Peter Wahl
"Die Politik ist zur Geisel der Finanzmärkte
geworden"
Globalisierung: Viele Verlierer und wenige
Gewinner
Die Woge der Globalisierung wird alle, die großen Tanker
wie die kleinen Boote, emporheben. Liberalisierung bringt Wachstum,
und Wachstum bringt Wohlstand für alle. Das war der Tenor, mit
dem dem Süden vor zwei Jahrzehnten die große Wende
versprochen wurde. Ein neues Paradigma war auf den Plan getreten.
Seine Protagonisten verkündeten, man müsse nur den
Einfluss des Staates zurückdrängen, private Unternehmen
stärker Zuge kommen lassen, umfassend liberalisieren und
deregulieren, dann würde der Markt es schon richten. Dieses
Weltbild, das neoliberale, wurde hegemonial und zur Richtschnur der
Globalisierung. Die Transnationalisierung von Märkten und
Kommunikation - der Kern dessen also, was Globalisierung ausmacht -
wurde von dem neuen Leitbild strukturiert.
Armut ist kein Randproblem
Als dann in den frühen 90er-Jahren die privaten
Finanzströme in den Süden rasant anstiegen, schienen sich
die Versprechungen auch empirisch zu bestätigen. Die
Wachstumsraten in einigen emerging markets, vorneweg China, waren
enorm. Aber Wachstum per se heißt noch nicht Entwicklung. Es
kommt darauf an, dass die Verteilungsmechanismen funktionieren und
die ökonomisch verwundbaren und sozial schwachen Schichten von
den Wachstumseffekten erreicht werden. Genau dies ist nach mehr als
zwei Jahrzehnten neoliberaler Globalisierung nicht der Fall.
Im Gegenteil: 1,2 Milliarden Menschen müssen von weniger
als einem US-Dollar pro Tag leben. Dies bedeutet ständigen
Kampf ums physische Überleben, keine medizinische Versorgung,
keinen Zugang zu Bildung, sauberem Wasser und sicheren
sanitären Einrichtungen. Aber auch das doppelte Einkommen
bedeutet noch immer Armut. Weitere 1,6 Milliarden Menschen
müssen mit weniger als 2 Dollar auskommen. Insgesamt leben
also 2,8 Milliarden Menschen in absoluter Armut - 45 Prozent der
Weltbevölkerung.
Doch wäre auch mit dieser Zahl das Problem noch immer nicht
adäquat erfasst. So ist es in der Armutsforschung Konsens,
dass Armut nicht nur zum physischen Existenzminimum in Relation zu
setzen ist, sondern auch zum sozialen und kulturellen
Gesamtzusammenhang einer Gesellschaft. "Armut wird als auf einen
mittleren Lebensstandard bezogene Benachteiligung aufgefasst." Man
spricht dann von relativer Armut. Legt man diese Definition
zugrunde, lebt mehr als die Hälfte der Menschheit in Armut,
darunter ein wachsender Anteil in den Industrieländern.
"Armut inmitten von Überfluss ist die größte
Herausforderung für die Welt," so Weltbankchef Wolfensohn. Die
neoliberalen Rezepte haben vor dem Problem vollständig
versagt. Dem "Washington Konsens" bescheinigt inzwischen daher auch
das BMZ: "Leider brachte dieser Ansatz in den meisten Fällen
nicht den Erfolg, der erhofft worden war."
Umverteilungsmaschine
Es wäre verkürzt, Armut allein auf die neoliberal
dominierte Globalisierung zurückzuführen. Armut hat
komplexe Ursachen. Da gibt es endogene, zum Teil historisch tief
verwurzelte Faktoren sowie Schwächen des politischen Systems.
Aber die weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen spielen eine immer
größere Rolle. Dies gilt umso mehr, je weiter ein Land in
die globale Ökonomie integriert ist. Gerade die Globalisierung
hat die Entwicklungsländer verwundbarer gegenüber
externen Schocks gemacht.
Sie hat deshalb dazu geführt, dass die soziale
Polarisierung zwischen Nord und Süd sowie innerhalb der
Gesellschaften zwischen unten und oben sich verschärft hat.
Während der Abstand im Bruttoinlandsprodukt zwischen Nord und
Süd 1960 nur bei 1:30 lag, betrug er 1990 1:60, das
heißt, er hat sich in diesem Zeitraum verdoppelt. Von 1990 bis
1997, in der Hochzeit der Globalisierung, beschleunigte sich das
Auseinanderdriften noch einmal auf 1:74. Unter
entwicklungspolitischer Perspektive wirkt die Globalisierung als
gigantische Umverteilungsmaschine.
Infolge der Deregulierung des Finanzsektors nach Ende des
Systems der festen Wechselkurse 1973 haben die Volatilität und
systemische Instabilität des Finanzsystems drastisch
zugenommen. Dies führt immer häufiger und in immer
kürzeren Abständen zu Crashs - 1994 Mexiko,
Südostasien 1997/98, 1999 Brasilien und Russland, 2001
Türkei und Argentinien - durch die über Nacht
Entwicklungsanstrengungen von Jahren zunichte gemacht werden.
Aber auch ohne krisenhafte Entwicklung verursacht das quasi
"normale" Funktionieren der Finanzmärkte Probleme für
Entwicklungsländer: Die Abhängigkeit von externer
Finanzierung und das Drohpotential der Finanzmarktakteure, ihr
Kapital jederzeit abziehen zu können, hat den Regierungen die
Zins- und Wechselkurshoheit aus der Hand genommen. "Als Resultat
der erweiterten Exit-Option, die das Kapital genießt", stellt
der ehemalige Chefökonom der UNCTAD fest, "ist die Politik der
Regierungen jetzt zur Geisel der Finanzmärkte geworden." Die
Volatilität der Wechselkurse führt zu ständigem
Schwanken in der Schuldendienstzahlung und zu deren
Unberechenbarkeit, die Absicherung des Handels gegen die
Wechselkursrisiken verteuert Importe und Exporte, zur Absicherung
der Außenwirtschaftsbeziehungen sind Entwicklungsländer
gezwungen, hohe Währungsreserven zu halten und zur
Stützung der eigenen Währung einzusetzen.
Die Schuldenkrise 1984 wäre nicht möglich gewesen ohne
die Liberalisierung und Deregulierung der Finanzmärkte. Sie
war eine der ersten großen Globalisierungskrisen und ist
für viele Länder, darunter die ärmsten, seit einem
Vierteljahrhundert eine unüberwindbare Entwicklungsblockade.
Gleichzeitig ist die Geschichte des Schuldenmanagements eine Kette
von Fehlschlägen. Zieht man nach fast zwei Jahrzehnten
Schuldenkrise Bilanz, so muss man feststellen: Es wurden jahrelang
- und es werden noch immer - gigantische Summen an
Schuldendienstzahlungen geleistet, die Zwangslage der
Entwicklungsländer wurde genutzt, ihnen über die
Strukturanpassungsprogramme eine neoliberale Ordnungspolitik
aufzuzwingen. Die Transformationen im Zuge der Schuldenkrise
verursachten hohe soziale Kosten, die vor allem die sozial
Schwachen treffen.
Die Macht transnationaler Konzerne
In Kombination mit den technologischen Umbrüchen hat die
Liberalisierung der Finanzmärkte auch starke Impulse für
die Globalisierung der Wertschöpfung freigesetzt. Damit sind
die ökonomischen Spielräume, Macht und Einfluss
transnationaler Konzerne beträchtlich gewachsen. Heute sind
von den global 100 größten ökonomischen Akteuren 51
Transnationale Unternehmen. Die Unternehmen orientieren sich
natürlich am Shareholder Value und nicht an
entwick-lungspolitischen Zielen. Angesichts dessen haben
Entwicklungsländer kaum Chancen, entwicklungspolitische
Interessen durchzusetzen. Wenn sie überhaupt noch
Investitionen erhalten wollen, zwingt sie der globale
Standortwettbewerb zu allen möglichen Zugeständnissen -
Bereitstellung von Infrastruktur, unbeschränkter
Profittransfer, Einrichtung von Freihandelszonen,
Steuererleichterungen.
Gleichzeitig führt die Öffnung für die
ausländischen Wettbewerber dazu, dass einheimische Unternehmen
niederkonkurriert werden.
Offene Finanzmärkte und Internationalisierung der
Produktion haben Rückwirkungen auf den internationalen Handel.
Der Welthandel hat daher in den 90er- Jahren einen besonders
starken Wachstumsschub erlebt. Für die meisten
Entwicklungsländer hat die Liberalisierung jedoch nicht die
erhofften Ergebnisse gebracht. Untersuchungen kommen immer wieder
zu dem Schluss, dass der Wechsel zu einem offeneren
Außenhandelsregime die Situation gerade der ärmsten
Bevölkerungsgruppen sogar verschlechtert, zum Beispiel wenn
durch Zollsenkungen die Staatseinnahmen sinken, was wiederum zu
Kürzungen bei Bildung, Sozialem oder
Nahrungsmittelsubventionen führt.
So wie der Manchesterkapitalismus des 19. Jahrhunderts
gezähmt und zivilisiert wurde - wenn auch nur durch
langwierige soziale und politische Augeindersetzungen - so kann die
Globalisierung, die zu einem neuen, globalen Manchesterkapitalismus
mutiert ist, gezähmt und zivilisiert werden. Eine andere
Globalisierung ist möglich. Konkrete Vorschläge
dafür liegen auf dem Tisch.
Gerechtigkeit Solidarität und Schutz der Umwelt
könnten leichter als je zuvor globalisiert werden. Noch nie in
der Menschheitsgeschichte hat es so viel Reichtum, Wissen und
technologische Möglichkeiten gegeben wie heute. Sie
müssen auf intelligente Weise eingesetzt und gerecht verteilt
werden. Dann ist genug für alle da.
Peter Wahl ist Mitarbeiter der NGO Weltwirtschaft, Ökologie
& Entwicklung - WEED mit Sitz in Bonn und Berlin und Mitglied
im Koordinierungskreis von Attac Deutschland.
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