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Annette Rollmann
Die gekauften Volksgenossen
Götz Alys Buch "Hitlers
Volksstaat"
Kaum ein wissenschaftliches Sachbuch schafft es am Tag seines
Erscheinens in die "Tagesthemen", bei Amazon auf Platz neun, und
fast nie ist die erste Auflage eines Buches nach einer Woche
vergriffen. Der Historiker Götz Aly hat mit seinem Buch
"Hitlers Volksstaat - Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus"
diese enorme Aufmerksamkeit bekommen, weil er provoziert. In Alys
Buch geht es nicht nur um die Mächtigen, die sich Gesetze
ausdachten und Anordnungen gaben, sondern vielmehr um eine "passive
und zufriedene Bevölkerungsmehrheit". Warum hielten Millionen
Deutsche still, als Verfassung und Menschenrecht gebrochen wurden?
Der Durchschnittsbürger wurde laut Aly "zum Nutznießer
und Nutznießerchen". Hitlers Volksstaat war eine
Gefälligkeitsdiktatur. Es geht, wie Ralf Fücks, Vorstand
der Heinrich-Böll-Stiftung bei der Buchpräsentation in
Berlin am 16. März 2005 formulierte, um die uns alle immer
wieder bewegende Frage: Was hielt das NS-System im Innersten
zusammen? Was verschaffte dem Regime die Massenloyalität? Was
verschaffte ihm die enorme Energie?
Aly, derzeit Gastprofessor am Fritz-Bauer-Institut in
Frankfurt/M., begibt sich auf die Suche nach den Gründen - und
landet beim Geld. Bei der Wirtschaft im Großen und den
Sozialzuwendungen im Kleinen. Kurz gesagt: Das Volk hat sich nach
Alys These mit Wohltaten ruhig stellen, es hat sich bestechen
lassen. Nie ging es dem "kleinen Mann" bis dahin materiell so gut
wie im Nationalsozialismus, vor allem zu Beginn des Krieges.
Das NS-Regime habe eine "Politik des sozialen Appeasements"
betrieben. Die Machthaber hätten Sozialmaßnahmen
eingeführt, die dazu dienten, das Volk bei Laune zu halten und
sich die Loyalität der Massen zu sichern. Jan Roß,
Redakteur bei der "Zeit" und Moderator der Buchpräsentation,
sagte mit Blick auf diese These: "Das Bild, das Aly zeichnet, ist
ungemütlich. Wenn er darauf schaut, quält er."
Die Erlasse der Nazis sind bekannt. Die bundesrepublikanische
Gesellschaft schreibt ihnen aber meist eine völlig andere
Entstehungs- und Begründungsgeschichte zu und hält sie
für "Errungenschaften eines harten Arbeiterkampfes": Aber
Kinder- und Weihnachtsgeld, Ehegattensplitting, Anspruch auf Urlaub
für Arbeiter, all das haben die Nazis eingeführt. 1941
gab es eine Rentenreform, die gerade den Kleinrentnern
spürbare Verbesserungen brachte. Erstmals wurden die Rentner
krankenversichert. Belastet wurden hingegen die besser
Verdienenden. Die Kriegsgewinne der Unternehmer wurden
abgeschöpft, die Körperschaftssteuer erhöht,
Hausbesitzer zahlten eine Sondersteuer.
Bei der Buchpräsentation rechnete Aly vor, dass eine
Soldatenfrau immerhin noch stolze 83 Prozent des vorherigen Lohnes
ihres Ehemannes aus Friedenszeiten erhielt. Zusätzlich bekamen
die Männer ihren Sold. "Damit hatten die Frauen vom ersten
Kriegstag an mehr Geld als jemals zuvor", sagt Aly. Eine
amerikanische oder britische Familie kam nur auf die Hälfte.
Waren noch im Ersten Weltkrieg 400.000 Menschen in Deutschland
erbärmlich verhungert, (man denke nur an den
"Steckrübenwinter" 1916/17), bekam jetzt jeder
nicht-jüdische Deutsche 500 Gramm Fleisch pro Woche,
Schwangere oder schwer Arbeitende sogar noch mehr.
Die Hungerjahre in Deutschland setzten erst mit dem Ende des
Krieges ein. In Abwandlung des Satzes von Max Horkheimer, der
gesagt hat: "Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte
auch vom Faschismus schweigen", formuliert Aly in seinem Buch nun:
"Wer von den Vorteilen für Millionen einfacher Deutscher nicht
reden will, der sollte vom Nationalsozialismus und vom Holocaust
schweigen."
Finanziert wurde dieser relative Wohlstand in der "Heimat" vor
allem auf Kosten der ausgeplünderten Juden, deren Vernichtung
Aly mit dem Begriff "Massenraubmord" interpretiert. Hinzu kamen die
von der Wehrmacht besetzten Staaten und Gebiete.
Die traurige Tatsache, dass die Juden oft nicht nur mit ihrem
Leben, sondern auch mit ihren Gütern zahlten, ist nicht neu.
Die Plünderung der Juden mit Hilfe der "Reichsfluchtsteuer"
ist bekannt und erforscht. Doch Aly zeigt sehr detailliert, dass
die Ausbeutung der Juden weit darüber hinaus ging.
Ein anderes Beispiel ist die Beschlagnahmung von Hab und Gut der
zur Deportation vorgesehen Juden. Erst wurden die Juden aus ihren
Wohnungen getrieben, dann wurde ihr Besitz beschlagnahmt und
versteigert. Am Ende durften sie 50 Kilogramm Gepäck bei ihrer
Deportation mitnehmen. Aber oft eben nicht mal das: "Natürlich
wählten sie die guten und warmen Sachen aus. In vielen
Fällen blieben die Koffer und Kisten an Ort und Stelle, sie
wurden nur scheinbar verladen."
Das besetzte Ausland, die zweite große Einnahmequelle, litt
ebenfalls immens unter den deutschen Repressionen. Jedes besetzte
oder "verbündete" Land musste hohe Kriegsbeiträge zahlen,
oft eine Summe, die so hoch war wie der gesamte eigene
Staatshaushalt. Hinzu kamen die Beschlagnahmung von
Wertgegenständen und die Zwangslieferungen von Getreide. Auch
der deutsche Soldat konnte sich die Taschen vollstopfen, da er
aufgrund des manipulativ festgelegten Wechselkurses plötzlich
viel Geld hatte. Aly nennt die Soldaten deshalb auch "bewaffnete
Butterfahrer".
Alys Fazit: 70 Prozent "der Gelder, die der Krieg auf deutscher
Seite verschlang", wurden von den besetzten Gebieten und von den
Juden finanziert. Die deutsche Wirtschaft an sich musste nur 30
Prozent aufbringen. Bei den Berechnungen handelt es sich um
komplexe volkswirtschaftliche Erhebungen und
Gegeneinanderstellungen, deren Richtigkeit im Ergebnis bereits in
einem Beitrag des in Cambridge lehrenden Wirtschaftshistorikers J.
Adam Tooze in der "tageszeitung" bezweifelt wurde. An der
Schlagkraft der These Alys, der den Nationalsozialismus als
nationalen Sozialismus erklärt, ändert dies jedoch nur
wenig.
Auch wenn in Alys Buch nicht alles neu ist, versteht er es doch,
aus Geschichten, Beispielen, Erlassen, Gesetzesverordnungen und
Zahlen ein Gesamtbild zu formen und die Frage, wie es Hitler
schaffte, sich die Loyalität der Massen zu sichern, zu einem
Teil zu beantworten. Die ganze Antwort kann sich wahrlich nicht auf
das Monetäre beschränken. Der Rassenhass, der
ideologische Überbau, werden auch durch Alys Buch nicht
kleiner und unbedeutender. Aber Aly hat mit seinem Buch, das
spannend zu lesen ist und nicht nur in der Fachwelt wahrgenommen
werden wird, den gängigen Erklärungsmustern eine wichtige
Interpretation hinzugefügt.
Bibliografischer Hinweis
Götz Aly: Hitlers Volksstaat.
Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus.
S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2005; 464 S., 22,90
Euro
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