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Andreas Osner
Stabilitätsanker der Zivilgesellschaft
Erfahrungen aus der bürgerorientiertesten
Kommune Deutschlands
Freiwilliges Engagement und demokratische Teilhabe sind die
wichtigsten Kulturelemente der Zivilgesellschaft. Beides ist
allerdings nicht selbstverständlich: Mit Anreizen
unterschiedlicher Art und Eigeninitiativen der Kommunen können
sie effizient gefördert werden. Das nutzt letztlich dem ganzen
Gemeinwesen: Engagement und Teilhabe können so zu nachhaltigen
Trägern einer belebten Demokratie werden.
Samstagvormittag in einer Kleinstadt, irgendwo in Deutschland.
Der Kommunalwahlkampf läuft. Die Passanten eilen mit vollen
Einkaufstüten in der Hand über den Marktplatz, um noch
schnell etwas zu erledigen. Auf der Bühne steht ein
abgekämpfter Landespolitiker, der extra zur Unterstützung
des örtlichen Listenkandidaten eingeflogen wurde. In seiner
abgelesenen Rede appelliert er an das Verantwortungsgefühl der
Mitbürger und ruft alle auf, am Sonntag zur Wahl-urne zu
schreiten. Am Ende mündet sein Appell in die Feststellung
"Unsere Kommunen, das sind doch die Keimzellen der Demokratie."
Vorbeigehende Zuschauer werfen einen Blick auf die Bühne mit
dem örtlichen Listenplatzhalter, den sie nicht kennen. Einige
klatschen müde.
Diese erfundene Szenerie hat etwas Wahres an sich: Unsere
repräsentative Demokratie ist in die Jahre gekommen. Der
Mehltau der Parteienverdrossenheit hat sich über das Land
gelegt. Mit den alten Mitteln der Wählermobilisierung lockt
man heute kaum noch Wähler zur Urne. Die politischen Analysten
sind froh, wenn die Wahlbeteiligung in den Kommunen über 50
Prozent liegt. Gleichzeitig belegen repräsentative Umfragen,
dass trotz hoher Unzu- friedenheit mit den Leistungen von
Spitzenpolitikern in der Bevölkerung eine hohe
Wertschätzung der repräsentativen Demokratie besteht. 77
Prozent der Deutschen meinen, dass sie die beste Staatsform ist.
Interessant sind auch die hohen Vertrauenswerte, die die lokalen
Gemeindeverwaltungen unter den Bürgern genießen: Sie
liegen mit 1,2 auf einer Skala von -5 bis +5 ziemlich dicht hinter
den Gerichten, die einen Wert von 1,8 erreichen. Nur die Polizei
ist mit 2,7 noch besser angesehen.
Stabil geblieben ist die hohe Bereitschaft, sich zu engagieren.
Gut 34 Prozent der Deutschen arbeiteten Anfang 2004 in einem Verein
oder in freien Initiativen mit, Tendenz: steigend, so eine Studie
der Forschungsgruppe Wahlen. Deutschland verfügt über ein
enormes Potenzial im Bereich der Beteiligung und des
Bürgerengagements, das genutzt werden will. Allerdings wandelt
sich deren Struktur: Weg von traditionellen Verbänden, den
Kirchen, den Parteien, hin zu innovativeren Formen und zeitlich
befristeten, projektbezogenen Engagements. Auch die
Rahmenbedingungen und Interessenlagen für Engagement
verändern sich.
Unabhängig davon, dass Freiwilligenengagement per se eine
schöne Sache ist, hat eine Förderung der lokalen
Bürgergesellschaften einen tieferen, demokratischen Grund:
Empirisch nachgewiesen ist, dass ehrenamtlich Aktive
überdurchschnittlich oft an Parlaments- und Kommunalwahlen
teilnehmen und sich intensiver mit Politik befassen als
Nicht-Aktive. Bürgerengagement bildet ein positives soziales
Umfeld für politische Teilhabe und stärkt so die
Demokratie.
Die Bertelsmann-Stiftung hat den Gedanken der Kommunen als
"Keimzellen der Demokratie" bereits in den 90er-Jahren
aufgegriffen. Im Civitas-Projekt wurde nach dem bundesweiten
Wettbewerb "Bürgerorientierte Kommune" 1999 die
schwäbische Stadt Nürtingen mit ihren rund 40.000
Einwohnern als Preisträgerin ermittelt und ein Netzwerk von
elf bürgerschaftlich engagierten Kommunen gegründet. In
Nürtingen sind die klimatischen Bedingungen ausgesprochen gut,
nicht nur im meteorologischen Sinne. Über zehn Jahre wurde
kontinuierlich in eine auf Engagement angelegte Infrastruktur der
Stadt investiert. Das honorieren die Bürger. Der seinerzeitige
Oberbürgermeister Alfred Bachofer hat mit den politischen
Spitzen des Rathauses ein Klima geschaffen, in dem sich 240 Vereine
und 85 freie Bürgerinitiativen tummeln. Gut 40 Prozent der
Nürtinger sind engagiert, signifikant mehr als der
Bundesdurchschnitt. Auch gewann im tiefschwarzen Nürtingen bei
den vergangenen Oberbürgermeisterwahlen von einem Jahr
ausgerechnet der SPD-Kandidat Otmar Heirich - weil er das
überzeugendere Konzept zum Ausbau der Bürgerkommune
hatte.
Die Förderung bürgerschaftlichen Engagements auf
breiter Front und ihre Vernetzung mit der herkömmlichen
Aufgabenstellung und der Organisation der Kommune ist eine Frage
der inneren Haltung, die sich in Nürtingen durch die gesamte
Verwaltung gezogen hat, angeführt von einer politischen Spitze
mit Visionen. Diese war bereit, in eine bürgerfreundliche
Infrastruktur dauerhaft zu investieren. Zum Beispiel, indem man ein
städtisches Haus, den "Nürtinger Bürgertreff",
eigens als Vernetzungszentrale eingerichtet hat. Der
Bürgertreff wird jährlich mit rund 100.000 Euro
bezuschusst. Wie ein öffentlich gefördertes
Gründerzentrum im Gewerbepark kleinen und
mittelständischen Unternehmen beim Aufbau von Firmen und
Arbeitsplätzen hilft, so ist der Bürgertreff zugleich
Hebamme, Keimzelle und Netzwerk für Bürger- engagement.
Zentrale Lage, Ausstattung und Ausstrahlung der Einrichtung laden
ein: Fenster ohne Gardinen und helle, freundliche Räume
vermitteln den Eindruck, dass Engagierte willkommen sind. Ein
hauptamtlicher Beauftragter, der Leiter der Geschäftsstelle
für Bürgerengagement, ist der Organisator von
Veranstaltungen, Ansprechpartner für Bürger, Verwaltung
und Politik und nicht zuletzt auch konzeptioneller Vordenker im
Rathaus.
Die gewählten Kommunalpolitiker gehen schon immer im
Bürgertreff ein und aus. Sie praktizieren die "kleine
Demokratie", die alltägliche Form der Mitwirkung auf vielen,
nicht immer politischen Feldern. Hier findet zum Beispiel mehrmals
im Jahr der kommunalpolitische Dialog statt, eine
Veranstaltungsform zum Ideenaustausch zwischen Politik und
Bürgern. Der ganze Titel lautet: "Es dämmert beim
Schoppen: Politiker fragen - Bürger antworten". Die
ungewöhnliche Konferenz stellt das Klischee auf den Kopf: Wo
Politiker sonst immer reden, hören sie zu, und wo Bürger
sonst nicht angehört werden, sind sie hier gefragte Experten.
Mit kreativer Moderation und in entspannter Atmosphäre wird
Verständigung und inhaltlicher Austausch erreicht.
Eine weitere jährliche Veranstaltung ist die
Sozialkonferenz. Hier werden, professionell vorbereitet und
moderiert, Denkanstöße für das Zusammenspiel von
Eigennutz und Gemeinsinn gegeben. Die Konferenz ist als
Kooperationsprojekt von städtischen Profis und Bürgern
als Experten in eigener Sache konzipiert und liefert am Ende immer
einen konkreten Handlungsplan, zum Beispiel zur Gründung eines
lokalen Ausbildungs- und Beschäftigungsförderungsnetzes,
zur Eröffnung eines integrativen Cafés, wo Menschen mit
und ohne Behinderung arbeiten oder zur Gründung eines Vereins
für die mobile Jugend- und Sozialarbeit. In Zusammenarbeit mit
der Stiftung Mitarbeit in Bonn werden begleitende
Zukunftskonferenzen mit betroffenen Experten durchgeführt, die
die Umsetzung der aufgegriffenen Themen konkretisieren.
Die Nürtinger Politik belässt es nicht bei
wohlmeinenden Appellen zur Bürgergesellschaft: Nicht nur durch
Ehrungen von Ehrenamtlern wird Dank gespendet. Auch die
Nürtinger Wirtschaft zeigt sich spendabel: Seit 1997 gibt es
in Zusammenarbeit mit Handel, Banken, Gewerbe, Krankenkassen und
Verwaltung den Nürtinger Freiwilligenpass als lokales
Bonussystem im Wert von rund 8.000 Euro. Mit diesem Pass kommen
Engagierte günstiger ins Kino oder Theater, fahren billiger
mit dem Bus und kommen umsonst ins Schwimmbad. Dies sind zwar
materielle Belohnungen, doch sie werden in keinem Fall in bar
ausgezahlt - das würde dem Sinn des Engagements und dem
Anliegen vieler aktiver Bürger widersprechen. Dafür
stehen aber einige Vergünstigungen oft in einem inhaltlichen
Zusammenhang mit der Freiwilligenarbeit.
Noch gezielter wird der Nachwuchs herangezogen, indem
Nürtingen ganz ungeniert auf die Verbindung zwischen
gemeinschaftlichem Engagement und Eigennutz im Fortkommen setzt. Im
"Tu-Was-Tagebuch" dokumentieren Schüler und Auszubildende ihr
Engagement als Jugendtrainer oder Chormitglied, als Jugendrat oder
Streitschlichter. Am Schuljahresende erhalten sie ein Zertifikat
zum Nachweis sozialer Kompetenz.
Dieses Verfahren wurde mit der Wirtschaft und den ausbildenden
Betrieben der Stadt abgestimmt. Dazu gehört auch das
"Azubi-Volunteering" der Firmen, deren Auszubildende in einem
Freiwilligendienst soziale Projekte in der Stadt unterstützen.
Alle haben etwas davon: Junge Leute lernen dazu, der Zusammenhalt
wird gestärkt und die Firmen bekommen vielseitigere
Mitarbeiter plus Imagegewinn.
Ein solcher Sozialkompetenz-Nachweis ist transparent und
ehrlich, denn er trägt den Motivationsveränderungen in
unserer Gesellschaft mehr Rechnung als die goldene Ehrennadel:
Immer mehr Menschen kombinieren Engagement mit eigennützigen
Zielen. Und speziell Jugendliche sind hier an sehr konkreten
Ergebnissen interessiert, sowohl für die Gemeinschaft wie auch
für sie selbst.
Was bringt eine solche Beteiligungskultur und kann sich ein
Gemeinwesen diesen Luxus überhaupt finanziell erlauben?
Städte mit einer aktiven Förderpolitik bauen über
die Zeit einen Kapitalstock auf, der sich "social capital" nennt.
Dieser wirkt jenseits der Buchhaltung, er steht in keinem Haushalt.
Trotzdem besteht die Dividende aus stetigen Rückflüssen:
Private leisten etwas für die Produktion öffentlicher
Güter und Dienstleistungen. Das können beispielsweise
spezielles Wissen, Arbeitszeit, Kreativität und Energie oder
auch gestiftetes Geld sein. Wenn auch die Mitarbeit vieler
Bürger sich im sozialen oder kulturellen Bereich abspielt, so
wird an dieser Haushaltsstelle Geld frei, das an anderer Stelle,
etwa in der Stadtentwicklung oder im Schuldenabbau, sinnvoll
eingesetzt werden kann.
Nicht zuletzt geht es um den Aufbau des wichtigsten Kapitals der
Demokratie, des Vertrauens, das die Politik oft so schmerzlich
vermisst. Wie in den Unternehmen auf "corporate identity" gesetzt
wird und in das betriebliche Humankapital investiert wird, so muss
unser Gemeinwesen in sein demokratisches Kapital investieren. Je
größer die Identifikation der Menschen mit ihrem
Gemeinwesen ist, desto eher kann Solidarität und
Eigenverantwortung wachsen, desto größer ist auch der
Sinn für das Politische in unserer Gesellschaft.
An Konzepten und Literatur, wie so die Zivilgesellschaft
gestärkt wird, herrscht kein Mangel. Auch engagierte
Bürger gibt es überall. Die örtlich "richtige"
Förderungsstrategie ist aber leider selten. Und es fehlen in
vielen Kommunen allerdings nach wie vor die richtigen Köpfe
und die erforderliche Professionalität bei den politischen
Initiatoren. Vor allem müssen engagierte Kommunen sich
systematisch vernetzen, um sich gegenseitig anzuspornen und
voneinander zu lernen. Auch wenn die Bertelsmann-Stiftung in ihrem
Civitas-Netzwerk nicht zum Ziel hatte, alle anderen 13.500
deutschen Kommunen und ihre rund 225.000 Kommunalpolitiker so zu
überzeugen und zu qualifizieren, dass Nürtingen zum
Standard geworden wäre, bleibt dies eine wichtige Vision.
Dr. Andreas Osner ist Mitarbeiter der Bertelsmann-Stiftung und
hat dort das Civitas-Projekt betreut.
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