Detlef Altenburg
"Rast dieses Volk, daß es dem Mord Musik
macht?"
Freiheit und Vaterland im ,Wilhelm
Tell'
Schiller und die Musik - dies scheint ein Thema
zu sein, bei dem der Musik- und Theaterfreund so recht auf seine
Kosten kommt. Er denkt an Beethovens Neunte Symphonie mit ihrer
"Ode an die Freude", an Verdis Oper "Don Carlos", an Schuberts
Schiller-Vertonungen und er erinnert sich, dass Franz Liszt in der
zwölften seiner Symphonischen Dichtungen "Die Ideale" von
einem Gedicht Schillers ausgeht. Schiller hat zwar nie - im
Gegensatz zu Goethe - mit Opernlibretti experimentiert, konnte sich
aber der Faszination der Oper nicht entziehen. Ja, eines seiner
bedeutendsten Bühnenwerke erschließt sich in seiner
ganzen Tragweite erst durch die von ihm vorgesehene Musik.
Im Theater der Goethezeit war Musik ein
wesentliches Element der Inszenierung, überhaupt der
Dramenkonzeption. Auch im Sprechtheater begann die Aufführung
oft mit einer Ouvertüre; zwischen den einzelnen Akten
erklangen Zwischenaktmusiken, und vielfach kulminierten die Ideen
des Dramas in einer Schlussmusik, die für den Zuschauer wie
beim späteren Hollywoodfilm die Handlung in die eigene
Gegenwart verlängerte und die Brücke zur Rückkehr in
die Realität bildete.
Nicht wenige Stücke aus solchen
Schauspielmusiken - wie Beethovens Ouvertüre zu Goethes
"Egmont" - führten bald ein Eigenleben. Ein Sonderfall ist das
Lied "Mit dem Pfeil, dem Bogen" aus Schillers "Wilhelm Tell" (III,
1): Ursprünglich für die Berliner Inszenierung 1804
komponiert, ging es in den Schatz der Volkslieder ein. Im "Tell"
ist es allerdings kein isoliertes Einlagelied, sondern Bestandteil
einer das Drama durchziehenden musikalischen Dramaturgie. Der Musik
kommt hier insofern eine bemerkenswerte Rolle zu, als die
Regieanweisungen an entscheidenden Stellen Gesänge und
Instrumentalmusik vorsehen und auf dem Theater der Zeit genau so
umgesetzt wurden.
Glockengeläut und Kuhreigen
Gleich die erste Szene ist als regelrechte
Opernszene konzipiert. Schillers Regieanweisung sieht vor, dass der
Zuschauer entsprechend eingestimmt wird: "Noch ehe der Vorhang
aufgeht, hört man den Kuhreihen und das harmonische
Geläut der Heerdenglocken, welches sich auch bei
eröffneter Scene noch eine Zeitlang fortsetzt." Der dann
folgende Beginn des Schauspiels ist einigermaßen
ungewöhnlich: Noch bevor ein einziges Wort gesprochen wird,
beherrscht Musik die Szene. Ein Fischerknabe "singt im Kahn", wie
der Regiehinweis vorsieht ("Es lächelt der See, er ladet zum
Bade"), vom Berge antwortet ein Hirte mit einem Lied ("Ihr Matten
lebt wohl"), und mit zwei Strophen eines Alpenjägers ("Es
donnern die Höhen, es zittert der Steg") endet die
musikalische Eröffnung. Die Szene verdient um so mehr
Beachtung, als Schiller für das Lied des Fischerknaben
ausdrücklich vorschreibt: "Melodie des Kuhreihens", die dann
vom Hirten ("Variation des Kuhreihens") und vom Alpenjäger
aufgegriffen wird ("Zweite Variation").
Der Kuhreihen oder Kuhreigen ist jener
Melodietyp, der von den Schweizer Hirten gesungen wurde, um die
Kühe zum Melken zu rufen. Seit der berühmten Beschreibung
Jean-Jacques Rousseaus in seinem "Dictionnaire de Musique" (Paris
1768) hat er die Phantasie von Komponisten und Autoren bis weit ins
19. Jahrhunderts immer wieder beflügelt. Der Kuhreigen
verkörperte für Rousseau die ursprüngliche
Ausdruckskraft und Wirkungsmacht der Musik schlechthin: Diese
beruhe nicht primär auf Intervallkonstellationen, sondern auf
den Assoziationen, die sich mit dieser Melodie
verbinden.
Dieser Passus fand Eingang in Johann
Gottfried Ebels "Schilderung der Gebirgsvölker der Schweiz".
Dort heißt es: "Wenn bei den schweitzerischen Regimentern in
Frankreich der Kuhreihen gespielt oder gesungen wurde, so
zerfloßen die Alpensöhne in Thränen, und fielen, wie
von einer Epidemie ergriffen, haufenweise plötzlich in solche
Heimsehnsucht, daß sie desertirten, oder starben, wenn sie
nicht ins Vaterland gehen konnten. Diese außerordentliche
Wirkung jener Alpenmusik ward der Grund, warum bei Todesstrafe
verboten wurde, den Kuhreihen weder zu pfeifen noch zu
singen."
Schiller kannte diesen Text. Mit dem
Stichwort "Schweiz" verbindet sich im "Tell" die Idee von Freiheit
und Vaterland - in der konkreten Situation der deutschen Staaten um
1800 ein politisch höchst aktuelles Thema.
Der Kuhreigen bleibt im "Tell" nicht auf die
Eingangsszene beschränkt, sondern ist eine Art Leitmotiv, das
immer anklingt. In der Auseinandersetzung zwischen Rudenz und
Attinghausen im zweiten Aufzug wird er als Symbol für die
Identität der Schweiz und zugleich für die Sehnsucht nach
dem Vaterland beziehungsweise der Heimat dechiffriert. Wie eine
Paraphrase über Rousseaus Beschreibung des Kuhreigens und
seiner elementaren emotionalen Wirkung mutet es an, wenn Schiller
Attinghausen verkünden lässt:
"Mit heißen Thränen wirst du dich
dereinst
Heim sehnen nach den väterlichen
Bergen,
Und dieses Heerdenreihens Melodie,
Die du in stolzem Ueberdruß
verschmähst,
Mit Schmerzenssehnsucht wird sie dich
ergreifen,
Wenn sie dir anklingt auf der fremden
Erde.
O mächtig ist der Trieb des
Vaterlands!"
Schon hier wird deutlich, dass für
Schiller der Kuhreihen mehr ist als ein klingendes Requisit. Er
steht für die zentralen Themen des Schauspiels, für die
Idee der Freiheit und des Vaterlands.
Eine völlig andere Funktion hat die
Schlussmusik des zweiten Aufzugs: Am Ende der Rütli-Szene soll
nach Schillers Anweisung die Musik das letzte Wort haben: "Indem
sie zu drei verschiednen Seiten in größter Ruhe abgehen,
fällt das Orchester mit einem prachtvollen Schwung ein, die
leere Scene bleibt noch eine Zeitlang offen und zeigt das
Schauspiel der aufgehenden Sonne über den Eisgebirgen." Nach
Stauffachers Aufruf zur Besonnenheit kommt der Musik in Verbindung
mit der aufgehenden Sonne als "Wahrzeichen der Aufklärung" die
Funktion zu, eine Ahnung vom Ausgang des Dramas zu vermitteln: Sie
antizipiert die Überwindung der Tyrannei und die Erlangung der
Freiheit.
Auch der dritte Aufzug beginnt mit Musik.
Walther, Tells Sohn, singt hier sein Lied "Mit dem Pfeil, dem
Bogen/Durch Gebirg und Thal", dessen Text von Schiller
bemerkenswerterweise erst während der Weimarer
Bühnenproben im März 1804 eingefügt wurde.
Entscheidend für die dramaturgische Funktion dieses Liedes
ist, dass Walther fast zum Opfer des von Geßler erzwungenen
Gottesurteils des Apfelschusses wird. Walthers Lied, das den
unerschütterlichen Glauben an das Metier und die Freiheit des
Jägers artikuliert, wird dadurch, dass es als
Gesangsstück aus dem Kontext herausgehoben ist, gleichsam zum
Motto des gesamten nachfolgenden Aufzugs. Es ist kein Zufall, dass
dieses Lied eine derartige Popularität erlangt hat.
"Durch diese hohle Gasse"
Musik spielt erneut eine zentrale Rolle in
der Schlüsselszene des "Wilhelm Tell", in der dritten Szene
des vierten Aufzugs, in der es zur Katastrophe kommt: Sie beginnt
mit dem großen Monolog Tells ("Durch diese hohle Gasse
muß er kommen") und scheint zeitweilig in eine heitere
Alpenidylle umzuschlagen, in der der Zuschauer den Hochzeitszug des
Klostermeyer erlebt. Wir sehen den Hochzeitszug nicht nur, sondern
wir hören wir ihn schon, bevor wir ihn sehen. Doch was
zunächst als "tönendes Requisit" erscheint, erweist sich
als Element einer außerordentlich wirkungsvollen
Zweischichtendramaturgie, die der Musik eine eigene kontrastierende
Ebene zuweist:
Während sich der Konflikt mit
Geßler zuspitzt, erklingt erneut von fern die heitere Musik
des Hochzeitszuges, aber: "Man hört die vorige Musik wieder
auf der Höhe des Wegs, aber gedämpft" (V. 2773).
Gedämpfte Bläsermusik steht in der Oper seit eh und je
für den Ausdruck der Trauer. Hier signalisiert sie dem
Zuschauer den tragischen Ausgang der Handlung. Der Hochzeitszug mit
seinem Bauernmarsch kommt schließlich in dem Moment wieder auf
der Bühne an, in dem der Konflikt kulminiert und Geßler
sein Leben aushaucht: "indem die vordersten von dem Brautzug auf
die Scene kommen sind die hintersten noch auf der Höhe, und
die Musik geht fort" (V. 2797).
Zur heiteren Musik des Hochzeitszuges, der
zunehmend die Bühne füllt, verblutet der Tyrann. Die
Musik verrät gegen den Augenschein der äußeren
Handlung, dass der letale Ausgang für die Menge, die das
Bühnengeschehen beherrscht, für das Volk, kein Grund zur
Trauer ist. In einem jähen Schnitt wird die Musik von Rudolph
dem Harras zum Verstummen gebracht:
"Rast dieses Volk,
Daß es dem Mord Musik macht?
Laßt sie schweigen."
Hier, nach dem Verstummen der Musik, bricht
Schiller seine Zweischichtendramaturgie durch einen schroffen
Kontrast: Mit einer erst während der Proben für die
Weimarer Uraufführung ergänzten Trauermusik schließt
Schiller den Aufzug, und zwar mit einem Chor der Barmherzigen
Brüder, der das Vorbild der antiken Tragödie nicht
verleugnen kann:
"Rasch tritt der Tod den Menschen
an,
Es ist ihm keine Frist gegeben,
Es stürzt ihn mitten in der
Bahn,
Es reißt ihn fort vom vollen
Leben,
Bereitet oder nicht, zu gehen,
Er muß vor seinen Richter
stehen!"
Es ist nicht zu übersehen, dass durch
diesen sakralen Chor die Provokation des Tyrannenmordes zu den
Klängen des Bauernmarsches nur scheinbar gemildert wird. Hier
wird kein Trauerchor angestimmt, sondern sentenzhaft die
Unausweichlichkeit und Schicksalshaftigkeit des Todes besungen. Bei
der dritten Weimarer Aufführung strich Schiller diesen Chor
wieder.
Leitmotiv des Schauspiels
Nicht nur den Anfang des Stückes,
sondern auch den Schluss prägt die Musik. Die Stringenz der
musikalischen Dramaturgie wahren die beiden letzten Szenen, wenn
Schiller (V. 3270) erneut den Kuhreihen erklingen und damit das
Symbol für Vaterland und Freiheit ein weiteres Mal anklingen
lässt: "Man hört den Kuhreihen von vielen Alphörnern
geblasen." Nicht ein einziges Mal war diese Melodie während
des Konfliktes mit den Habsburgern erklungen.
In der letzten Szene wird Tell als "Erretter"
gefeiert: "Die Musik vom Berge begleitet diese stumme Scene" (nach
V. 3281). In einem kurzen Schlussdialog wird die endgültige
Aussöhnung mit Bertha und Rudenz vollzogen. "Indem die Musik
von neuem rasch einfällt, fällt der Vorhang", heißt
es in Schillers Regieanweisung nach Rudenzens letzten Textworten.
Wie im Film ist die Musik hier integraler Bestandteil des
Werkschlusses. Goethes "Egmont" mit der vom Dichter selbst
vorgesehenen Schlussmusik einer Siegessymphonie, die über die
Handlung hinaus verweist, ist somit kein Einzelfall in der
Theatergeschichte.
Musik prägt von der ersten bis zur
letzten entscheidende Szene das ganze Schauspiel. Nicht
zufällig eröffnet Schiller den ersten Akt mit einer Folge
von Liedern, die Teilmomente der Idylle in einem Totaleindruck
aufgehen lassen, beschließt dann aber das Schauspiel mit
Instrumentalmusik, die auf der Grundlage des leitmotivisch
verwendeten Kuhreihens das Konkrete der Musik gleichsam ins
Allgemeine wendet. Es ist die eben erst in der Symphonik der
Klassik gewonnene Ausdruckskraft der Instrumentalmusik, auf deren
Wirkung Schiller vertraut.
Instrumentalmusik verkündet nicht nur im
vierten Akt die wahren Empfindungen über den Tyrannenmord,
sondern weist am Schluss wie eine Vision über das Ende der
eigentlichen Handlung und die Schweiz als "der Freiheit Land"
hinaus und lässt den Zuschauer teilhaben am Triumph der
Freiheit. Was mit Schillers Idee einer musikalischen Apotheose der
Freiheit gemeint sein mag, kann nachempfinden, wer sich 1989/90 von
Beethovens Musik zu Schillers "Ode an die Freude" und Leonard
Bernsteins Aktualisierung "Freiheit, schöner
Götterfunken" mitreißen ließ.
Der Autor ist Musikwissenschaftler und
unterrichtet an der Hochschule für Musik "Franz List" in
Weimar.
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