Wulf Segebrecht
"Zur Kriegsanleihe Nummer Sieben geziemt sich
wohl ein ernstes Wort"
Wie Schillers "Lied von der Glocke" parodiert
wurde und als Propagandainstrument zum Einsatz kam
"Über ein Gedicht von Schiller, das Lied
von der Glocke, sind wir gestern Mittag fast von den Stühlen
gefallen vor Lachen". Diese despektierliche Briefäußerung
Caroline Schlegels aus dem Jahr 1799 - Schillers Lied lag gerade
zum ersten Mal gedruckt vor - ist fast ebenso berühmt geworden
wie das Gedicht selbst. Hellsichtig sah Caroline voraus: "Die
Glocke ... ließe sich herrlich parodiren."
Tatsächlich wurde im 19. Jahrhundert
kaum ein deutsches Gedicht so oft parodiert wie Schillers Lied von
der Glocke. Daran lässt sich ermessen, wie bekannt, ja gerazu
populär es damals war. Das Gedicht gehörte zum
selbstverständlichen Besitz jedes gebildeten Bürgers. Der
lernte die 430 Verse schon in der Schule auswendig und begegnete in
ihnen den bürgerlich-sittlichen Werten des Fleißes und
der Zuverlässigkeit, des Vertrauens auf die herkömmliche
Ordnung in Familie und Gesellschaft, der Bereitschaft zur
Solidarität und zum Frieden.
Wo so viel prinzipielles Einverständnis
herrschte, da gab es für solche Parodien, die sich als
aggressive "Gegengesänge" oder als freche Verulkungen der
Vorlage verstanden, nur wenig Raum. Gewiss erprobten einige Autoren
auch ihren Witz und ihre Lust am Unsinn im Umgang mit Schillers
Gedicht, doch pure Veräppelungen oder Verhohnepipelungen der
Glocke lassen sich unter den zahlreichen Glocke-Parodien kaum
finden.
Dafür war der Respekt vor dem
großen Schiller viel zu groß. Selbst ein Herausgeber der
"geistvollsten Parodien" von Schillers Lied von der Glocke
(Friedrich Schaefer), der seine Sammlung als "Hausschatz deutschen
Humors" ankündigte, erwies dem Lied mit glühenden Worten
seine Referenz:
"Niemals hat eine Glocke herrlicheren Klang
gegeben, als jene, welche unserem Jahrhundert den Friedensgruß
entgegenläutete. Der große Meister, der sie geschaffen,
weilt lange nicht mehr unter uns, die herrliche Glocke aber, die er
uns geschenkt, entzückt noch heute durch ihren wundersamen
Klang, und die, welche sie hören, gedenken mit Liebe und
Ehrfurcht des großen Glockengießers. Gar viele haben sich
seitdem bemüht, die Meisterglocke nachzubilden. Die Mischung
des edlen Metalles war und blieb aber Geheimnis des großen
Meisters ... Der Schreiber dieser Zeilen hat viele Glocken
gehört, die jener nachgebildet, manche mit
häßlichem, unreinen Ton, manche mit angenehmem
Geläut, wenn auch der Wunderklang der Meisterglocke unerreicht
blieb."
Form-Nachbildungen nennt Schaefer die
Parodien der Glocke aus dem 19. Jahrhundert; zu Recht. Man
könnte auch von Aneignungen, Vereinnahmungen oder
Indienstnahmen sprechen. Denn weitaus die meisten Glocke-Parodien
sind in der Tat Imitationen: Sie übernehmen die
charakteristische Form des Vorbildes - den Wechsel von
,Arbeitsstrophen', in denen der Produktionsprozess der Glocke
nachvollzogen wird, und ,Betrachtungsstrophen', in denen "muntere
Reden" über die menschlichen Verhältnisse die Arbeit
begleiten - und tauschen lediglich das Produkt aus.
An die Stelle der Glocke und ihres Gusses
treten auf diese Weise andere Produkte mit ihrer Herstellung und
den entsprechenden Berufstätigkeiten. So gibt es das Lied vom
Brot und von der Sandtorte, vom Kaffee, vom Punsch und vom Bier,
von der Wurst und vom Schweineschlachten, das Lied von der Arbeit
des Drechslers und des Uhrmachers, des Apothekers und des
Photographen, des Buchhändlers, des Juristen und sogar des
Gynäkologen als Geburtshelfer - um hier nur einige der
imitierenden Parodien zu nennen.
Auf heitere und unterhaltsame, aber auch auf
lehrreiche Weise wenden die Autoren dieser Parodien Schillers
Vorlage auf ihre eigenen Verhältnisse an; sie bedienen sich
des berühmten Vorbilds zu ihren eigenen Zwecken, partizipieren
gewissermaßen an dessen Würde und
Volkstümlichkeit.
Im Verlaufe des 19. Jahrhunderts ist
allerdings eine zunehmende Politisierung und Ideologisierung der
Parodien zu erkennen. Im Umkreis des Vormärz finden sich in
der Form von Glocke-Parodien leidenschaftliche Plädoyers
für die Freiheit der Presse:
"Wirkungsreich in allen Landen
Ist der Presse weise Macht,
Wenn, befreit aus engen Banden,
Sie des Staates Wohl bewacht!
Wirkt das freie Wort
In den Schriften fort,
Dann erst kann der Staat gedeihen,
Dann gehört er zu den
freien."
Immer konkreter beziehen sich die Parodien
auf politische und parlamentarische Verhältnisse und
Regierungsformen, auf ideologische und kriegerische
Auseinandersetzungen. Mit Schiller wird gleichsam Politik gemacht
und Krieg geführt; er wird für nationalistische
Agitation, für den Kreuzzug gegen den Islam und sogar für
einen wütenden Antisemitismus in Anspruch genommen. Statt auf
den Friedensklang der Glocke, in den Schillers Gedicht
einmündet, hört man mehr und mehr auf die Sprache der
Kanonen:
"Nehmet Holz vom Stamm der Eiche,
Grober Klotz will groben Keil,
Spart für fein'ren Guß das
Weiche,
Uns're Rüstung fordert Eil.
Wortstreit hilft nicht mehr,
Rasch Kanonen her!
Laßt uns mit den Allzufrechen
Ernsthaft mit Kartätschen
sprechen!"
Nicht mehr die Glocke, sondern die Kanone sei
"das echte Kind der Zeit und der Nation", heißt es dann 1881
im Vorwort zu einem anderen Lied von der Kanone von M. Reymond:
"Für den ernsten Brummbaß der Kanone sei darum Schillers
unsterbliches Lied transponiert. Die wichtigste Aufgabe der
Gegenwart ist die militärische Erziehung der Nation; diesem
Zwecke soll das ,Lied von der Kanone' zum Heile des Vaterlandes
dienen."
Dementsprechend werden in oft enger Anlehnung
an die Vorlage der Herstellungsprozess der Kanone, ihre
Ausstattung, ihre Einsatzmöglichkeiten und ihre Wirkungen im
Krieg dargestellt, mit Szenen aus dem Soldatenleben kombiniert und
mit ausführlichen, stets sachlichen Erläuterungen im
separaten Anmerkungsteil versehen. Das Ganze liest sich wie eine
Einübung in stramm nationales und militärisches Verhalten
und in unverdrossenen kaisertreuen Untertanengeist, wie die
folgende Aktualisierung von Schillers Versen über die
Selbstbefreiung der Völker zeigen kann:
"Nur durch die Macht der
Staatsgewalten
Kann sich das Völkerglück
gestalten;
Jedoch durch Revolution
Entstehet nichts als Konfusion.
Weh, wenn das Volk zerreißt die
Kette,
Die das Gesetz ihm auferlegt,
Und selbst der Wink der Bajonette
Es nimmer zur Vernunft bewegt!
Wenn Weiber frech die Zähne
fletschen
Dem sonst geliebten Militär!
Dann läßt sich nur noch mit
Kartätschen
Die Ordnung wieder stellen her.
Drum hasst, getreu dem Regimente,
Das pünktlich ihm den Sold
bezahlt,
Der Krieger all' die Elemente
Die feindlich sind der
Staatsgewalt.
Gefährlich sind die
Liberalen,
Bedenklich jeder Civilist,
Jedoch der Schrecklichste von
allen,
Das ist der rothe Socialist."
Im Ersten Weltkrieg kam Schillers Glocke als
Kriegs-propaganda-Instrument zum Einsatz. In der Leipziger
Verlagsanstalt Vogel & Vogel, die auf solche Kriegsliteratur
spezialisiert war, erschien 1916 zum Preis von zehn Pfennigen,
reich illustriert, als separates Heftchen die Darstellung des
Lebens der Soldaten Im Unterstand, eine - wie es im Untertitel
heißt - "Zeitgemässe Schilderung aus dem Leben unserer
Feldgrauen - Frei nach dem Gedicht: ,Die Glocke' von Friedr. v.
Schiller" von einem Autor namens Arthur Wohlgemuth. Die
,Arbeitsstrophen' begleiten den Bau des Unterstandes, die
,Betrachtungsstrophen' gelten den Kriegsvorbereitungen, den
militärischen Übungen der Soldaten und ihrem Leben im
Feld, während der Schlacht und im Urlaub. Das Ganze dient
durchaus der politischen Rechtfertigung des Krieges und der
agitatorischen Steigerung der Wehrkraft der Soldaten und der
Daheimgebliebenen:
"Heute sind wir, Hoch und Nieder,
Nur noch Deutsche, nur noch
Brüder!
Lassen wir uns nicht verblenden.
Durch Erfahrung langer Jahre
Uns bewahre
Deutsche Treue! Im Vertrauen
Wir auf Reich und Kaiser bauen.
Wenn's auch uns're Feinde
lüstet,
Nach dem alten deutschen Rhein,
Kommt! Ihr findet uns
gerüstet."
Illusionslos wird das Schlachtgeschehen unter
Einsatz der damals modernen technischen Mittel wiedergegeben, und
am Ende, als der Bau des Unterstandes fertiggestellt und auf den
Namen "Zur Eintracht" getauft werden soll, heißt es unter
Berufung auf Schiller:
"Herbei, herbei!
Kameraden alle! Stellt Euch ein,
Wir weihen jetzt die Hütte
ein.
,Zur Eintracht' soll ihr Name
sein.
Ein jeder hier zu der Gemeinde
Gehört, wer hilfsbedürftig, Freund
und Feinde.
Und dies sei fortan sein Beruf,
Wozu den Unterstand man schuf:
Tief unten hier im
Schützengraben
Gelt' er als Deckung uns zumeist,
Musss jemand etwas Ruhe haben,
Man ihn zum Unterstande weist.
Und wenn ein Arzt mit ernsten
Mienen,
Bringt einen schwerverletzten
Mann,
Schnell soll er als Verbandplatz
dienen,
Bis man dem weiter helfen kann.
Für Munition und für die
Nahrung,
Bekleidung, Waffenmaterial,
Dien' er zugleich als
Aufbewahrung,
Als Speise-, Schreib- und
Lesesaal.
So nützet zu gar vielen
Dingen,
Der neu erbaute Unterstand.
Heil! Daß uns konnt' dies Werk
gelingen!
Heil Kaiser! Heil dem Vaterland!"
Propaganda dieser Art begleitete den Ersten
Weltkrieg bis zu seinem Ende. Zu seiner Finanzierung wurde das Volk
über Kriegsanleihen zur Kasse gebeten und Schiller in die
Pflicht genommen, wie das von einem S. H. Cramer verfasste und
"Unserm herrlichen Generalfeldmarschall von Hindenburg zum 70.
Geburtstag in Ehrfurcht und Verehrung dankerfüllt" gewidmete
Lied von der siebten Kriegsanleihe zeigt, die im Oktober 1917
aufgelegt wurde und 12,5 Milliarden Reichsmark
einbrachte:
"Fest gemauert in der Erden
Steht die Front in West und Ost,
Und zu Trümmern sieht man
werden
Alles, wo der Sturm getost.
Darum sei betont,
Daß das Land verschont!
Unsern Hindenburg wir loben,
Der uns schützt nächst Gott dort
droben.
Zur Kriegsanleihe Nummer 7
Geziemt sich wohl ein ernstes
Wort,
Denn trotzdem wir stets Sieger
blieben,
Setzt doch der Feind das Ringen
fort.
So laßt uns jetzt mit Fleiß
betrachten,
Was durch die Kriegsanleih'
gelingt,
Den deutschen Mann muß man
verachten,
Der willig nicht sein Opfer
bringt.
Das ist's ja was den Deutschen
zieret,
Daß stolz und froh mit Herz und
Hand,
Von seinem Kaiser angeführet,
Er kämpfet für sein
Vaterland."
Unzweifelhaft wird Schillers Lied von der
Glocke missbraucht, wenn es zur Propaganda eingesetzt wird.
Andererseits gehören nicht nur die Versuche, Schiller
verehrungsvoll zu bestätigen, sondern auch die
Missverständnisse und Missbräuche zu der Geschichte
seiner Wirkung, an deren Wege und Irrwege gerade in den
?Schillerjahren' erinnert werden sollte im fortdauernden
Bemühen um eine historisch angemessenere und
verantwortungsvollere Lektüre von Schillers berühmtem
Gedicht.
Wulf Segebrecht arbeitet als
Literaturwissenschaftler in Bamberg. Dieser Tage hat er im Carl
Hanser Verlag ein Buch "Was Schillers Glocke geschlagen hat" eben
zum diesem Thema veröffentlicht.
Zurück zur Übersicht
|