Jens Martens und Achim Maas
Hoffnungen auf die Friedensdividende
60 Jahre Entwicklungspolitik der Vereinten
Nationen
Unaufhaltsam nähert sich der
"Millennium+5"-Gipfel der Vereinten Nationen im September dieses
Jahres. UN-Generalsekretär Kofi Annan sieht in ihm eine
historische Chance, bei der Verwirklichung der international
vereinbarten Entwicklungsziele einen Durchbruch zu erreichen.
Einige der diskutierten Ziele sind keineswegs neu, sondern haben in
den Vereinten Nationen inzwischen eine lange Tradition. Das gilt
insbesondere für das Ziel, die öffentliche
Entwicklungshilfe der Geberländer auf 0,7 Prozent ihres
Bruttonationaleinkommens zu erhöhen. Dieses Ziel wurde schon
in den 1960er-Jahren definiert und schließlich von der
UN-Generalversammlung in Resolution A/RES/2626 (XXV) beschlossen -
am 25. Jahrestag der Vereinten Nationen 1970.
Und auch davor war die Entwicklung der
Länder des Südens für die Vereinten Nationen ein
Thema. Mit der Dekolonisation in den 1950er- und 1960er-Jahren
gewann die Entwicklungspolitik in den Vereinten Nationen an
Bedeutung. Zum Ost-West-Konflikt des Kalten Krieges trat damals der
Nord-Süd-Konflikt.
Entwicklungspolitik war implizit schon in der
Charta der Vereinten Nationen von 1945 vorgesehen. "[…] den
wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt aller Völker zu
fördern", wurde dort als Ziel benannt. In den Anfangsjahren
konzentrierte sich die "Entwicklungshilfe" auf die technische
Unterstützung beim Wiederaufbau der im Zweiten Weltkrieg
zerstörten Länder Europas. Im Zuge der Dekolonisation
änderten sich die Mehrheitsverhältnisse in den Vereinten
Nationen, die Entwicklungsinteressen des Südens traten in den
Vordergrund. Im Dezember 1961 rief die Generalversammlung die
60er-Jahre zur Ersten Entwicklungsdekade der Vereinten Nationen
aus. Damals dominierten modernisierungstheoretische Konzepte
nachholender Entwicklung. Notwendig sei ein "big push"
ausländischen Kapitals, um in den Entwicklungsländern den
"take off" hin zu dauerhaftem Wirtschaftswachstum zu
ermöglichen. Um diesen Trend zu unterstützen, wurde eine
Reihe neuer Entwicklungsinstitutionen gegründet, allen voran
die Internationale Entwicklungsorganisation (IDA) als Tochter der
Weltbank 1960, das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen
(UNDP) 1965 und die UN-Organisation für industrielle
Entwicklung (UNIDO) 1966.
Im Laufe der Jahre wurde immer deutlicher,
dass Grund für die Entwicklungsprobleme nicht allein der
Mangel an Kapital war, sondern die internen Gesellschaftsstrukturen
und die ungerechten Weltwirtschaftsbeziehungen wesentliche
Entwicklungshindernisse darstellten. Die Folge waren Forderungen
der Entwicklungsländer nach einer neuen Weltwirtschaftsordnung
und nach globaler Umverteilung der Ressourcen. Die
Auseinandersetzungen zwischen Nord und Süd verschärften
sich. Hauptschauplatz erbitterter Konflikte war in den
1970er-Jahren neben der UN-Generalversammlung die UN-Konferenz
für Handel und Entwicklung (UNCTAD).
Am Ende scheiterten die Länder der
Dritten Welt mit ihren Forderungen nach gerechteren
Weltwirtschaftsstrukturen am Widerstand der Industrieländer.
Durch die sich verschärfende Schuldenkrise gerieten sie in den
1980er-Jahren immer weiter in die politische Defensive und in
wachsende Abhängigkeit zu ihren Gläubigern. Die
entwicklungspolitische Meinungsführerschaft verlagerte sich in
diesen Jahren zur Weltbank und dem Internationalen
Währungsfonds (IWF), die im globalen Schuldenmanagement die
zentrale Rolle spielten. Als politisches Ziele war in den 1980er-
Jahren kaum noch von "Entwicklung", als vielmehr von
"Strukturanpassung" die Rede. Die Vereinten Nationen verloren
dagegen im Wirtschafts- und Sozialbereich zunehmend an
Bedeutung.
Umweltschutz als neues Thema
Parallel zu den Auseinandersetzungen zwischen
Nord und Süd tauchte Anfang der 70er-Jahre ein neues Thema auf
der internationalen Agenda auf: Die Umweltpolitik. Spätestens
mit der Stockholmer Umweltkonferenz 1972 wurde der Schutz der
Umwelt zur Aufgabe der Vereinten Nationen erklärt. Ein Jahr
später nahm das Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP)
in Nairobi seine Arbeit auf. Im Laufe der folgenden Jahre leistete
UNEP die Vorarbeiten für zahlreiche wichtige Umweltabkommen,
wie die Konventionen zur biologischen Vielfalt, zum Klimawandel und
zur Desertifikation. Dennoch gelang es nicht, UNEP zu einer
wirklich schlagkräftigen Organisation auszubauen. Dem Programm
fehlten die Durchsetzungs- und Kontrollkompetenzen gegenüber
den mächtigen Wirtschafts- und Finanzinstitutionen, aber auch
gegenüber Regierungen und den immer einflussreicheren
transnationalen Unternehmen. Es blieb zudem chronisch
unterfinanziert und führte fast 20 Jahre innerhalb des
UN-Systems ein (umwelt-)politisches Nischendasein.
Erst 20 Jahre nach der ersten Umweltkonferenz
der Vereinten Nationen gelang es 1992 beim "Erdgipfel" in Rio de
Janeiro, die globale Umweltpolitik aufzuwerten. Umwelt- und
entwicklungspolitische Ziele wurden dort im Konzept der
nachhaltigen Entwicklung (sustainable development) vereint. Im Kern
versuchte der Ansatz von Rio den ganzheitlichen Charakter von
Entwicklung zu betonen, indem er die Ziele ökologischer
Tragfähigkeit, sozialer Gerechtigkeit, wirtschaftlicher
Effizienz sowie gesellschaftlicher Teilhabe und Demokratie
miteinander verband. Die Agenda 21, das Aktionsprogramm der
Rio-Konferenz, wurde in den 1990er Jahren zum wichtigsten
Referenzdokument internationaler Umwelt- und
Entwicklungspolitik.
Die 1990er-Jahre boten für die Vereinten
Nationen Anlass zur Hoffnung: Der Fall der Mauer in Berlin 1989 und
das dadurch eingeleitete Ende des Kalten Krieges versprach eine
große Friedensdividende und die Chance, nach Überwindung
des Ost-West-Konflikts endlich alle Energien auf die
Überwindung der globalen Entwicklungsdisparitäten zu
richten.
Weltkonferenzen
Mit einer Kette von Weltkonferenzen gewannen
die Vereinten Nationen als Ort globaler Entwicklungspolitik wieder
stärker an Bedeutung. Bei der Rio-Konferenz 1992 wurde eine
Hauptursache der globalen Probleme in den nicht nachhaltigen
Produktions- und Konsumformen des Nordens gesehen. Daraus folgte
das in der Rio-Deklaration verankerte Prinzip der "gemeinsamen aber
unterschiedlichen Verantwortung" für die Erhaltung der
Ökosysteme der Erde, das erstmals in der Geschichte für
die Industrieländer eine völkerrechtsverbindliche
Verpflichtung zu Kompensationsleistungen und Ressourcentransfer
begründete. Die Weltkonferenzen der darauffolgenden Jahre
untermauerten den auf Rechtsansprüchen basierenden
Entwicklungsansatz. Die Wiener Menschenrechtskonferenz betonte 1993
das Recht auf Entwicklung und die Bedeutung der wirtschaftlichen,
sozialen und kulturellen Menschenrechte, der Weltsozialgipfel von
Kopenhagen unterstrich 1995 die sozialen Rechte der Arbeitnehmer,
und die Pekinger Weltfrauenkonferenz bekräftigte im selben
Jahr die Ziele der Nichtdiskriminierung und Gleichstellung der
Geschlechter als Menschenrechte.
Aus diesen Ansätzen folgte die
unmittelbare Verantwortung der Staaten zu handeln und die
Verpflichtungen der Regierungen zu einer aktiven Wirtschafts-,
Sozial-, Umwelt- und Entwicklungspolitik - auch auf multilateraler
Ebene. Die Aktionsprogramme der Weltkonferenzen forderten daher
unisono auch eine Stärkung der Vereinten Nationen im
Wirtschafts- und Sozialbereich.
Die Aufbruchstimmung der Weltkonferenzen
zerstob jedoch rasch. Denn parallel zu den eher
wohlfahrtsstaatlichen ("sozialdemokratischen") Ansätzen der
UN-Konferenzen gewannen in den 1990er Jahren die Ansätze
neoliberaler Globalisierung, wie sie von IWF, Weltbank und der 1995
neugegründeten Welthandelsorganisation (WTO) propagiert
wurden, weiter an Bedeutung. Sie setzten auf das Primat von
wirtschaftlicher Stabilität und Wachstum, die Öffnung der
Märkte, Deregulierung und Privatisierung. Damit standen sie
zum Teil in offenem Gegensatz zu den Politikrezepten der
UN.
Um die konkurrierenden
Entwicklungsansätze miteinander zu "versöhnen",
bemühten sich seit Mitte der 90er-Jahre die Vereinten
Nationen, die Weltbank und der IWF gemeinsam, ein Set von
entwicklungspolitischen Kernzielen zu definieren, über die ein
politischer Konsens bestand. Ergebnis waren die
Millenniumsentwicklungsziele (MDGs), die von den Staats- und
Regierungschefs beim Jahrtausendgipfel der UN im September 2000
verabschiedet wurden. Dahinter verbirgt sich die Konzentration der
Entwicklungspolitik auf ein Set von acht Zielen vor allem im
Bereich von Armutsbekämpfung, Bildung und Gesundheit, die
überwiegend spätestens bis zum Jahr 2015 verwirklicht
werden sollen. Ziel Nummer 1 ist die Halbierung des Anteils
derjenigen Menschen, die in "extremer Armut", das heißt
für die meisten von ihnen, weniger als einem US-Dollar am Tag
leben müssen.
Globale Koalition
Wohl noch nie gab es im
entwicklungspolitischen Dis-kurs eine derartige Eintracht. Die
Millenniumsziele werden - als scheinbar kleinster gemeinsamer
entwicklungspolitischer Nenner - von einer breiten globalen
Koalition getragen, die von der Bush-Administration in Washington
bis zum Weltsozialforum in Porto Alegre reicht. Im September 2005
sollen auf einem weiteren Gipfeltreffen der Staats- und
Regierungschefs in New York die nächsten Schritte zur
Verwirklichung der MDGs und zu institutionellen Reformen der UN
beschlossen werden. Kofi Annan hat dazu ein ambitioniertes
Reformpaket vorgelegt. Ob es sich realisieren lässt, bleibt
angesichts der eher trüben Bilanz von fast 60 Jahren
Entwicklungspolitik unter dem Dach der Vereinten Nationen
fraglich.
An Strategien und konkreten Konzepten mangelt
es nicht. Entscheidend ist allein die Bereitschaft der Regierungen,
über den Schatten kurzsichtiger Partikularinteressen zu
springen und der multilateralen Entwicklungszusammenarbeit
größeres politisches Gewicht beizumessen. Das Motto der
UN-Millenniumskampagne für den Gipfel im September 2005 steht
jedenfalls seit längerem schon fest: An die Adresse der
Regierungen gerichtet lautet es: "No excuse" - keine Entschuldigung
mehr für gebrochene Versprechen!
Jens Martens ist Geschäftsführer, Achim Maas freier
Mitarbeiter des "Global Policy Forum Europe".
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