Hans-Georg Ehrhart
Europa in neuer Rolle: als "Friedensmacht"
Die außenpolitischen Strategien der
Europäischen Union
1945 lag Europa in Schutt und Asche, ein
historischer Wendepunkt war erreicht. Macht- und
Nationalitätenkonflikte im 19. Jahrhundert und zwei von
Deutschland angezettelte Weltkriege in der ersten Hälfte des
20. Jahrhunderts hatten zur Bankrotterklärung militärisch
gestützter Weltmachtträume geführt. Die
europäischen Mächte wurden zu Objekten des von den neuen
Supermächten USA und Sowjetunion dominierten
Ost-West-Konflikts. Es sollte fast ein halbes Jahrhundert dauern,
bis sich die 1945 entstandene Weltordnung erneut umwälzte, so
dass sich für Europa die Chance ergab, als globaler
Sicherheitsakteur in Erscheinung zu treten.
Bis dahin durchlief Westeuropa eine
Formierungsphase, die zur Bildung der "Zivilmacht Europa"
führte. Sie basierte auf den in den 1950er-Jahren getroffenen
bündnis- und integrationspolitischen Entscheidungen, die der
Devise folgten "Sicherheit vor der Sowjetunion und vor Deutschland
durch politische, militärische und wirtschaftliche Integration
Westdeutschlands". Der Versuch, die politische und
militärische Integration innerhalb Westeuropas umzusetzen,
scheiterte allerdings. Sowohl das Projekt einer integrierten
Europäischen Politischen Gemeinschaft als auch das einer
Europäischen Verteidigungsgemeinschaft erwiesen sich
angesichts der kriegerischen Vergangenheit der neuen Partner als
verfrüht. Die militärische Sicherheit wurde folglich von
der NATO (19949/55) gewährleistet, während sich der
politische Zusammenschluss erst allmählich über
praktische wirtschaftliche Kooperation und Integration im Rahmen
der Montanunion (1951), der Europäischen
Wirtschaftsgemeinschaft EWG (1957) und der Europäischen
Atomgemeinschaft (1957) entwickelte.
Erste Bemühungen außenpolitischer
Zusammenarbeit führten zu Beginn der 1970er-Jahre zur
Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ). Diese
informelle Abstimmung wurde durch die Einheitliche Europäische
Akte 1986 formalisiert. Zudem erhielt der Rat erstmals
Zuständigkeiten in politischen und wirtschaftlichen
Sicherheitsfragen. Gleichwohl blieb die EG eine Macht, die sich
durch den zivilen Charakter ihrer Mittel und Zwecke auszeichnete.
Militärisch gestützte Machtpolitik blieb ihr
fremd.
Das Ende des Ost-West-Konflikts markiert
einen neuen historischen Wendepunkt, der die Entwicklung Europas im
Innern wie im Äußeren beschleunigte. Die Vollendung des
Binnenmarktes und der Wirtschafts- und Währungsunion mit der
gemeinschaftlichen Währung, dem Euro, sowie die Erweiterungen
von 1995 und 2004 waren entscheidende Schritte des "neuen" Akteurs
EU, zu dem sich die "alte" EG seit dem Vertrag von Maastricht zu
entwickeln begann. Darin wird auch eine Gemeinsame Außen- und
Sicherheitspolitik (GASP) vereinbart, die das Ziel hat, die
gemeinsamen Werte der Union zu wahren, die Sicherheit der Union und
ihrer Mitgliedstaaten sowie die internationale Sicherheit zu
stärken, den Frieden zu erhalten, die internationale
Zusammenarbeit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ebenso zu
fördern wie die Achtung der Menschenrechte und
Grundfreiheiten.
Allerdings mussten die EU in den
1990er-Jahren erfahren, dass es von der Proklamation hochtrabender
außen- und sicherheitspolitischer Ziele bis zu ihrer
praktischen Umsetzung ein weiter Weg ist. Insbesondere der
Balkankrieg zeigte gnadenlos die Schwächen der EU auf, mit
derartigen Gewaltkonflikten umzugehen. Die daraufhin erfolgte
Reform der GASP durch den Vertrag von Amsterdam enthielt im
Wesentlichen drei Neuerungen. Erstens wurde das Amt des Hohen
Beauftragten für die GASP geschaffen. Zweitens wurde ihm ein
Politischer Stab zur Seite gestellt, der sich mit politischer
Planung und Frühwarnung befasst. Drittens wurden die so
genannten Petersberg-Aufgaben - humanitäre und
friedenserhaltende Aufgaben sowie Kampfeinsätze zur
Krisenbewältigung, einschließlich Maßnahmen zur
Herbeiführung des Friedens - in den EU-Vertrag
überführt. Damit wurde das Krisenmanagement offizieller
Bestandteil der GASP.
Während des Kosovo-Konfliktes 1998/99
musste die EU erneut die Erfahrung machen, dass sie nicht in der
Lage war, der aggressiven nationalistischen Politik Serbiens ein
Ende zu setzen. Dieses Mal zogen die EU-Mitglieder die
Schlussfolgerung, eine gemeinsame Europäische Sicherheits- und
Verteidigungspolitik (ESVP) aufzubauen. Damit die EU ihre Rolle auf
der internationalen Bühne uneingeschränkt wahrnehmen
kann, sollte sie mit den entsprechenden Fähigkeiten und
Mitteln für die Konfliktverhütung und
Krisenbewältigung ausgestattet werden. Insgesamt sollte das
militärische und zivile Instrumentarium die Union in die Lage
versetzen, autonom auf internationale Krisensituationen zu
reagieren.
- Sie verfügt mittlerweile über
neue politisch-militärische Strukturen, wie etwa das für
die politische Kontrolle und die strategische Leitung einer
Krisenmanagementoperation zuständige Politische und
Sicherheitspolitische Komitee (PSK), den Militärausschuss, den
Ausschuss für ziviles Krisenmanagement und den
Militärstab, in dessen Rahmen zur Zeit ein
zivil-militärisches Operationszentrum aufgebaut
wird.
- Zudem sind die ursprünglich
definierten militärischen und zivilen Planziele für die
Entwicklung autonomer Kapazitäten von den Mitgliedstaaten
entweder partiell (militärisches Planziel) oder
vollständig (ziviles Planziel) erfüllt worden.
- Angesichts der veränderten
Sicherheitslage hat die EU neue militärische und zivile
Planziele bis 2010 beziehungsweise 2008 definiert. Sie umfassen zum
Beispiel die Koordinierung strategischer Transportkapazitäten
und die Aufstellung kleiner schneller Eingreifverbände oder
den Ausbau ziviler Kapazitäten.
- Darüber hinaus sind die
Petersberg-Aufgaben erweitert worden. So leistet die EU auch
koordinierte Beiträge bei der Reform des Sicherheitssektors,
bei der Demobilisierung und Reintegration von Kämpfern oder
bei der Abrüstung.
- Die EU hat seit 2003 erste Erfahrungen mit
Krisenmanagementoperationen gesammelt. Sie reichen von
Polizeimissionen in Bosnien, Mazedonien und im Kongo über
"Rule of law"-Missionen (Georgien) und gemischte Polizei/"Rule of
law"-Missionen (Irak) bis zu Militäroperationen (Mazedonien,
Bosnien, Kongo).
- Schließlich verfügt die EU seit
Ende 2003 über eine Europäische Sicherheitsstrategie
(ESS), welche die Grundlage für die neuen Planungen der ESVP
darstellt. Sie identifiziert fünf Schlüsselbedrohungen:
Terrorismus, Verbreitung von Massenvernichtungswaffen,
Regionalkonflikte, Staatszerfall und organisiertes Verbrechen. Ihre
Bearbeitung erfordert einen Mix von Instrumenten und differenzierte
Strategien. An erster Stelle steht für die EU die kooperative
Stabilisierung der direkten Nachbarschaft. Die Bearbeitung
internationaler Herausforderungen erfordert laut ESS einen
effektiven Multilateralismus, der das internationale Recht
schützt und stärkt. In diesem Kontext verweist sie auf
die UNO als den zentralen Rahmen und die vorrangige Verantwortung
des UN-Sicherheitsrats für die Erhaltung des internationalen
Friedens und der Sicherheit. Dementsprechend ist die EU
gegenwärtig dabei, die Zusammenarbeit mit der UNO im Bereich
der Krisenbearbeitung auszubauen.
Sind die transatlantischen Beziehungen ein
Kernelement des internationalen Systems, so ist die NATO ein
wichtiger Partner für die Durchführung von
EU-Krisenmanagementoperationen. Durch das 2003 in Kraft getretene
Berlin-Plus-Abkommen kann die EU auf Mittel und Fähigkeiten
des Bündnisses zurückgreifen, wie es zum Beispiel seit
Dezember 2004 in Bosnien geschieht. Wenn die EU gleichwohl auch
eigenständige Operationen durchführen können will
(wie bereits im Kongo geschehen), so geht es nicht um die
Durchsetzung nationaler Interessen durch Krieg, sondern um zeitlich
begrenztes Krisenmanagement auf der Grundlage der geltenden
internationalen Ordnung.
Allem Anschein nach entwickelt die EU ein
neues außen- und sicherheitspolitisches Leitbild, das als
Leitbild "Friedensmacht" bezeichnet werden kann. Diese
Friedensmacht ist weder ein ausschließlich auf zivile Mittel
setzender Akteur, noch verfolgt sie im Stile und mit den Mitteln
einer klassischen Großmacht militärische Machtpolitik.
Vielmehr ist sie ein internationaler Akteur, der die ganze Palette
seiner Fähigkeiten für die Prävention und
konstruktive Bearbeitung von Gewaltkonflikten im Rahmen
internationaler Governance-Strukturen einbringt.
Mehr als militärische und zivile
Macht
Im Gegensatz zu den Modellen der Zivil- und
der Militärmacht verfügt die Friedensmacht nicht nur
über zivile und militärische Macht, sondern sie hat die
völkerrechtlich konforme Bewahrung oder Wiederherstellung von
Frieden mittels einer integrierten Sicherheitspolitik zum Ziel, in
deren Mittelpunkt die menschliche Sicherheit steht. Sie ist also
normativ und funktional gebunden. Dementsprechend nennt Artikel I-3
des Verfassungsvertrages als Ziele der Union einen Beitrag zu
leisten "zu Frieden, Sicherheit, globaler nachhaltiger Entwicklung,
Solidarität und gegenseitiger Achtung unter den Völkern,
zu freiem und gerechten Handel, zur Beseitigung der Armut und zum
Schutz der Menschenrechte, insbesondere der Rechte des Kindes,
sowie zur strikten Einhaltung und Weiterentwicklung des
Völkerrechts, insbesondere zur Wahrung der Grundsätze der
Vereinten Nationen".
Auch wenn vieles der außenpolitischen
Programmatik der EU noch der Umsetzung harrt, ist doch die
Hinwendung zum Modell einer Zivilmacht à la EG oder zu dem
einer Militärmacht à la USA unrealistisch. Der
veränderte globale Kontext, die Qualität der
internationalen Herausforderungen und die komplexe Struktur der EU
erfordern es vielmehr, den Weg in Richtung einer globalen
Friedensmacht fortzusetzen und so einen europäischen Beitrag
zur Entstehung einer neuen Weltordnung zu leisten.
Dr. Hans-Georg Ehrhart arbeitet am Institut für
Friedensforschung und Sicherheitspolitik der Universität
Hamburg.
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