Sebastian Pflugbeil
"Im Widerspruch zu den Regeln und Prinzipien des
humanitären Völkerrechts"
Hiroshima läutete das atomare Zeitalter ein
- seit 15 Jahren ist es nun auch in Deutschland erlaubt, Atomwaffen
zu entwickeln
Vor 60 Jahren gab es Sieg, Niederlage, Befreiung, Tote,
unermessliches Leid, und bis zur letzten Minute vor Eintreffen der
Alliierten arbeiteten deutsche Wissenschaftler und Ingenieure an
den "Wunderwaffen". Insbesondere die Arbeiten an der deutschen
Atombombe und die Mitarbeit deutscher Wissenschaftler an den
amerikanischen und russischen Atombomben haben zu so schrecklichen
Entwicklungen weltweit geführt, dass es gerechtfertigt
scheint, an einige dieser Entwicklungen zu erinnern und zu fragen,
wie wir heute zu Atomwaffen stehen.
Die Aufregung über die Schrecken der Atomwaffen und den
drohenden Atomkrieg ist mit der Zeit mehr und mehr
zurückgegangen. Die militärisch sinnlosen Bombardierungen
von Hiroshima und Nagasaki sind lange her, der Kalte Krieg ging
glücklicherweise zu Ende, ohne dass es zu einem Atomkrieg
kam.
Wie ist die globale Situation heute bezüglich der
gesundheitlichen Auswirkungen der atmosphärischen
Atomwaffentests in den 60er-Jahren? Das konservative
"Wissenschaftliche Komitee der Vereinten Nationen für die
Wirkungen Atomarer Strahlung" (UNSCEAR) hat einen Schätzwert
für die Kollektivdosis veröffentlicht, über den es
sich nachzudenken lohnt. In dem Begriff Kollektivdosis wird die
Größe einer betroffenen Population verbunden mit der
Strahlenbelastung, die die einzelnen Menschen in dieser Population
abbekommen haben. Damit kann man in gewissen Grenzen die
Kollektivdosis als Maß für die Strahlenschäden einer
Population ansehen. UNSCEAR gibt als Dosis den Wert von 20
Millionen Personen-Sievert an. An anderer Stelle findet man bei
UNSCEAR Angaben zum Risikofaktor - wie viele Menschen sterben in
einer Population, wenn diese mit einem Sievert bestrahlt wurde -
der Wert lautet elf Prozent pro Sievert. Damit kann man ausrechnen,
dass weltweit allein aufgrund der atmosphärischen
Atomwaffentests etwa 2.200.000 Menschen an Krebs gestorben sind.
Rechnet man die Opfer des Uranbergbaus, der Arbeit in den
Atomfabriken dazu und berücksichtigt, dass die Zahl der
Krebserkrankungen noch deutlich höher ausfällt als die
der Krebstoten, so kommt man leicht in einen zweistelligen
Millionenbereich für die Opfer der Atomwaffentests.
In Deutschland gab es über Jahre eine tödliche
Zusammenballung amerikanischer und russischer Atomwaffen. Noch 1989
und 1990 wurde in Manövern Ost wie West der Einsatz von
Atomwaffen ernsthaft durchgespielt. Kurz vor der Wiedervereinigung
sind alle russischen Atomwaffen aus der DDR abgezogen worden, in
der BRD verblieb eine gewisse Anzahl amerikanischer Atombomben an
den Standorten Büchel und Ramstein. Sie werden von deutschen
Soldaten gepflegt und im Ernstfall von deutschen Piloten und
deutschen Tornados ins Ziel geflogen. Das geschieht mit dem Etikett
"nukleare Teilhabe" im Rahmen der NATO, einer Gewohnheit, die
durchaus nicht zwingend mit der Mitgliedschaft im Bündnis
verknüpft ist. Es gibt NATO-Staaten, die die bei ihnen
stationierten amerikanischen Atombomben nach Hause schickten -
Deutschland tat das bisher nicht und verletzt damit wie die USA den
Atomwaffensperrvertrag. Deutsche Richter übersehen den Bruch
dieses Vertrages, halten es aber für erforderlich,
Bürger, die auf diesen Umstand mit Mitteln des zivilen
Ungehorsams aufmerksam machen, ins Gefängnis zu stecken.
Im Bereich der Atomwaffenentwicklung gibt es intensive
Zusammenarbeit großer deutscher Firmen mit den
Atomwaffenschmieden in den USA und in Frankreich. Ein wesentliches
Gebiet ist das der Hochleistungslaser. Es sind Firmen wie GSI
Darmstadt (PHELIX-Projekt), das Max-Born-Institut für
Nichtlineare Optik und Kurzzeitspektroskopie und eine Tochter der
deutschen Firma Schott in den USA. Sie tragen mit ihren sehr
speziellen Lasern zur Entwicklung von Atomwaffen im Labor - ohne
Atomwaffentestgebiete - bei.
Es sei an das Votum des Internationalen Gerichtshofes von 1996
erinnert, "dass die Bedrohung durch oder Anwendung von Atomwaffen
generell im Widerspruch zu den in einem bewaffneten Konflikt
verbindlichen Regeln des internationalen Rechts und insbesondere
den Prinzipien und Regeln des humanitären Völkerrechts
stehen würde". Die UN-Generalversammlung hat sich am 10.
Dezember 1996 klar hinter das Votum des IGH gestellt - gegen die
Stimmen der Atommächte USA, Russland, Großbritannien,
Frankreich und - Deutschlands. Rot-Grün denkt nicht
darüber nach, diese deutsche Haltung zu korrigieren.
Abschließend sei an die Änderung im deutschen
Kriegswaffenkontrollgesetz (KWKG) von 1990 erinnert. Bis dahin war
für Deutschland die Befassung mit A-, B- und C-Waffen tabu.
Unmittelbar nach der Wiedervereinigung wurde im KWKG der Abschnitt
zu Atomwaffen verändert: seit 15 Jahren ist es nun in
Deutschland erlaubt, Atomwaffen zu entwickeln, herzustellen, mit
ihnen Handel zu treiben. Politiker, Friedensforscher und
Journalisten schweigen zu dieser skandalösen
Gesetzesänderung. Es ist beunruhigend, womit sich deutsche
Politiker und Miltärs stattdessen befassen: Auf der 16.
Sitzung des Deutsch-Französischen Verteidigungs- und
Sicherheitsrates 1996 entstand die "Nürnberger
Erklärung". Dort ist zu lesen: "Die unabhängigen
Nuklearstreitkräfte des Vereinigten Königreiches und
Frankreichs, die eine ihnen eigene Abschreckungsfunktion
erfüllen, tragen zur globalen Abschreckung und Sicherheit der
Verbündeten bei. Unsere beiden Länder sind bereit, einen
Dialog über die Rolle der nuklearen Abschreckung im Kontext
der Europäischen Verteidigungspolitik aufzunehmen."
Europäische Nuklearstreitmacht?
1999 trafen sich Vertreter des Bundeskanzleramtes und der
Bundeswehr-Führungsakademie zu einem Seminar der
Bundesakademie für Sicherheitspolitik über "Deutsche
Interessenpolitik im 21. Jahrhundert". Dort wurde festgestellt,
dass Deutschland demografisch und wirtschaftlich die stärkste
Macht in Europa sei. "Der besondere Beitrag Frankreichs und
Großbritanniens zur europäischen Sicherheits- und
Verteidigungspolitik liegt bei ihren Nuklearstreitkräften und
ihrer Interventionsfähigkeit. Ergänzend sollte
Deutschland seine konventionellen Streitkräfte an die neuen
Herausforderungen in ihrer ganzen Bandbreite anpassen. Auf lange
Sicht sollte über vergemeinschaftete europäische
Nuklearstreitkräfte für erhöhte Sicherheit
nachgedacht werden."
Im Frühjahr 2003 entwarf das Centrum für angewandte
Politikforschung das Szenarium einer "Supermacht Europa". Ziel war
"Machtparität mit den USA", die dem "objektiven
Weltmachtpotential" Europas gerecht wird. Es heißt dort: "Die
Etablierung einer Sicherheits- und Verteidigungsunion und vor allem
der Aufbau der Vereinten Europäischen Strategischen
Streitkräfte, die sich unter einem gemeinsamen
europäischen Oberkommando des Atomwaffenpotentials Frankreichs
und Großbritanniens bedienen können, verändern die
internationale Rolle der EU."
Ebenfalls Anfang 2003 entstand im Führungsstab der
Bundeswehr eine Denkschrift, die darauf abzielt, die
Miltärarsenale der EU-Mitgliedstaaten der
Verfügungsgewalt einer künftigen EU-Regierung zu
unterwerfen und damit auch für Berliner Ambitionen nutzbar zu
machen. Im Forderungskatalog findet sich der Zugriff auf
französische und englische Atomwaffen.
Die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik hat
mit einem französischen Partnerinstitut in einem
Strategiepapier konkrete Vorschläge für den gemeinsamen
Einsatz von Atomwaffen erarbeitet. Die Pläne in dieser
Richtung stammen aus der Stiftung Wissenschaft und Politik. Sie ist
der einflussreichste "think tank" für die gegenwärtige
Berliner Außenpolitik. "In politisch verantwortlichen Kreisen"
werde Deutschland gegenüber bereits mehr oder weniger
offiziell der Wunsch geäußert, in eine nukleare Debatte
einzutreten. Berlin sei in naher Zukunft gezwungen, sich mit der
Frage auseinanderzusetzen, wie das französische
Atomwaffenpotential in den europäischen Rahmen einzuordnen
sei. Sie testet ab, wie die Mitbestimmung Berlins über die
französischen Atomwaffen aussehen könnte. Die Stiftung
denkt darüber nach, wie man mit Widerstand gegen eine
Deutsch-Französische-Europäische Atommacht fertigwerden
könnte. Gefürchtet werden die USA, die eine von der NATO
unabhängige Europäische Atomstreitmacht nicht gerne
sähen.
Im Frühjahr 2005 erschien das Buch "Hitlers Bombe" des
Historikers Rainer Karlsch. Er weist durch teilweise bisher
unbekannte Quellen nach, dass die Atombombe der Nazis viel
wirklicher war, als das bisher für möglich gehalten
wurde. Wenig bekannte Physiker haben entscheidende Ergebnisse
erzielt - bis hin zu einem Kernwaffentest im April 1945 auf dem
Truppenübungsplatz in Ohrdruf unter SS-Regie mit hunderten
ermordeten Häftlingen.
Es macht nachdenklich, wie stark nach 60 Jahren die instinktive
Abwehr solch unbequemer Forschungsergebnisse durch Medien und
Fachkollegen ist.
Dr. Sebastian Pflugbeil ist Präsident der Gesellschaft
für Strahlenschutz.
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