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Claudia Heine
Der Einheitskanzler
Damals ...vor 40 Jahren am 1. April: Der
Bundestag gedenkt Otto von Bismarcks
Eine schöne Gleichzeitigkeit: Der Bundestag gedenkt Otto
von Bismarcks, und im Plenum, als ganz normaler
Bundestagsabgeordneter, sitzt: Otto von Bismarck. Der Enkel wird
besonders aufmerksam registriert haben, was Bundeskanzler Ludwig
Erhard (CDU) über seinen großen Vorfahren zu sagen
hatte.
Anlass zu dieser Feierstunde am 1. April 1965 war der 150.
Geburtstag eines Mannes, der etwas verwirklicht hatte, wovon auch
viele Bundespolitiker in jenen Jahren träumten: die Einheit
Deutschlands. Die freilich schien 1965 weit weg. Seit gut vier
Jahren teilte die Mauer die einst stolze preußische Hauptstadt
Berlin. In einer solchen, völlig veränderten welt- und
deutschlandpolitischen Lage den Begründer des Deutschen
Reiches Otto von Bismarck zu würdigen, hatte eine symbolische
Funktion, die weit über die Person hinaus wies. Das
unterstrich auch der Kanzler: "Indem wir Bismarck ehren, bekennen
wir uns zu unserer Geschichte."
Ein Bekenntnis zu Nationalismus und Militarismus meinte Erhard
damit jedoch nicht. Nach einer kriegerischen und gewaltsamen ersten
Jahrhunderthälfte, die ihre Ursache auch in einem
pervertierten Nationalismus hatte, befand sich Europa auf dem Weg
zu einer friedlichen Konsolidierung. Krieg als Mittel der Politik
war, im Gegensatz zur Epoche Bismarcks, geächtet. Auch um
einem gesteigerten Nationalismus entgegen zu wirken, strebten die
Staaten Westeuropas eine Europäische Union an. Die
Römischen Verträge von 1957 sollten ein erster Schritt in
diese Richtung sein.
Ludwig Erhard mahnte vor diesem Hintergrund und den
künftigen Herausforderungen, den mit Bismarck verbundenen
"großen geschichtlichen Horizont" nicht aus den Augen zu
verlieren: "Wir brauchen ihn, nicht nur, um mit unserer
Vergangenheit fertig zu werden, sondern auch darum, weil wir, weil
Europa, weil die Völker der Welt im Begriff sind, in eine neue
Epoche der Weltgeschichte einzutreten." Diese neue Epoche, sagte
Erhard weiter, könne nicht von nationalen Kriegen und
"nationalstaatlicher Machtpolitik" bestimmt sein, solle sie nicht
in Anarchie versinken.
Die Angst vor der Anarchie bestimmte, wenn auch in ganz anderen
Zusammenhängen, das Wirken Otto von Bismarcks, zunächst
ab 1862 als preußischer Ministerpräsident und später
ab 1871 als Reichskanzler. Traumatisiert von den Erfahrungen der
bürgerlichen Revolution von 1848, wurde aus dem
Gutsbesitzersohn ein Politiker, der sich allein der -
preußischen - Staatsräson verpflichtet fühlte.
Erfolge wie die staatliche Einigung und eine
Verfassungskonsolidierung lassen sich auf dieses Verständnis
zurückführen.
Die Zugeständnisse an eine bürgerliche
Öffentlichkeit bewegten sich jedoch auf dem kleinsten
gemeinsamen, die Monarchie nicht gefährdenden Nenner. In
seiner Furcht vor Umsturzversuchen erklärte Bismarck
politische Kontrahenten schnell zu Staatsfeinden. Weder die
katholische Kirche, die er im "Kulturkampf" erbittert verfolgte,
noch die Sozialisten und Liberalen blieben von der eisernen Hand
des Kanzlers verschont. Mit dem radikalen "Sozialistengesetz" von
1878 verbot Bismarck alle sozialdemokratischen, sozialistischen und
kommunistischen Vereinigungen. Das war die "Peitsche". Mit dem
"Zuckerbrot" in Form von Renten-, Kranken- und Unfallversicherung
sollte die Arbeiterschaft milde gestimmt werden. Ein Plan, der nur
bedingt aufging.
Diesen Widersprüchen im Wirken Bismarcks versuchte Ludwig
Erhard in seiner Festrede gerecht zu werden. Teilweise fand er
dafür ungewöhnlich deutliche Worte: "Leichter als
früheren Generationen fällt uns das Eingeständnis,
dass Bismarck schon zu seinen Lebzeiten nicht nur geliebt und
verehrt, sondern - und nicht zuletzt in seinem eigenen Lande -
gehasst wurde. So wie er selbst zu hassen verstand."
Erhard kritisierte sowohl die Sozialistengesetze als auch den
autoritären Führungsstil des Kanzlers, hob aber seine
Reformen der Sozialgesetzgebung als außerordentlich hervor:
"Auch wenn er sonst nichts getan hätte, würde dies allein
genügen, ihm den Ruf eines konstruktiven Staatsmannes zu
sichern."
Dass Bismarck diesen Ruf noch heute genießt, hat vor allem
mit seiner historischen Leistung zu tun: ein anachronistisches
Gebilde aus über 30 Fürstentümern aufzulösen
zugunsten eines vom Einheitsgedanken getragenen Staatengebildes.
Darin erkannte auch Ludwig Erhard eine bis in die Gegenwart
reichende Mission, "als Sinnbild unseres Strebens, uns als Nation
zu fühlen".
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