konnten Sanktionen nur im Kriegsfall
ausgesprochen werden. Für Sanktionen benötigte es einen
klar erkennbaren Aggressor, einen Staat. In Bürgerkriegen war
dieser nicht auszumachen. Sie waren "interne Angelegenheiten". Der
Spanische Bürgerkrieg blieb vom Sanktionssystem deshalb
ausgeschlossen, obwohl er sich durch seinen ideologischen Charakter
rasch vom innerstaatlichen zum außenpolitischen Problem
entwickelt hat. Damit berührte er eigentlich exakt den
satzungsmäßigen Aufgabenbereich des
Völkerbundes.
Neben dem politischen Scheitern konnte der Völkerbund aber
zweifellos auch Erfolge vorweisen, vor allem als Förderer der
internationalen Zusammenarbeit. Er hat den erfolgreichen
wirtschaftlichen Aufbau Österreichs nach dem Krieg begleitet
und die Heimführung der Kriegsgefangenen des Ersten
Weltkrieges organisiert. Schließlich hat er für das
Überleben von hunderttausenden von Flüchtlingen gesorgt.
Der norwegische Polarforscher Fridtjof Nansen bot ihnen als
Hochkommissar für Flüchtlinge mit dem "Nansen-Pass"
Schutz, Sorge und die Chance auf ein Auskommen in einem anderen
Land. Die Erfolge beim Minderheitenschutz sind zwiespältig.
Auch wenn der Völkerbund nicht die Unterdrückung von
Minderheiten unterbinden konnte, so verhinderte er dennoch, dass
"die größere und kleinere Unterdrückung von
Minderheiten internationalen Streit oder Konflikt hervorbrachte",
blickte Pablo de Azcarate, ein hoher Mitarbeiter der
Minderheitensektion, 1945 aus kritischer Distanz zurück.
Neu war das internationale Diskussionsforum, das der
Völkerbund geschaffen hat. Der Umgang der Staaten miteinander
näherte sich parlamentarischen Verfahren an und die
internationale Politik wurde berechenbarer. Als wichtigste
Bedeutung des Völkerbundes ist schließlich die Idee und
teilweise Etablierung des ersten internationalen Sicherheitssystems
zu sehen. Konflikte sollten ausgehandelt, Beschlüsse der
Völkergemeinschaft mit Hilfe von Sanktionen durchgesetzt
werden. Dies bedeutete die Abkehr vom Recht des Stärken,
gefordert war die Solidarität der Mitgliedstaaten
untereinander. Das Werk von Fridtjof Nansen wird heute vom
Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen fortgesetzt, der
Internationale Gerichtshof und die Internationale
Arbeitsorganisation haben das Ende des Völkerbundes
überlebt.
Der Völkerbund konnte des Krieg als Fortsetzung der Politik
nicht verhindern. Den Aggressionen Deutschlands und dem Ausbruch
des Zweiten Weltkrieges stand er hilflos gegenüber. Der Geist
des Völkerbundes war einfach zu schwach, die Instrumente
völlig unzureichend. Er scheiterte, weil die Staaten es
letztendlich so wollten. Trotzdem war die Gründung des
Völkerbunds die wichtige Grundlage für die Vereinten
Nationen, die auf diesen Erfahrungen aufbauen konnten.
Christian Ludwig arbeitet als freier Journalist in Bremen.
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