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Hermann Glaser
Einforderung eines universellen
Bürgerrechts
Schillers Konzept einer ästhetischen und
damit politischen Erziehung
"Die Kunst ist eine Tochter der Freiheit, und
von der Notwendigkeit der Geister, nicht von der Notdurft der
Materie will sie ihre Vorschrift empfangen. Jetzt aber herrscht das
Bedürfnis und beugt die gesunkene Menschheit unter sein
tyrannisches Joch. Der Nutzen ist das große Idol der Zeit, dem
alle Kräfte fronen und alle Talente huldigen sollen. Auf
dieser groben Waage hat das geistige Verdienst der Kunst kein
Gewicht, und, aller Aufmunterung beraubt, verschwindet sie von dem
lärmenden Markt des Jahrhunderts."
Natürlich merkt man am Duktus und Gestus
solcher Sätze, dass sie der alten, wenn auch nicht guten Zeit
entstammen, obwohl sie doch inhaltlich sehr präzise die
gegenwärtige Situation beschreiben. Aber vielleicht erfasst
denjenigen, der alltäglich "Denglisch" und Talk-Gestammel,
insgesamt dem Jargon semantischer Erbärmlichkeit ausgeliefert
ist, beim Lesen einer solchen Textstelle die Sehnsucht nach einer
Sprache, die mit luzidem Pathos die Probleme der Zeit und
Gesellschaft abzuhandeln bereit ist.
Das Zitat stammt aus Friedrich Schillers
Abhandlung "Über die ästhetische Erziehung des Menschen
in einer Reihe von Briefen". Bezogen auf Kantsche Grundsätze
legt er hier "die Resultate seiner Untersuchungen über das
Schöne und die Kunst" vor. Die zentrale Erkenntnis besteht
für ihn darin, dass die Schönheit der Freiheit vorangeht,
dass es die "Schönheit ist, durch welche man zu der Freiheit
wandert".
Was immer wir dem großen Manne
vorwerfen, meinte kürzlich Iris Radisch in der "Zeit", Ruhm
gebühre ihm dafür, dass er die Kunst dahin gestellt habe,
wo sie hingehöre: "auf den Königsthron der Gesellschaft".
Der Quintessenz einer solchen Feststellung kann und muss man
zustimmen. Deshalb wirken die "Briefe" heute so revolutionär -
in einer Zeit, die bestimmt ist vom Popanz des Shareholder-Value
und die im Schönen statt einer Botschaft meist nur noch die
dekorative Verpackung von Waren sieht. Schein statt Sein,
Warenästhetik statt Ästhetik des Wahren. Und wer glaubt
heute noch daran, dass in jedem individuellen Menschen ein
idealischer steckt, den es - eben durch Erziehung zum Guten,
Schönen und Wahren - herauszulocken gilt?
Schiller geht es um die Notwendigkeit, jedem
Menschen in einem "ästhetischen Staat" die Möglichkeit
kultureller Bildung zu eröffnen; heute würden wir sagen:
es geht um das "Bürgerrecht Kultur". Wenn Iris Radisch ihr
Klassiker-Lob mit Abwertungen verbindet - Starrkrampf der Verse,
gipsernes Schönheitsideal -, so trifft das kaum den
originären Schiller. Er wurde vor allem durch Schule,
Universität und Politik auf einen
erhaben-denkmalsgeschützten Heros hin "ummodelliert",
national, bald nationalistisch und schließlich
nationalsozialistisch "usurpiert". Seine Rezeptionsgeschichte
bewahrheitet Franz Grillparzers düstere Vision von 1848, dass
nämlich der Weg der neuern deutschen Bildung von der
Humanität durch Nationalität zur Bestialität
führe.
Herbert Marcuse hat 1937 in einem Essay
("Über den affirmativen Charakter der Kultur") den Irrweg des
bürgerlichen Kulturverständnisses im 19. Jahrhundert vor
allem darin gesehen, dass die geistig-seelische Welt als ein
selbstständiges Wertreich von der Zivilisation abgelöst
und über sie erhöht worden sei. Behauptet wurde eine
allgemein verpflichtende, unbedingt zu bejahende, ewig bessere,
wertvollere Welt. Diese unterscheide sich wesentlich von der
tatsächlichen Welt des alltäglichen Daseinskampfes, aber
jedes Individuum könne sie "von innen" her für sich
realisieren. So gewönnen die kulturellen Tätigkeiten und
Gegenstände ihre hoch über den Alltag gesteigerte
Würde: Ihre Rezeption erweise sich als ein Akt der Feierstunde
und der Erhebung.
Die ursprünglich in allen Bereichen
bedeutsamen Beiträge der deutschen Kunst zur Weltkultur wurden
in einem heute kaum vorstellbaren Ideologisierungsprozess
pervertiert und ins Gegenteil gekehrt. Dabei wurde Schiller, der
arme, tapfere Mann, der seinem von schweren Krankheiten
heimgesuchten Körper ein ergreifendes Werk der Humanität
abgerungen hatte, auf das Piedestal nationaler
Beweihräucherung gestellt: als eine strahlende Gestalt, die,
wie es im Lesebuch hieß, jedes "jugendliche frische
Gemüt" ergreife und erhebe; als einer, der "wie kein anderer
prophetenhaft alles Gemeine aus der Brust des heranwachsenden
Jünglings wegtilgend mit heiligem Feuer zu verzehren, und die
Flamme eines höheren Lebens darin zu entzünden
vermag".
Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurde das
schillersche Pathos "entidealisiert"; es war nun nicht mehr Gewand
des Gedankens, Erhöhung des Gedachten, Gesehenen, Erlebten,
Erfühlten, sondern, sich selbst überlassen,
unverbindlicher, willkürlicher Wortrausch; Gestalt und Gehalt
standen nicht mehr in echter, unverwechselbarer Verbindung. Das
Klischee dominierte; ein Wort gab das andere, eine Phrase die
andere.
Die Reden des Schillerjahres 1859 - der 100.
Geburtstag des Dichters wurde als "Siegesfest des deutschen
Geistes" gefeiert - markieren die erste Etappe dieser Entwicklung:
"Welchen ausländischen Mann heute sein Weg durch Deutschland
an einem oder dem anderen Ende geführt hätte, seinem
Blick wären in allen oder fast allen Städten festliche
Züge heiterer und geschmückter Menschen begegnet, denen
unter voran getragenen Fahnen auch ein prächtiges Lied von der
Glocke erscholl. Der frohernste Gesang, die gewaltige Fassung,
hätte ihm jeder Mund berichtet, sei von unserer
größten Dichter einem, dessen vor hundert Jahren erfolgte
Geburt an diesem Tage eingeläutet und begangen werde ... Ach,
könnte doch auch an hehren Festen alles fortgeläutet
werden, was der Einheit unseres Volkes sich entgegenstemmt, deren
es bedarf und die es begehrt" (Jacob Grimm).
Die interessanteste Festrede hielt Gabriel
Rießer - interessant auch deshalb, weil Rießer Jude war.
Das dokumentiert auf eine eindringliche Weise, wie echt-deutsch,
selbst im Sprachlich-Negativen, der jüdische Intellektuelle
empfand, wie vollständig integriert er war; (auf der gleichen
Linie lag, dass man in Nürnberg 1878 für die Sedanfeier
einen Rabbiner als Festredner aussuchte). Rießer war zudem ein
gegen Obrigkeits- und Polizeistaat kämpfender liberaler Geist;
seine Rede ist somit ein Beispiel dafür, dass man zu dieser
Zeit demokratisch denken, fühlen und handeln konnte, und
dennoch, statt der logisch-klaren, menschlich bescheidenen Sprache
der Aufklärung und Klassik die hochtrabende und
schwülstige Sprache eines engstirnigen Kleinbürgertums
benutzte.
Rießers Schillerrede umfasst
ungefähr 5.000 Worte; darunter sind etwa 150 Steigerungsformen
in Form grammatikalischer Superlative oder Komparative; das
heißt, jedes 33. Wort ist ein Superlativ oder Komparativ.
Unberücksichtigt in dieser Zahl sind die vielen inhaltlichen
Superlative wie etwa: mächtiges Rauschen, hohes Tönen,
gewaltiger Genius und dergleichen. Um aufzuzeigen, dass Schiller
edel, erhaben, mächtig, herrlich und unerreicht sei, werden
die entsprechenden Worte zu rhetorischen Gipfeln aufgetürmt;
allein das Wort "hoh" oder "hoch" taucht 60-mal auf; ähnlich
"edel". Für Rießer und seine
enthusiastisch-andächtigen Zuhörer war in Schiller die
"höchste und edelste Bildung erschienen", die "schönste
Blüte, die süßeste Frucht; in ihm lebten die
zartesten und tiefsten Empfindungen, das reinste Geistige, die
höchsten Mächte und die ursprünglichsten und
kindlichsten Gefühle" - und dies alles in einem
Satz!
Metaphorik, Syntax und Topik der
national-bürgerlichen (dem Geiste nach:
kleinbürgerlichen) politischen wie kulturellen Rede des 19.
und 20. Jahrhunderts sind damit illustriert: Ein Schwulst an
Bildern, die Betäubung des Logos durch mythifizierendes
Geraune, eine Zerstörung der Begriffskerne, so dass leere
Worthülsen verbleiben, eine Fülle falscher, schiefer oder
unnötiger Genitive, um hochtrabende Feierlichkeit bemühte
Inversionen, eine Häufung synonymer Worte. Von den Tagen der
Befreiungskriege bis herab zu Adolf Hitler lassen sich - abgesehen
von der zunehmenden Häufigkeit der Erscheinungen - kaum
wesentliche Unterschiede feststellen.
Man kann nur hoffen, dass die Festredner des
Jahres 2005 nicht in das hohle Pathos des 19. Jahrhunderts
zurückfallen. Die Gefahr ist durchaus gegeben: Denn da in
unserer Zeit der extremen Ökonomisierung die von Schiller
postulierte Einheit von Ästhetik und Ethik längst dem
"Dschungelkapitalismus" zum Opfer gefallen ist - Heiner
Geißler: "Geldgier zerfrisst die Hirne" -, gehört zur
sittlichen Inkompetenzkompensationskompetenz (Odo Marquard) die
Flucht in einen, solches Vakuum kaschierenden
"Hoch-Ton".
So kann man nur, wie einst Ortega y Gasset
bei Goethe, um einen Schiller "von innen bitten". Aber ein Thomas
Mann ist nicht in Sicht. Im Schiller-Jahr 1955 schloss dieser seine
Gedenk-Rede, die er nacheinander in Stuttgart und Weimar hielt, mit
den Worten: "Das letzte Halbjahrhundert sah eine Regression des
Menschlichen, einen Kulturschwund der unheimlichsten Art, einen
Verlust an Bildung, Anstand, Rechtsgefühl, Treu und Glauben,
jeder einfachsten Zuverlässigkeit, der
beängstigt".
Thomas Mann zitiert dann die Klage der Ceres
aus dem "Eleusischen Fest":
"Find' ich so den Menschen wieder,
Dem wir unser Bild beliehn,
Dessen schöngestalte Glieder
Droben im Olympus blühn?
Gaben wir ihm zum Besitze
Nicht der Erde
Götterschoß,
Und auf seinem Königsitze
Schweift er elend, heimatlos?"
Dann fährt Thomas Mann fort: "Es ist
Schillers Stimme. Ohne Gehör für seinen Aufruf zum
stillen Bau besserer Begriffe, reinerer Grundsätze, edlerer
Sitten, ,von dem zuletzt alle Verbesserung des gesellschaftlichen
Zustandes abhängt', taumelt eine von Verdummung trunkene,
verwahrloste Menschheit unterm Ausschreien technischer und
sportlicher Sensationsrekorde ihrem schon gar nicht mehr
ungewollten Untergange entgegen. … Von seinem
sanft-gewaltigen Willen gehe durch das Fest seiner Grablegung und
Auferstehung etwas in uns ein: von seinem Willen zum Schönen,
Wahren und Guten, zur Gesittung, zur inneren Freiheit, zur Kunst,
zur Liebe, zum Frieden, zu rettender Ehrfurcht des Menschen vor
sich selbst."
Hermann Glaser, unermüdlich anregender
und fordernder Kulturkritiker, war viele Jahre Kulturreferent der
Stadt Nürnberg.
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