Heiner Timmermann
Erstes höfliches Treffen der Großen
Vier nach Beginn der Konfrontation
Die Verhandlungsrichtlinien der sowjetischen
Seite für die Genfer Konferenz 1955
Die Wissenschaftliche Abteilung des sowjetischen
Außenministeriums stellte ein Konvolut von 66 Dokumenten und
Analysen zur internationalen Politik für die Delegation der
UdSSR am 13. Juli 1955 zusammen (Archiv des Außenministeriums
der Russischen Föderation 06 1955/14 3 39 bis 42).
Am wichtigsten für die sowjetische Delegation waren die
Verhandlungsrichtlinien, die am 15. Juli 1955 vom Politbüro
des ZK der KPdSU gebilligt wurden (Archiv des
Außenministeriums der Russischen Föderation 061955/14 3
43). Es handelt sich um die zweite Fassung. Die erste wurde von der
Wissenschaftlichen Abteilung des Außenministeriums der UdSSR
vom 2. bis 12. Juli 1955 erarbeitet. Diese wurde parallel im
Außenministerium und Politbüro beraten, vom 13. bis 15.
Juli 1955 überarbeitet und am 15. Juli 1955 verabschiedet.
Dieses als "Streng Geheim" klassifizierte 49-seitige Dokument
umfasst drei Teile: Richtlinien für die Delegation der UdSSR
zum Gipfeltreffen der Viermächte in Genf; zusätzliche
Anweisungen für die Delegationen der UdSSR auf der Konferenz
und die Erklärung der Regierungsdelegation der UdSSR.
Die Texte 1 und 2 wurden bisher nicht veröffentlicht und in
der wissenschaftlichen Literatur auch noch nicht verwertet. Teile
flossen allerdings ein in die sowjetischen Vorschläge, die
während der Konferenz unterbreitet und inzwischen auch
publiziert wurden.
Die UdSSR war vor allem an der Erörterung folgender Fragen
interessiert: Abrüstung; Verbot von Atomwaffen; Schaffung
eines Systems kollektiver europäischer Sicherheit; Probleme im
Fernen Osten.
Die Deutsche Frage sollte nicht durch Initiative der UdSSR
aufgeworfen werden. Das ist verwunderlich, mussten doch die
Verfasser der Richtlinien durch die vorausgegangenen Gespräche
und Notenwechsel wissen, dass diese Frage für die
Westmächte eine zentral war. Sollte von westlicher Seite die
Deutsche Frage zur Erörterung gebracht werden, so sollten
Grotewohl und Adenauer hierzu gehört werden.
Versuche des Westens, die Lage in den Volksdemokratien, in der
UdSSR oder Fragen des Kommunistischen Informationsbüros zu
besprechen, sollten abgelehnt werden. Sollte die Konferenz ihre
Beratungen ohne Tagesordnung beginnen, so sollte sich die
sowjetische Delegation von der in diesen Richtlinien aufgestellten
Prioritätenliste leiten lassen. Die Delegation sollte
beachten, dass die Positionen der Westmächte untereinander
nicht identisch seien ( in Asien, im Fernen Osten, in der
Indochinafrage und in der Deutschen Frage). Westliche Differenzen
sollten zur Durchsetzung eigener Standpunkte genutzt werden.
Die Richtlinien zählten detailliert sieben Komplexe auf: I.
Abrüstung und Verbot von Atomwaffen; II. Schaffung eines
europäischen Sicherheitssystems; III. Vertragsabschluss
zwischen den Bündnissen; IV. Die Deutsche Frage; V. Probleme
in Asien und im Fernen Osten; VI. Deklaration der Mächte; VII.
Fragen, die die Westmächte aufwerfen könnten.
Verhandlungsmargen: Abrüstungskontrolle, Verbot von
Atomwaffen. Eine UNO-Deklaration sowie eine gemeinsame
Erklärung sollten dieses Problem lösen.
Ziel sollte sein, durch eine neue Sicherheitsregelung NATO und
Warschauer Vertrag außer Kraft zu setzen. Hier sollte die
UdSSR daran denken, dass die Westmächte einen solchen
Vertragsabschluss mit der Akzeptierung des Eden-Plans zur Bedingung
machen würden, also freie Wahlen in Gesamtdeutschland und die
Herstellung der deutschen Einheit.
Für diesen Fall sollte folgendes gelten: Die sowjetische
Delegation dürfe nicht den Eindruck erwecken, dass sie gegen
die deutsche Einheit sei. Sollte der Eden -Plan eingebracht werden,
sollte man darauf verhandeln, dass es gegen ihn keine Bedenken
gäbe, falls man sich auf eine entsprechende Vereinbarung
einigen könne. Sollten sich die Westmächte gegen die
sowjetischen Vorstellungen wenden, könnte man eine engere
Zusammenarbeit zwischen den beiden deutschen Staaten erörtern,
insbesondere: Diplomatische, kulturelle und Handelsbeziehungen
sowie Beziehungen in den Bereichen Wissenschaft und Sport. Die
UdSSR sollte vorschlagen, besondere deutsch-deutsche Komitees
einzurichten.
In Bezug auf Probleme in Asien und im Fernen Osten war das Ziel,
die Volksrepublik China zum Mitglied der UNO und Ständigen
Mitglied im Sicherheitsrat zu machen. Sollten die Westmächte
Mitgliedschaft und Ständiges Ratsmitglied auseinander halten
wollen, sei dieses abzulehnen. Es sei zu verhandeln, dass Taiwan
Teil der Volksrepublik China ist. Ferner wurden
Verhandlungsrichtlinien zu Vietnam, Laos und Kambodscha formuliert,
die allerdings keine Rolle spielten.
Es sollte angestrebt werden, zumindest eine gemeinsame
Deklaration zu verabschieden. Ein Entwurf wurde den Richtlinien
beigefügt. Dabei ging es um Fragen, die die Westmächte
aufwerfen könnten:
Herrschaftssysteme in den volksdemokratischen Ländern.
Solche Fragen sollte die Delegation für
nichtdiskussionswürdig erachten. Der Versuch einer Diskussion
über den internationalen Kommunismus sollte abgelehnt werden
mit der Begründung, man sei zusammengekommen, um die
zwischenstaatlichen Beziehungen zu erörtern. Das Thema der
sowjetisch-jugoslawischen Beziehungen sollte aufgeworfen werden.
Sollten die Westmächte dieses Thema aufgreifen, sollte man auf
die sowjetisch-jugoslawische Deklaration vom 2. Juli 1955
verweisen. Es sollte zu verstehen gegeben werden, dass man alle
Fragen auf einer UdSSR-USA-Konferenz oder auf traditionellen
diplomatischen Wegen erörtern sollte. Bei einer eventuellen
zweiseitigen sowjetisch-britischen Erklärung sollte sich die
sowjetische Delegation von folgendem leiten lassen:
- Erweiterung der Handelsbeziehungen,
- Austausch von Informationen auf den Gebieten der Technik und
der Landwirtschaft,
- Nutzung der Atomenergie.
Für den Fall, dass die britische Regierung Forderungen aus
den Konzessionsverträgen mit den britischen Firmen "Tetucen
und "Lena Goldfield" aus den Jahren 1924 und 1925 erhebt, solle
unter anderem mit der Beschlagnahme der Kriegsschiffe Litauens,
Lettlands und Estlands und deren Bankreserven durch die Briten
reagiert werden.
In Bezug auf Frankreich sollte darauf verwiesen werden, dass die
sowjetische Regierung zu vertraulichen Gesprächen mit der
französischen Regierung bereit sei, die den Beziehungen
Frankreichs zu anderen Ländern nicht schaden würden. In
bezug auf Südvietnam sollte angedeutet werden, dass die UdSSR
eine größtmögliche Unterstützung zukommen
lasse.
Bei Erörterung sowjetisch-französischer Beziehungen
sollte die Bereitschaft zum Ausdruck kommen, nach Möglichkeit
über Kultur-, Handels- und Wirtschaftsbeziehungen Abkommen zu
schließen.
West-Interalliierte Beratungen unter zeitweiliger Beteiligung
der Deutschen fanden vom 27. April bis 5. Mai 1955 in London, vom
8. bis 14. Juni 1955 in Washington und danach bis unmittelbar vor
der Konferenz in Paris statt. Sie legten ihren Regierungen drei
detaillierte Empfehlungen für die Verhandlungen mit der UdSSR
vor. Am 17. Juli 1955 trafen sich die Regierungschefs der drei
Westmächte in Genf zur letzten Absprache vor Konferenzbeginn
am 18. Juli 1955. Ferner gab es Papiere der Briten, Amerikaner und
Franzosen zur Verhandlungsführung. Deren Inhalte lassen sich
so zusammenfassen:
1. Deutschland und europäische Sicherheit
Freie Wahlen und anschließende Bündniswahlfreiheit des
vereinten Deutschlands, wie im Eden-Plan von 1954 bereits
formuliert.
2. Berücksichtigung sowjetischer Sicherheitsinteressen
durch ein europäisches Sicherheitssystem
3. Abrüstungsfragen
4. Aktivitäten des internationalen Kommunismus
5. Stellung der sowjetischen Satellitenstatten
6. Eiserner Vorhang
7. Kriegsgefangene
8. Ferner Osten
Die vier Delegationen waren durch umfangreiche Papiere und
Verhandlungsrichtlinien und zusätzliche Anweisungen sehr gut
vorbereitet. Der Umfang der Konferenzthemen wurde in der
Vormittagssitzung der Außenminister festgelegt: 1.
Wiedervereinigung Deutschlands, 2. europäische Sicherheit, 3.
Abrüstung, 4. Entwicklung von Kontakten zwischen Ost und West.
Interessant ist die Tatsache, dass die Deutsche Frage vorrangig
behandelt wurde, obwohl man in den Richtlinien der UdSSR davon
ausging, dass dieses Thema eventuell nicht behandelt
würde.
Die Konferenz fand vom 18. bis 23. Juli 1955 statt. Die
Bundesrepublik und die DDR waren durch "Beobachter"-Delegationen
vertreten. Es gab Treffen der Regierungschefs, der
Außenminister und bilaterale Arbeitsessen. Trotz
divergierender Auffassungen konnten sich die Regierungschefs durch
Einklammerung der Gegensätze in weit gefasste Formeln auf
Weisungen einigen, die ihren Außenministern als Grundlage
weiterer Beratungen auf der für Oktober 1955 anberaumten
Außenministerkonferenz dienen sollten. Das Genfer
Gipfeltreffen blieb nicht ohne Folgen: Zum ersten Male seit Beginn
der Konfrontation zwischen Ost und West hatten sich die
Regierungschefs der Großen Vier wieder in höflicher Form
miteinander beraten, hatten ihre grundsätzliche
Kooperationsbereitschaft betont. Doch die großen Krisen
sollten erst noch kommen: 1956: Polen und Ungarn (und Suez), 1961:
Berlin; 1962; Kuba, 1968: CSR.
Professor Heiner Timmermann ist Direktor des
Sozialwissenschaftlichen Instituts der Europäischen Akademie
Otzenhausen.
Zurück zur
Übersicht
|