Anton van der Lem
Ode auf republikanische Freiheit in Zeiten des
Absolutismus
Schillers Geschichte des Abfalls der Vereinigten
Niederlande
"Sire - geben Sie Gedankenfreiheit". Dieser
berühmte Satz aus Schillers "Don Carlos" wird immer dann
zitiert, wenn von Tyrannei oder Fürstengewalt die Rede ist.
Genauso wie der "Don Carlos" Fanalwirkung hat, so enthält auch
Schillers große historische Darstellung "Geschichte des
Abfalls der Vereinigten Niederlande von der spanischen Regierung"
Feststellungen und Werturteile, die einer Maximensammlung
gleichen.
Ein Leidener Widerstandsblatt -
bezeichnenderweise "De Geus onder Studenten" genannt - zitierte
mitten im Zweiten Weltkrieg, am 7. April 1943, aus Schillers
Schrift: "Gross und beruhigend ist der Gedanke, ... dass ein
herzhafter Widerstand auch den gestreckten Arm eines Despoten
beugen kann". Vor allem Schillers Einleitung, aber auch die
unterschiedlichen Kapitel enthalten lapidare Sätze, in denen
der Dichter seine Bewunderung für den niederländischen
Freiheitskampf ausdrückte:
"Man nannte Rebellion in Madrid, was in
Brüssel nur eine gesetzliche Handlung hiess", oder: "Jede
Kränkung von einem Tyrannen erlitten, gab ein Bürgerrecht
in Holland" und: "Die Niederlande mussten allen Völkern
geöffnet sein, weil sie von allen Völkern lebten". Noch
auf der vorletzten Seite lobt er die Niederländische Republik
- weit früher, als von einer eigentlichen Republik die Rede
sein sollte - als ein Land, "wo die feinste Staatskunst Redlichkeit
war".
Schiller hat sich in die Geschichte der
beiden Parteien gründlich eingelesen: in die der nachherigen
niederländischen Republik und in die der katholischen,
königstreuen Niederlande. Erstaunlich dabei, dass er sich bei
seiner Sprachkenntnis und Sprachgewandtheit - Deutsch, Latein,
Französisch - nicht auch der niederländischen Sprache
zugewandt hat. Aber die wichtigsten Schriftsteller aus dem Norden
standen ihm in deutscher Übersetzung zur Verfügung, die
wichtigsten aus dem Süden konnte er auf Latein
lesen.
Seine Darstellung ist ausgewogen, manchmal
gerecht; er hat die königliche Partei nicht diabolisiert. Er
macht glaubhaft, dass man in Madrid die Liga des
niederländischen hohen Adels, die Opposition gegen die
Errichtung der neuen Bistümer, Bund und Bittschrift der
niedrigen Adel, und den schrecklichen Bildersturm als eine
zusammenhängende Verschwörung gesehen hat. Die
Gegenmaßnahmen deutet er als Antwort auf die unterstellte
Konspiration, genau wie es 200 Jahre später Geoffrey Parker
machte.
Als Beispiel für Schillers
Ausgewogenheit sei die Schilderung von der Belagerung und Einnahme
der Stadt Valenciennes 1567 erwähnt. Schiller stützt sich
auf die katholischen Schriftsteller und zeigt, wie vorsichtig und
mit welcher Zurückhaltung die Brüsseler Regierung
reagiert hat. Mehrmals wird der Stadt die Möglichkeit
gelassen, sich der Zentralgewalt zu ergeben; die protestantischen
Bevölkerung hätte Zeit zur Flucht. Zum ersten Mal im
niederländischen Konflikt bekommt man Zeit - sei es auch nur
14 Tage -, um das Land zu verlassen, wie es 15 Jahre später
unter dem Prinzen von Parma die Regel sein würde!
Personenbeschreibung
Aber Valenciennes trotzt und lässt es
auf einen Gewaltstreich ankommen, dem es unterliegt. Vergleichen
wir Schillers ausgewogene Beschreibung mit derjenigen des
nationalistischen Amerikaners John Lothrop Motley aus dem Jahre
1856, dann trägt Schiller den Sieg davon. Im Vergleich zu
Schillers Darstellung ist Motleys Deutung der Ereignisse ein
Rückschritt. Zu den anziehendsten und interessantesten
Bestandteilen des Werkes gehören die Schilderung der
Hauptpersonen und die Charakteristiken der Teilnehmer. In der
Einbeziehung der Personen in die Gesamtdarstellung zeigt sich
Schillers Größe. Auch hier ist er bemüht, beiden
Seiten gerecht zu werden. So sagt er zutreffend über die
Vorahnung des Prinzen von Oranien: "Aber seine Furcht war
früher da als die Gefahr, und er war ruhig im Tumult, weil er
in der Ruhe gezittert hatte." Dessen Bruder Ludwig von Nassau
beurteilt er mit größerer Distanz: der Graf sei "ein
zuverlässiger nervigter Arm, wenn ein weiser Kopf ihn
regierte".
Ohne Vergleich in der niederländischen
oder flämischen Geschichtsschreibung ist Schillers Darstellung
des königstreuen Ratsherrn Graf Berlaymont, der immer nur als
ein Speichellecker dargestellt wird. Schiller widmet ihn fast eine
ganze Seite und würdigt ihn volkommener und wahrscheinlich
gerechter als in der nationalen Geschichtsschreibung der
niederländisch-belgischen Doppelmonarchie, die ihn geradezu
verdammte.
Wahrheiten und Verunglimpfungen
In seiner historischen Bewertung verfügt
Schiller über ein zutreffendes Urteil. Er macht Bemerkungen,
die man sonst bei keinem Historiker des niederländischen
Aufstandes trifft. Deutlich sind seine allgemein-politischen
Bemerkungen, die nicht nur für dieses Thema ,sondern auch
für anderen politische Konflikte zutreffen, zum Beispiel: "Ein
wohlhabendes, üppiges Volk liebt den Frieden, aber es wird
kriegerisch, wenn es arm wird". Schiller legt viel Wert auf die
persönliche Anwesenheit des Königs - dessen Gegenwart
würde dem niederländischen "Gaukelspiel" sofort ein Ende
setzen. Schiller hat es Philipp verübelt, während der
allgemeinen Unruhen nicht in die Niederlande gereist zu sein,
während Karl V. allein wegen des Aufstandes der Stadt Gent
1540 nach Flandern zog.
Nach Schillers Meinung ist einem Herrscher
der Missbrauch angeborener Gewalt leichter zu verzeihen als einem
Stellvertreter mit delegierter Gewalt. Mit anderen Worten: man
hätte von Philipp II. ertragen, was man dem Herzog van Alba
nie verzieh. Und Schiller betonte, was moderne Historiker wie
Braudel oder Parker zwei Jahrhunderte nach ihm behaupteten:
Wäre das ganze Gewicht der Macht Philipps II. allein auf die
Niederlande gefallen, dann hätte die arme Republik keine
Chance gehabt. Philipp habe aber die spanischen Truppen 1562 aus
den Niederlanden abgezogen, weil er sie anderswo
brauchte.
Neben diesen Wahrheiten gibt es aber auch -
wer wollte es leugnen - Ungenauigkeiten und Fehler. In seinem
Freiheitspathos hat Schiller die Größe des Aufstandes
überschätzt: Er spricht von "national" oder von zwei
Dritteln der Bevölkerung; tatsächlich versuchte nur eine
energische Minderheit, sich durchzusetzen.
Auch die Zahl der Opfer der Verfolgung,
sowohl die der Inquisition als auch die nach der
Machtübernahme des Herzogs von Alba, betrug zusammen einige
Tausende, aber nicht in beiden Fällen Zehntausende, wie
Schiller behauptet. Ob er dies absichtlich gemacht hat, ist schwer
zu entscheiden - eine Sondierung seiner Quellen und Fußnoten
(richtig oder unrichtig) wäre eine schöne Aufgabe
für einen Emeritus, der sich in den Quellen
auskennt!
Neben Fehlern und guten Beobachtungen gibt es
auch persönliche Stimungen. Schiller steht auf Seiten der
Bürger und des Prinzen, der sich ihrer annimmt. "Das Volk"
heißt bei Schiller aber: der Haufen, und von dem distanziert
er sich. Ebenfalls mag er den niedrigen Adel nicht. Er verunglimpft
ihn, wie es kein Historiker aus den Niederlanden oder Belgien nach
ihm es getan hat. Auch der Führer des Adelsbundes, Heinrich
von Brederode, hat bei ihm eine äußerst negative
Presse.
Stimmungen
Die Psychologie der ganzen Gruppe indes ist
aber wieder einleuchtend und manchmal hervorragend: wie ein Adliger
den anderen zur "Verschwörung" hinreißt, ist von keinem
anderen Historiker so zutreffend beschrieben wie hier. Schillers so
unterschiedliche Stimmungen rücken gleichsam die Vergangenheit
näher heran. Können wir uns noch vorstellen, wie sich
Niederländer und Spanier einander angefeindet haben? Oder
Katholiken, Kalvinisten und Lutheraner? Man lese Schillers
Interpretation der Beschlüsse des Trienter Konzils, und die
Feindseligkeiten stehen unvermittelt wieder auf. Er verunglimpft
die Entscheidungen des Konzils, wie zeitgenössische
Berichterstatter diese hätten deuten können, und bringt
so die Geschichte näher.
Drei Jahre nach dem Erscheinen der ersten
deutschen Ausgabe erschien in Amsterdam der erste Band auf
Niederländisch. Bei diesem ersten Versuch ist es geblieben.
Damals waren die politischen Zeiten in den Niederlanden einer
Aufnahme der Vorgeschichte zum Aufstand nicht günstig: Das
Ancien Régime ging 1795 zu Ende, und während der 18 Jahre
der französischen Besatzung hatte man andere Sorgen. Als im
19. Jahrhundert in den Niederlanden die französische Literatur
der deutschsprachigen Platz machte, war die Sprache Schillers
leicht verständlich, um nach Übersetzungen zu
fragen.
In diesem Schillerjahr 2005 ist endlich eine
vollständige Übersetzung der Geschichte des "Abfalls" auf
Niederländisch erschienen, genauestens dokumentiert und mit
einem informativen Nachwort versehen. Schillers zutreffende
Charakteristiken, seine ausgeglichenen Urteile, seine allgemeinen
Wahrheiten und psychologischen Porträts, seine Stimmungen und
Verunglimpfungen können jetzt auch von allen Flamen und
Niederländern gelesen, nachgeprüft und genossen werden.
Und jetzt ins Spanische bitte!
Bibliografischer Hinweis
Friedrich Schiller: De Opstand der
Nederlanden. Vertaling Wilfred Oranje.
Nawoord en annotaties Eric Moesker. Boom,
Amsterdam 2005. ISBN 9085061164. Illustriert.
Zum Aufstand in den Niederlanden:
http://dutchrevolt.leidenuniv.nl.
Auf Deutsch in Zusammenarbeit mit
dem
Institut für Geschichte der
Universität Wien.
Anton van der Lem ist Leiter der Abteilung
historische Drucke in der Universitätsbibliothek Leiden und
Chefredakteur der Webseite der Universität.
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