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Johannes L. Kuppe
Mord und Moral an den Kanälen
Friedrich Schiller - ein
Kriminalautor?
Man stelle sich vor: Patricia Highsmith oder
Elizabeth George hätten einen Krimi geschrieben, der mit einem
philosophischen Streitgespräch über Moral geendet
hätte. Wahrscheinlich hätten schon die Verleger
gestreikt, spätestens aber die Lesergemeinde. Von Schiller
aber gibt es so etwas - wenig beachtet, noch weniger gelesen.
Schiller war 28 Jahre, als er wenige Jahre vor Ausbruch der
Französischen Revolution die dunkel-mysteriöse
Erzählung "Der Geisterseher" schrieb.
Der "Geisterseher" ist prosaisches Fragment
geblieben, das Schiller wohl nie wieder angefasst hat. Auf der
letzten Seite erfahren wir, dass der Titel seine Berechtigung erst
in den - leider ungeschrieben gebliebenen - weiteren Kapiteln
erhalten wird. Ein Krimi? Wohl eher eine spannende Kolportage,
geschrieben im Gebildeten-Deutsch des 18. Jahrhunderts, das den
heutigen Leser zwingt, den damaligen Sprachgebrauch gedanklich ins
heutige Deutsch zu übertragen.
Sehr schnell wird man von einer krimihaften
Spannung erfasst, obwohl es auf den ersten Blick weder um Mord noch
Todschlag geht. Die Geschichte beginnt zur Karnevalszeit in der
Republik Venedig des 18. Jahrhunderts. Personennamen der
Hauptprotagonisten werden nie genannt, geografische nur ganz
selten, man kann darin keine konkrete Spur verfolgen. Im
Mittelpunkt steht ein - wahrscheinlich - italienischer "Prinz von
…", der inkognito in bescheidenen Verhältnissen und zu
seinem "Hof" in einem erst distanzierten, später feindseligen
Verhältnis lebt.
Erzählt wird zu Beginn von einem
befreundeten "Grafen von O", der ihn besucht und längere Zeit
als Gast bei ihm wohnt. Im 2. Kapitel ist der deutsche Graf in
seine Heimat abgereist, wird aber, in Briefen eines prinzlichen
Angestellten, über den Fortgang der Ereignisse genau
informiert. Keines dieser Ereignisse wird restlos aufgeklärt.
Denn dem Prinzen widerfahren merkwürdige Dinge: Von einem
Unbekannten, einem "Armenier", wird er ständig beobachtet, ja
verfolgt. Schließlich gerät der Prinz an einen
sizilianischen Magier, der ihm gegen schönes Geld die
spiritistische Kontaktaufnahme mit einem verstorbenen Freund
verspricht. Diese Sitzung erweist sich alsbald als eine gigantische
Gaukelei voller raffinierter und gründlich vorbereiteter
Taschenspielertricks. Der Betrug platzt, weil der große
Unbekannte wieder eingreift. Der verhaftete Sizilianer
enthüllt jetzt dem Prinzen die scheinbar geisterhafte,
furchterregend-übermenschliche Natur des Armeniers, ohne dass
dieser allerdings konkrete Konturen gewinnt.
Das Persönlichkeitsbild des Prinzen
wandelt sich ständig zum Schlechteren. Aus einem an
ästhetischen Genüssen interessierten Menschen wird ein
liebestoller Hallodri, ein Lebemann und Spieler, der in finanzielle
Abhängigkeit von einem reichen venezianischen Erben
gerät. Sein "Hof" streicht ihm die Apanage. Dann kommt es zu
einer Katastrophe, über deren Ursachen und Ausmaß man
aber nichts Genaues erfährt. Die Geliebte des Prinzen wird
ermordet, sein jugendlicher Gönner entgeht nur knapp einem
Mordanschlag. Der Prinz selbst liegt in einem Kloster danieder und
wird dort überraschend von dem geheimnisumwitterten Armenier
gepflegt; seine Schulden sind irgendwie bezahlt. Der Vorhang
fällt, einigermaßen ratlos bleibt der Leser
zurück.
Krimi? Alles wird spannend erzählt, und
Schiller erweist sich als ein scharfer Beobachter menschlicher
Schwächen und Sehnsüchte. Krimi aber nur deshalb, weil
beim Leser der Wunsch nach Aufklärung in dem Maße
wächst, wie die Geschichte immer verwirrender
voranschreitet.
Dann ist da noch das abschließende
"philosophische Gespräch", das der Prinz mit einem nicht
identifizierbaren Gegenüber führt. Es nimmt stellenweise
die Form eines platonisch-sokratischen Dialogs an. Über
axiomatische Prämissen wird in scheinbar zwingender Logik ein
unwiderlegbares Ergebnis synthetisiert, von dem das prinzliche
Gegenüber trotzdem nicht völlig überzeugt ist. Man
kann dieses Gespräch als moralphilosophischen Diskurs in
staatspolitischer Absicht lesen oder als Suche nach Antwort auf die
Frage, wie der Mensch glücklich werden kann: Mit Religion oder
ohne, tätig oder duldend, mehr dem Verstand oder mehr dem
Herzen folgend. Einige Sentenzen überraschen durch ihre
Aktualität, falls man "Fürst" oder "Herrscher" etwa durch
"Politiker" ersetzt.
Der Prinz ist ein Suchender. Er will
ausbrechen aus seinem vorgezeichneten Leben, aber wohin, wie und
wozu? "Der Fürst, der die Meinung verlacht, hebt sich selbst
auf, wie der Priester, der das Dasein eines Gottes leugnet." Man
kann vielleicht übersetzen: "Ein Politiker, der sich
darüber hinwegsetzt, was allgemeines Verständnis von gut
und böse ist, verliert seine Existenzberechtigung."
Nach welchen Regeln soll der Mensch leben?
Kann die Religion helfen? Dem Prinzen (und wohl auch dem jungen
Schiller) hilft sie offenbar nicht: "Was mir vorherging und was mir
folgen wird, sehe ich als zwei schwarze undurchdringliche Decken
an, die an beiden Grenzen des menschlichen Lebens
herunterhängen und welche noch kein Lebender hochgezogen
hat."
Frönte Schiller hier einem allein
gegenwartsbezogenen Hedonismus, wenn er zwar eine letzte
Zwecksetzung des Menschen außerhalb von ihm nicht leugnet,
aber den Prinzen verkünden lässt: "Das, was Sie den Zweck
meines Daseins nennen, geht mich jetzt nichts mehr an. … Aber
das Mittel, das ihre Natur erwählt hat, um ihren Zweck zu
erfüllen, ist mir desto heiliger - es ist alles, was mein ist,
meine Moralität nämlich, meine
Glückseligkeit."
Zum Schluss klingt der Dichter der Freiheit
an: "Der Despot ist das unnützlichste Geschöpf in seinen
Staaten, weil er durch Furcht und Sorge die tätigsten
Kräfte bindet und schöpferische Freude erstickt." War das
nur eine Schillersche Schreibübung, ein beiläufiges
Räsonieren über das Verhalten der hohen Stände? Mit
dem "Geisterseher" hinterließ Schiller eine unvollen-dete
Kolportage mit Zügen einer Kriminalstory und einen teils
hochaktuellen Versuch über moralisch gutes Handeln.
Bibliografischer Hinweis
Friedrich Schiller: Der
Geisterseher.
Enthalten in allen
Werkausgaben.
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