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Barbara Piatti
Ein unzerstörbarer Mythos nicht nur für
die Schweiz
Schillers "Tell" - Stationen einer bewegten
Geschichte
Um 1800 hatte sich Schiller dem Tell-Stoff
zugewandt und die Geschichte in ihre bis heute gültige Form
gegossen - in ein spannungsreiches Drama, dem eine ungeheure
Wirkungsgeschichte beschieden war. Häufig wird davon
ausgegangen, Schiller sei der eigentliche Entdecker des
Tell-Stoffes gewesen. Doch die Figur Wilhelm Tell hatte zu dieser
Zeit schon eine lange Karriere hinter sich. Und Schiller ging dabei
kein Risiko ein. Im Gegenteil, er hat immer, auch beim Tell, sein
schier untrügliches Gespür für die Wahl
publikumswirksamer Stoffe bewiesen. Denn um 1800 war die Geschichte
um den Freiheitshelden so populär wie nie zuvor.
Die frühesten Spuren von Wilhelm Tell
führen in den Norden, nach Dänemark. Um 1200 zeichnet
dort der Mönch Saxo Grammaticus die Geschichte eines
Schützen auf - Toko sein Name -, der von einem grausamen
Herrscher zur Mutprobe mit dem Apfelschuss gezwungen wird und
diesen hinterher aus Rache umbringt. Diese Sage, eine Wandersage,
gelangte später über verschlungene Wege in die
spätere Kernzone der Eidgenossenschaft, an den
Vierwaldstättersee.
Dabei geschah etwas Erstaunliches: Die Sage
vom nordischen Meisterschützen blieb an diesen Ufern und in
diesen Tälern hängen. Es ist, als hätte die
Geschichte, nach langer Wanderung, einen ihr angemessenen
Schauplatz gefunden, um hier ihre volle Wirkung zu entfalten. Immer
schon ist festgestellt worden, dass dem Vierwaldstättersee mit
den steil ins Wasser abfallenden Felswänden und den
Schneegipfeln eine genuine Theatralität eigen ist - er ist
tatsächlich eine Bühne aus Fels und Wasser, Wald und
Himmel.
Toko jedenfalls wird hier zu Thall oder Tell
und entwickelt sich unter diesem Namen schnell zu einem
Lokalhelden, vor allem auf dem Boden Uris. Sein Heldenschicksal
verknüpft sich mit den Überlieferungen vom Ursprung der
Eidgenossenschaft, also mit den Motiven von Rütlischwur und
Burgenbruch. Vom späten 15. Jahrhundert an entstehen
Chroniken, Lieder, Bilder, Theaterstücke, die von Tells Taten
berichten; die Figur verlässt den Dunstkreis der
Mündlichkeit und betritt die Welt der Schriftlichkeit. Von nun
an reiht sich Zeugnis an Zeugnis, und die Urschweizer Landschaft
wird vom Mythos durchdrungen.
Aber Tells Radius beschränkt sich
keineswegs nur auf die Innerschweiz. In der zweiten Hälfte des
18. Jahrhundert gelingt ihm der Sprung auf das internationale
Parkett, von der wilden, abgeschiedenen Bergwelt der Urner
Täler nach Frankreich und sogar nach Übersee. Als man im
gärenden Paris der Revolutionsjahre auf den Sturz des
Königs hinzuarbeiten begann, vermehrten sich die Berufungen
auf Wilhelm Tell und seinen Tyrannenmord. Der Innerschweizer
Schütze wurde zum bildmächtigen Symbol des
Umsturzes.
Folgerichtig fiel der Höhepunkt der
Tell-Begeisterung in die Zeit der jakobinischen
Schreckensherrschaft, in die dramatischste Phase der Revolution,
als die Guillotine unablässig arbeitete: Wilhelm Tell aus Uri
als Revolutionsheiliger in Paris. Gerade unter Anrufung des
Schweizer Helden hielten die Machthaber jede Untat für
berechtigt; innerhalb ihres Terror-Regimes entfaltete Tell seine
volle propagandistische Wirkung. Er war Teil der Symbole und
Wahrzeichen der Französischen Revolution geworden.
Weniger bekannt dürfte Tells "Einsatz"
im Unabhängigkeitskrieg der Vereinigten Staaten gegen das
Mutterland England einige Jahre zuvor sein. Betont wurde die
Wahlverwandtschaft zwischen dem jungen Amerika und der älteren
Eidgenossenschaft. Die schweizerische Befreiungstradition galt als
Spiegel und Vorbild für die eigene, blutig erkämpfte
Unabhängigkeit. Besonders schön visualisiert wird die
Idee dieser Verbindung zwischen den beiden Staaten in einem Stich,
der die "Helden der alten Freyheit" zeigt, Washington und Tell, den
ersten Präsidenten der USA und den Urner Schützen aus dem
Schächental.
Wilhelm Tell in Weimar
Vor diesem Hintergrund ist Schillers Griff
nach dem Stoff zu sehen. Der Dramatiker stürzte sich mit
großem Eifer in das Studium der Quellen, bestellte Bücher
und Landkarten, Kupferstiche und Aquatinten, lieh sich Werke aus
der großherzoglichen Bibliothek aus, las und notierte
nächtelang. "Ich bin genötigt, viel darüber zu
lesen, weil das Locale an diesem Stoffe soviel bedeutet, und ich
möchte gern soviel möglich örtliche Motive nehmen",
schrieb er im September 1803 an einen Freund.
Im Laufe der Monate bedeckten sich die
Wände von Schillers Arbeitszimmer mit Zetteln, Skizzen,
Grafiken und Karten, wie Goethe berichtete. Der Dichter tauchte
vollkommen ein in die mittelalterliche Welt der Urkantone und holte
sich die sublime Landschaft gewissermaßen in seine eigenen
vier Wände. An Goethe bemerkte er im August 1803: "Ich selbst
stehe noch immer auf dem alten Fleck und bewege mich um den
Waldstättensee herum." In keinem anderen Stück betrieb er
einen solchen Aufwand mit der Beschreibung des
Handlungsraumes.
Bei seinem Besuch in der Landschaft Tells
stellte der Schweizer Schriftsteller Urs Widmer im Herbst 2003
fest, dass Schiller die Handlung "durch eine geradezu aufdringlich
exakte Topografie" beglaubige. 150 geografische Angaben zählte
er in dem Stück. "Schiller muss mit dem Vergnügen eines
Kopfreisenden auf seine Karte geblickt und sich immer erneut
geeignete Orte herausgepickt haben. Er macht keine Fehler. Keine
Angaben, die sich widersprechen. Die Wege wären
abschreitbar."
Schiller hat die Schauplätze der
Tell-Sage nie mit eigenen Augen gesehen. Zu gerne hätte er, um
seinem Handlungsraum noch mehr Dichte zu verleihen, den Urnersee,
das Rütli, Altdorf und die Hohe Gasse besucht. Aber sein
Gesundheitszustand hätte es nicht erlaubt, eine solche Reise
zu unternehmen.
Am 17. März 2004 dann die
Uraufführung am Weimarer Hoftheater - unter Goethes
künstlerischer Leitung, der als Gesprächspartner und
kritischer Leser der einzelnen Akte viel zum Gelingen des
Stückes beigetragen hatte. Augenzeugen hielten fest, dass der
Platz vor dem Theater schon nachmittags um drei gedrängt
voller Menschen war. Um halb sechs begann die Vorstellung. Der
"Wilhelm Tell" wurde als ein opulentes Stück gegeben,
opernhaft in jeder Hinsicht und reich an Effekten. Es sollte, so
Schillers Absicht, "als ein Volksstück Herz und Sinne
interessieren."
Der Applaus war überwältigend.
"Wilhelm Tell" war nicht nur Schillers letztes vollendetes Drama,
sondern auch sein größter Triumph zu Lebzeiten. "Der Tell
hat auf dem Theater einen größern Effect als meine andern
Stücke, und die Vorstellung hat mir große Freude gemacht.
Ich fühle, dass ich nach und nach des theatralischen
mächtig werde", schrieb er wenig mehr als ein Jahr vor seinem
Tod.
Politischer Sprengstoff
Was Schiller nicht mehr erlebt, aber offenbar
geahnt hat: Das Stück barg genug politischen Sprengstoff
für zwei Jahrhunderte in sich. "Wenn man einmal ein solches
Süjet, wie der Wilhelm Tell ist, gewählt hat, so muss man
notwendig gewisse Saiten berühren, welche nicht jedem gut ins
Ohr klingen." Diese prophetische Aussage Schillers vom 14. April
1804 ließe sich freilich als Motto über die politische
Wirkungsgeschichte des "Wilhelm Tell" setzen.
Fast kann man sagen: Es gab wohl, von der
Weimarer Uraufführung abgesehen, keine Bühne, die das
Stück so brachte, wie Schiller es geschrieben hatte.
Gleichzeitig - und das eine bedingt natürlich das andere -
gibt es wahrscheinlich kein Drama, das dermaßen anfällig
für politische Vereinnahmungen ist. Das gilt für
Deutschland wie für die Schweiz.
Während der Napoleonischen Herrschaft
und der Befreiungskriege war die Gleichung denkbar einfach:
Napoleon war Gessler, die Grande Nation rückte an die Stelle
des Habsburgerreiches. Umso donnernder der Applaus in den deutschen
Theatern, weil man den Text auf die Situation des eigenen
Vaterlandes bezog:
"Zum letzten Mittel, wenn kein andres
mehr
Verfangen will, ist ihm das Schwert gegeben
-
Der Güter höchstes dürfen wir
verteidg'en
Gegen Gewalt - Wir stehn vor unser
Land,
Wir stehn vor unsre Weiber, unsre
Kinder!"
(Verse 1.285ff.)
Deutsche Soldaten trugen Schillers Drama auf
dem Herzen, wenn sie ins Feld zogen, und vor der
Völkerschlacht von Leipzig (1813) rezitierten sie den
Rütli-Schwur ("Seid einig, einig, einig!"). Und noch 100 Jahre
später, im Ersten Weltkrieg, bot man den Soldaten
Wilhelm-Tell-Freilichtaufführungen direkt hinter der Front -
zur Stärkung der Kampfmoral.
1923, als belgische und französische
Truppen das Rhein- und Ruhrgebiet besetzten, verboten diese
Besatzungsmächte den "Wilhelm Tell". In Essen wurde noch am
Abend vor der Besetzung der Stadt, am 14. Februar 1923, Schillers
Drama unter begeisterten Kundgebungen der Zuschauermenge
aufgeführt. Am nächsten Tag schlossen französische
Truppen das Theater und stellten Wachposten davor auf. Walter
Muschg fasst diesen ewigen Wechsel von Verbot und Wiederaufnahme
bündig zusammen, wenn er schreibt, wir hätten "schon
deshalb Ursache (diesen Tell) hochzuhalten, weil er noch immer
zuerst verboten wird, wenn irgendwo die Freiheit eines Volkes
unterdrückt werden soll, und man zuerst ihn wieder spielt,
wenn die Befreiung gelungen ist".
"Das höchste Geschenk"
In der Schweiz verlief die Entwicklung
gradliniger. "Wilhelm Tell" genoss schon bald ungeteilte
Zustimmung, wurde als Nationalstück verstanden und der
Volkskultur einverleibt. Es bescheinigte der Schweiz eine stolze
Vergangenheit, auf die man sich, gerade in heiklen Phasen, immer
wieder beziehen konnte. In der Basler Festrede zum 100. Geburtstag
von Schiller (1859) betonte Jacob Burckhardt, dass "dies Drama ...
zugleich das höchste Geschenk Deutschlands an die Schweiz"
sei.
Das Stück ist für beide
Länder, für Deutschland und für die Schweiz, zum
nationalen Schauspiel geworden. Dieser Umstand zeigt sich besonders
deutlich im Vorfeld des Zweiten Weltkriegs und in den Kriegsjahren
selbst. In Deutschland war das Stück zunächst als
"National- und Führerdrama" hochgeschätzt. Doch 1941
realisierte Hitler, dass seine Person durchaus auch mit Gessler
gleichzusetzen war. Er ließ das Drama daraufhin durch einen
geheimen Erlass verbieten: "Der Führer wünscht, dass
Schillers Schauspiel Wilhelm Tell nicht mehr aufgeführt wird
und in der Schule nicht mehr behandelt wird."
Zur selben Zeit wurde "Wilhelm Tell" in der
Schweiz zu einem wichtigen Instrument im Dienste der sogenannten
Geistigen Landesverteidigung. Legendär war die Aufführung
am Zürcher Schauspielhaus, die seit der Premiere im Januar
1939 unablässig auf dem Spielplan stand. Der große
Schweizer Schauspieler Heinrich Gretler übernahm den Part des
Tell. In der Rolle seines Widersachers Gessler war Wolfgang
Langhoff zu sehen - ein aus Deutschland emigrierter Künstler,
der vor seiner Flucht in die Schweiz im KZ Börgermoor
inhaftiert gewesen war. In einer Laudatio sollte sich Kurt
Hirschfeld später an Gretlers Tell erinnern: "Tausende und
Abertausende verstanden durch Dich, was Freiheit, was
Humanität, was Toleranz bedeutete. Du warst in diesen Jahren
nicht nur ein Schauspieler, Du warst ein politischer Faktor ...
."
Die Probleme der Schweiz mit dem
Nationalmythos und damit auch mit Schillers "Wilhelm Tell" begannen
erst in der Nachkriegszeit. Der jüngeren Generation lag das
Pathos der Geistigen Landesverteidigung schwer auf. Vor diesem
Hintergrund der im Rückblick als problematisch empfundenen
Selbstinszenierung der Schweiz muss der Hohn am schweizerischen
Nationalhelden gesehen werden. Am gründlichsten - und
originellsten - ging Max Frisch bei der Mythen-Demontage vor. Sein
"Wilhelm Tell für die Schule" (1971) ist eine Attacke gegen
das System des Heldenmythos, nicht gegen Schillers Stück, denn
dem erweist Frisch, wie es jede gute Parodie tut, letztlich die
Ehre.
In Westdeutschland kam es in der
Nachkriegszeit zunächst zu einigen weitgehend werkgetreuen
Aufführungen, die zu keinerlei Aufregung Anlass gaben - und
erst dann zu einem Skandal, aber zu was für einem!
Hansgünther Heymes Wiesbadener Inszenierung 1966 bedeutete die
"Wende" in der Klassikerrezeption des Westens. Gnadenlos rechnete
Heyme, der den Krieg noch als Kind miterlebt hatte, mit der
jüngsten deutschen Vergangenheit ab. Gleichzeitig trieb ihn
die Frage um, weshalb Schillers Stück sich in so ungeheurem
Ausmaß manipulieren und vereinnahmen ließ.
Travestie der Machtübernahme
Als Antwort manipulierte er den "Tell"
seinerseits, und zwar so, dass es zu einer Umkehrung aller Werte
kam. "Der Aufstand der Schweizer bekam Züge faschistischer
Massenhysterie, ihr demagogischer Einpeitscher Stauffacher war in
die Nähe von Goebbels gerückt, dem Rütli-Schwur
wurde die Melodie des "Horst-Wessel-Liedes" unterlegt ... und der
Mord des rohen Asozialen Tell an Gessler wurde zum Auftakt einer
Serie von chauvinistisch motivierten Gewalttaten der nun vollends
hemmungslosen und nicht mehr kontrollierbaren Masse." Das
Schlusstableau schließlich wurde zu einer Travestie der
Machtübernahme von 1933.
Mit Schillers "Wilhelm Tell" ist so ziemlich
alles gemacht worden, was man mit einem Stück auf der
Bühne machen kann. Es wurde vermeintlich werkgetreu
aufgeführt, es wurde zum Prüftstein der Moderne, es wurde
zum Träger politischer Botschaften jedweder Couleur, es wurde
in der pathosfeindlichen Nachkriegszeit in Deutschland wie in der
Schweiz demontiert, es wurde schließlich banalisiert und
verkalauert. Und weil alles gemacht worden ist, herrscht nun, ganz
folgerichtig, eine gewisse Ratlosigkeit.
Gelänge es, die Verkrustungen der
Wirkungsgeschichte aufzulösen, so entdeckt man darunter nichts
geringeres als eben ein Stück Weltliteratur: unvergleichlich
in der sprachlichen Brillanz und Prägnanz, in der
dramaturgischen Raffinesse, im Facettenreichtum der Charaktere, die
viel mehr Ecken und Kanten aufweisen, als es die
Schwarz-Weiß-Malerei der politischen Wirkungsgeschichte je
vermuten ließe.
Barbara Piatti ist
Literaturwissenschaftlerin. Sie lebt in Basel; im vergangenen Jahr
hat sie im Schwabe Verlag, Basel, ein hochgelobtes Buch "Tells
Theater. Eine Kulturgeschichte in fünf Akten zu Friedrich
Schillers Wilhelm Tell" veröffentlicht.
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