Hartmut Hausmann
Hoffen auf den Wirtschaftsschub
Frühjahrsgipfel der Staats- und
Regierungschefs in Brüssel
Fast entschuldigend trat der amtierende
EU-Ratsvorsitzende Jean-Claude Juncker nach Beendigung des
Brüsseler Frühjahrsgipfels vor die Presse. Weder habe es
im Gegensatz zu vielen früheren Treffen Überstunden
gegeben, noch könne er von handfesten Auseinandersetzungen
berichten. Im Gegenteil, in großer Einmütigkeit seien auf
einem der kürzesten Treffen in der EU-Gipfelgeschichte in nur
drei Stunden Beratungszeit und bei einem zweistündigen Dinner
alle notwendigen Beschlüsse im Konsens gefasst worden.
Auch Kommissionspräsident José
Manuel Barroso zeigte sich überaus zufrieden mit den
Ergebnissen. Damit sei der Beweis erbracht, dass die Union auch mit
25 Mitgliedstaaten voll handlungsfähig sei. Zuvor hatten sich
die Staats- und Regierungschefs darauf verständigt, die vor
fünf Jahren in Lissabon beschlossene Wachstumsstrategie
für mehr Arbeitsplätze und eine verbesserte
Wettbewerbsfähigkeit Europas neu zu beleben und die
Anstrengungen der Mitgliedsstaaten zur Erreichung dieses Zieles
stärker zu überwachen. Die bereits am Tag zuvor von den
EU-Finanzministern erreichte Einigung über die Reform des
Euro-Stabilitätspaktes wurde abgesegnet. Bei der umstrittenen
Dienstleistungs-Richtlinie wurde beschlossen an der bereits vom
früheren EU-Kommissar Bolkestein eingebrachten Vorlage
festzuhalten.
Der Dienstleistungsrichtlinie komme nach wie
vor eine "bedeutende Rolle für eine leistungsfähige und
dynamische Europäische Wirtschaft" zu, auch wenn die
vorliegende Fassung den Anforderungen noch "nicht im vollen Umfang
gerecht werde", heißt es in der Schlusserklärung. Vor
allem in Frankreich und Deutschland war erhebliche Kritik an der
geplanten Ausweitung der Dienstleistungsfreiheit in der EU laut
geworden. Und sie drohte sogar, das in Frankreich anstehende
Referendum zur EU-Verfassung zu gefährden. In der
Öffentlichkeit war kritisiert worden, die Richtlinie
könne bei der weitgehenden Öffnung des
Dienstleistungsmarktes zu einem Lohn- und Sozialdumping in
Ländern mit hohen sozialen Standards führen.
Dienstleistungsrichtlinie
abgemildert
Daraufhin vereinbarten die Regierungschefs,
dass im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens zwischen Ministerrat und
Europäischem Parlament Änderungen vorgenommen werden
sollen. Geplant sind offenbar schärfere Definitionen der
bereits in der Richtlinie enthaltenen Schutzklauseln.
Umstritten ist vor allem das so genannte
Herkunftslandprinzip. Danach können Anbieter von
Dienstleistungen in jedem anderen EU-Land nach den Vorschriften und
Regeln ihres Heimatlandes arbeiten. Auf dieser Grundlage der
gegenseitigen Anerkennung von Gesetzen der anderen
Partnerländer ist der ungehinderte Wettbewerb im
europäischen Binnenmarkt aufgebaut. Und wie
Kommissionspräsident Barroso anschließend vor der Presse
sagte, dürfe sich daran auch nichts ändern.
Die vagen Entschärfungsabsichten
ermöglichen es jedem Regierungschef seine speziellen
Wünsche als Gipfelaussage zu "verkaufen". So sagte
Bundeskanzler Gerhard Schröder, die Richtlinie werde
grundlegend geändert, weil bisher keine Balance zwischen
Öffnung der Märkte und sozialer Verantwortung gegeben
sei. Und Frankreichs Präsident Chirac konnte beteuern, dass er
nach wie vor gegen das Prinzip des Ursprungslandes sei und so den
Schulterschluss mit den Protestierenden in Frankreich
üben.
Bei dem eigentlichen Gipfelthema, der
Neubelebung der Lissabon-Strategie von 2000, beschlossen die
EU-Staats- und Regierungschefs, mit einem weiteren
Maßnahmenpaket die Wettbewerbsfähigkeit Europas
zusätzlich zu stärken, um so für mehr Wachstum und
Beschäftigung zu sorgen. Insbesondere Forschung und
Entwicklung soll dabei zukünftig eine größere
Bedeutung zukommen. Beim Lissabon-Gipfel hatten sich die EU-Staats-
und Regierungschefs zum Ziel gesetzt, Europa bis zum Jahr 2010 zur
weltweit wettbewerbsfähigsten Region zu entwickeln. Jetzt
mussten sie jedoch zugestehen, dass es auf diesem Weg
Schwachstellen und deutliche Rückstände gibt.
Forschung, Bildung und Innovation sollen
daher weiter vorangebracht werden. Zur Unterstützung und zur
Bündelung von Kompetenz und Wissen aller Kräfte der
Einzelstaaten soll ein europäisches Technologie-Institut
aufgebaut werden. Angemahnt wurde erneut der Abbau von
bürokratischen Strukturen in den Mitgliedstaaten, um vor allem
kleinere und mittelgroße Unternehmen nicht in ihrer
Innovationskraft und damit bei der Schaffung von
Arbeitsplätzen zu behindern.
Da die Verantwortung zur Umsetzung der
Wachstumsstrategie fast ausschließlich in der Verantwortung
der Mitgliedstaaten liegt, werden die mangelnden Fortschritte der
letzten fünf Jahren dem zu geringen Engagement der nationalen
Regierungen angelastet. Die Regierungen sollen deshalb eigene
konkrete Reformprogramme erstellen und deren Bilanz an die
EU-Kommission übermitteln, die daraus weitere Initiativen
erarbeiten soll. Dem Wunsch des für die Lissabonstrategie
verantwortlichen Kommissars Günter Verheugen nach Berufung
eines speziellen Lissabon-Koordinators folgten die Regierungschef
nicht. Denn trotz der Gefahr, dass auch die nächste
Überprüfung der Lissabon-Strategie nicht
zufriedenstellend ausfallen könnte, wollen sich viele
Länder von Brüssel nicht zu genau in die Karten schauen
lassen.
Bei der Reform des europäischen
Stabilitätspaktes konnte sich Deutschland bereits zwei Tage
zuvor beim Rat der Finanzminister unerwartet mit seinen beiden
wichtigsten Forderungen zur Anwendung des Paktes durchsetzen. In
den vergangenen Jahren hatte sich Hans Eichel dort
regelmäßig wegen seiner übermäßigen
Schuldenpolitik rechtfertigen und harte Kämpfe durchstehen
müssen, um die vertragsgemäß vorgesehenen
drastischen Strafmaßnahmen der Union abzuwenden. "Sie sehen
einen ausgesprochen zufriedenen deutschen Finanzminister vor sich",
hatte Eichel nach der fast zwölfstündigen Diskussion
erklärt.
Nach der dort erzielten Einigung, die von den
Staats- und Regierungschefs ohne weitere Beratungen auf dem Gipfel
abgesegnet wurde, werden sowohl die Kosten für die deutsche
Einheit als auch die Beiträge Berlins zum EU-Haushalt
künftig bei der Beurteilung des deutschen Staatsdefizits
berücksichtigt. Im Vorfeld des Treffens hatte der Luxemburger
EU-Ratspräsident Jean-Claude Juncker dies noch als nicht
durchsetzbar zurückgewiesen. Zwei Tage zuvor hatte
Bundeskanzler Schröder bei seinem Besuch in Wien zu dem
Umschwung beigetragen. Denn der schärfste Gegner der deutschen
Forderungen, Österreichs Finanzminister Grasser, der das
Berliner Ansinnen noch wenige Stunden vorher als "Treppenwitz der
Geschichte" zurückgewiesen hatte, war im letzten Moment von
Bundeskanzler Schüssel zu Wohlverhalten gedrängt
worden.
Freibrief für Defizitsünder
befürchtet
Ermöglicht wurde die Einigung
schließlich durch eine sehr allgemeine Formulierung, nach der
Sonderbelastungen durch die "Vereinigung Europas"
berücksichtigt werden können, wenn sie sich nachteilig
auf Wachstum und Finanzen eines Landes auswirken. Gleiches gilt
für Zahlungen, die der Erhöhung oder Beibehaltung eines
hohen Niveaus an finanziellen Beiträgen zur Stärkung der
internationalen Solidarität und zum Erreichen der
europäischen Politiken dienen. In dieser Aussage konnten alle
Beteiligten ihre Erwartungen an den Stabilitätspakt wieder
finden.
Frankreich sieht darin seiner Forderung nach
Berücksichtigung von Forschungsausgaben und Entwicklungshilfe
erfüllt. Und Deutschland kann so seine Nettobeiträge zum
Haushalt der EU deklarieren. Dieser Wortlaut hat aber zugleich
Spekulationen wieder aufleben lassen, Eichel habe sich die
Lockerung des Stabilitätspaktes mit Zugeständnissen beim
deutschen EU-Beitrag erkauft. Zusammen mit anderen Ländern hat
Deutschland zuletzt eine beträchtliche Reduzierung des
EU-Haushaltes und der eigenen Nettozahlungen verlangt. Die
Verhandlungen über die künftige Finanzausstattung der
Union sollen im Juni abgeschlossen werden.
Als Freibrief für Defizitsünder
soll der reformierte Pakt nach dem Willen der Minister allerdings
nicht verstanden werden. Auch unter Berücksichtigung von
Sonderbelastungen dürfen die darin festgelegten Kriterien nur
"geringfügig" und "vorübergehend" überschritten
werden. Der Vorwurf, der Stabilitätspakt werde durch die
Neuregelung aufgeweicht, wurde auch von den obersten
Währungshütern der Europäischen Zentralbank in
Frankfurt geäußert. Sie fürchten, dass damit in
Europa künftig eine stärkere Antiinflationspolitik
gefahren werde, womit der dringend benötigte Schub für
Europas lahmende Konjunktur an dieser Front ausbliebe.
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