Torsten Wöhlert
"Die nationale Heimstätte"
Die Gründung des Staates Israel und der
Beginn des Nahostkonflikts
Ich bin nicht sicher, dass es ohne Auschwitz heute einen
jüdischen Staat geben würde." Dieser Satz stammt von
Nahum Goldmann, dem Gründer und langjährigem
Präsidenten des Jüdischen Weltkongresses, der sich als
Vertreter der Jewish Agency beim Völkerbund in Genf für
die vom Nationalsozialismus verfolgten europäischen Juden
einsetzte und später an der Seite Ben Gurions zu den
Gründungsvätern Israels gehörte. So berechtigt diese
Aussage ist, sowenig lassen sich jedoch die Entstehung des
jüdischen Staates und die spätere Ausprägung des
Nahostkonflikts allein auf die Shoa und ihre Folgen reduzieren.
Worauf Goldmann verweist, ist der Umstand, dass es ohne den
nationalsozialistischen Völkermord an den europäischen
Juden, ohne das Entsetzen, mit dem die Weltöffentlichkeit nach
Kriegsende mit diesen Verbrechen konfrontiert wurde, auch ohne die
Schuldgefühle auf Seiten der Alliierten und ohne die aus der
Shoa resultierende Verantwortung der Weltgemeinschaft für das
weitere Schicksal des jüdischen Volkes am 29. November 1947 in
der UNO keine Mehrheit für eine Teilung Palästinas und
später für die am 14. Mai 1948 proklamierte Gründung
des jüdischen Staates gegeben hätte.
Befürworter - und Gegner - dieser historischen
Beschlüsse handelten aber nicht nur unter dem unmittelbaren
Eindruck des Holocausts. Sie reagierten auch auf Entwicklungen und
Konflikte, die ihre Ausgangspunkte in der Kolonialgeschichte
Palästinas, in der britischen Mandatspolitik und in der seit
Ende des 19. Jahrhunderts vom Zionismus inspirierten jüdischen
Einwanderung (Alija) nach Palästina hatten.
Das gelobte Land
Die neuzeitliche Geschichte des jüdisch-arabischen
Konflikts beginnt mit der Geburt des Zionismus und des von Theodor
Herzl 1896 in seiner Schrift "Der Judenstaat" formulierten und ein
Jahr später vom I. Zionistenkongress in Basel angenommenen
Programms, das "für das jüdische Volk die Schaffung einer
öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstatt in Palästina"
forderte. Herzls Zionismus ist ein Produkt europäischer
Entwicklung, die an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert auf zwei
Gefahren für das europäische Judentum reagiert: Den
Identitätsverlust durch eine wachsende Assimilation in die
nationalstaatlich organisierten Gesellschaften Europas. Und den
parallel dazu wachsenden, namentlich in Osteuropa pogromartig
wütendenden Antisemitismus.
In fünf Einwanderungswellen kommen zwischen 1882 und 1945
fast eine halbe Millionen europäische Juden nach
Palästina. Nicht alle bleiben. Und die Gründe für
die Heimkehr ins gelobte Land sind höchst unterschiedlich. Sie
reichen von der biblisch inspirierten Idee, das Land der Väter
zu besiedeln, über sozialistische Vorstellungen, in
Palästina den Keim für eine "neuen Menschengemeinschaft"
zu legen, bis hin zur Flucht aus nackter Angst um das eigene Leben.
Entsprechend unterschiedlich fiel - und fällt - die Reaktion
darauf aus, dass die verkündete Heimstatt und
Zufluchtstätte für das jüdische Volk eben nicht das
von zionistischer Ideologie verheißene "Land ohne Volk
für das Volk ohne Land" war - und ist.
Dieser "Realitätsschock" gerierte schon vor der
Staatsgründung Israels unterschiedliche Strömungen und
Fraktionen innerhalb der jüdisch-zionistischen Community
Palästinas mit politisch-programmatischen Aussagen, die im
Kern bis heute gültig sind, weil sie grundlegende Optionen
einer Konfliktlösung beschreiben: Den (von der demografischen
Entwicklung überholten) bi-nationale Staat; die
Zwei-Staaten-Lösung, und "Erez Jisrael" als jüdischer
Staat in den biblischen Grenzen zu beiden Seiten des Jordans.
So berechtigt der Anspruch des palästinensischen Volkes auf
einen eigenen Staat heute ist, so schwierig bleibt die Darstellung
der historischen Genesis dieses Anspruchs. Denn: Palästina,
wie wir es heute kennen, ist die Geburt einer Nation im Konflikt
mit der jüdischen Besiedlung des Heiligen Landes und dem
schließlich zurückgewiesenen Anspruch arabischer
Nachbarstaaten, diesen Konflikt wahlweise durch Okkupation oder
Kapitulation auf Kosten der Palästinenser lösen zu
können. Genau hierin besteht das Verdienst der PLO und ihres
langjährigen Führers, Jassir Arafats.
Zur historischen Wahrheit gehört auch, dass die
zionistische Landnahme in Palästina zunächst durch
legalen Kauf von Ländereien erfolgte und auf jüdischer
Seite von der Intention einer friedlichen Koexistenz bestimmt war,
die an den örtlichen Herrschaftsstrukturen scheiterte.
Für die in Palästina herrschenden Clans war es ein
Leichtes, die Folgen des Verkaufs der Ländereien und die
daraus resultierende, existenzielle Not der Landbevölkerung
politisch zu kanalisieren. Der arabische Aufstand von 1936 bis 1939
gegen die jüdische Einwanderung zerstörte so die letzten
Keime einer gemeinsamen Entwicklung in Wirtschaft und Gesellschaft
und legte in seiner Folge die Grundlagen für eine forcierte
autonome jüdische Entwicklung in Palästina.
Entscheidend für die Eskalation des arabisch-jüdischen
Konflikts bis zur Teilung Palästinas 1947 und damit auch
für die Gründung des jüdischen Staates 1948 war das
Scheitern der britischen Mandatspolitik in Palästina. Noch
während des Ersten Weltkrieges hatten London und Paris 1916 in
einem Geheimabkommen ihre Interessensphären im zerfallenden
Osmanischen Reiches abgesteckt. Ein Jahr später ließ
Außenminister Balfour dem Zionistenführer Lord Rothschild
übermitteln, Großbritannien befürworte "die
Schaffung einer nationalen Heimstätte in Palästina
für das jüdische Volk". 1922 schließlich erteilte
der Völkerbund Großbritannien das Mandat über
Palästina, nachdem ein Jahr zuvor das Gebiet des heutigen
Jordaniens de facto abgetrennt worden war. 1939 begrenzte London
die Zuwanderung strikt, und so begann noch während des Krieges
die illegale Einwanderung von Juden nach Palästina, die der
nationalsozialistischen Verfolgung entkommen konnten.
Als nach dem Sieg der Alliierten an der Küste des Heiligen
Landes immer mehr Schiffe mit illegalen Flüchtlingen, so
genannten "displaced persons", aufgebracht und zurückgeschickt
wurden, erhöhte der amerikanische Präsident Harry Truman
ab Oktober 1946 den Druck auf London, die Tore nach Palästina
zu öffnen. Dahinter stand auch die Hoffnung des
Roosevelt-Nachfolgers, jüdische Wählerschichten für
die Demokraten zurück zu gewinnen. Eine Rechnung, die bei den
Wahlen im November 1946 aufging. Ein halbes Jahr später
brachte Großbritannien das Palästina-Problem vor die UNO
und läutete damit das Ende seiner Mandatsherrschaft und einen
grundlegenden Macht- und Paradigmenwechsel in der gesamten
Nahostregion ein.
Die sich nun schrittweise herausbildende Nach-Kriegs-Ordnung war
nicht nur von den Vorboten des Kalten Krieges gekennzeichnet,
sondern auch von einer nationalen Befreiungsbewegung in den -
zumeist französischen und britischen - Kolonial-
beziehungsweise Mandatsgebieten Asiens und (später)
Afrikas.
Dass Moskau und Washington unisono, aber aus unterschiedlichen
Gründen, die Proklamation des jüdischen Staates
begrüßten und Israel aktiv unterstützten, als am Tag
danach arabische Truppen in einer "Polizeiaktion" den bewaffneten
Kampf aufnahmen, wird ohne diese veränderte globale
Machtkonstellation nicht verständlich.
Die sowjetische Führung hatte zu keinem Zeitpunkt
Sympathien für die zionistische Ideologie und Bewegung. Im
Gegenteil. Zweifellos setzte der Kreml zu Beginn auch Hoffnungen
auf das "sozialistische Potenzial" des Zionismus. Machtpolitisch
ließ man sich aber vor allem vom anti-kolonialen Charakter der
Auseinandersetzungen in Palästina leiten. Wenn Moskau Israel
im ersten Nahostkrieg von 1948 unterstütze, dann deshalb, weil
die sich formierende israelische Armee ihre Wurzeln im
anti-kolonialen Kampf gegen die britische Mandatsherrschaft hatte
und der junge jüdische Staat sich am 15. Mai mit einer
Invasion reaktionärer arabischer Regimes konfrontiert sah.
Sympathien in den USA
In Washington hingegen gab es eine wachsende Sympathien für
die zionistische Bewegung. Die entsprang nicht nur moralischen
Verpflichtungen amerikanischer Außenpolitik nach dem Holocaust
und erstarkendem jüdischen Lobbyismus in den USA, sondern
wurzelte auch in dem machtpolitischem Kalkül, die britische
Vorherrschaft im Nahen und Mittleren Osten vor dem Hintergrund des
sich abzeichnenden Ost-West-Konfliktes abzulösen.
Erst nach dem Sechs-Tage-Krieg im Oktober 1967, mit dem Israel
einer arabischen Invasion zuvor kam und sein Staatsgebiet auf die
heute zu verhandelnden Grenzen erweiterte, senkte sich der Schatten
des Kalten Krieges endgültig über die gesamte Region.
Gleichzeitig wurde diese Niederlage der Araber zur Geburtsstunde
der palästinensischen Nationalbewegung für einen eignen
Staat. Beides hat den grundlegenden Widerspruch zwischen dem
Anspruch zweier Völker auf eine gesicherte und
eigenständige Existenz im Heiligen Land über Jahre
geprägt, überformt und schließlich so verfestigt,
dass die Zwei-Staaten-Lösung heute die einzig möglichen
Alternative ist, diesen Anspruch einzulösen.
Dr. Torsten Wöhlert ist Pressesprecher des Berliner
Kultursenators.
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