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Barbara Piatti
Ewigkeitsschwüre auf dem Rütli
Unterwegs mit Schillers "Wilhelm
Tell"
Sofort nach der bejubelten Uraufführung auf dem Weimarer
Hoftheater im März 1804 und dem Erscheinen des gedruckten
Textes einige Monate später wurde Schillers "Wilhelm Tell" zum
Reiseführer durch die Innerschweiz. Zahllose
Berühmtheiten, Dichter, Maler, Komponisten, unternahmen
literarische Pilgerfahrten, unter ihnen Mark Twain, Alxandre Dumas,
Leo Tolstoi, James Fenimore Cooper und später Elias
Canetti.
Eine typische Pilgerfahrt darf man sich wie folgt vorstellen:
Ein Boot - auf den Ruderbänken zwei wortkarge Einheimische -
gleitet über das Wasser, darin eine aufs Höchste
vergnügte Reisegesellschaft aus Deutschland, die aus dem
Staunen nicht herauskommt. Soviel landschaftliche Herrlichkeit auf
einem Fleck! Einer packt ein Oktavbändchen aus dem Ranzen,
blättert, sucht nach der passenden Stelle und beginnt den
Reisegefährten unter dem linnenen Sonnendach aus dem "Tell"
vorzulesen.
Man las "Schillers zart romantische Einleitung zum Tell", das
heißt: die erste Szene im ersten Akt, wo die Landschaft sich
in voller Pracht entfaltet, während sich durch ebendiese
Szenerie rudern ließ. "Jetzt sind wir endlich auf dem See, der
Himmel hell und klar; da wird Schiller hervorgeholt, und sein Tell
mit Andacht gelesen; denn hier ist der Ort dafür ...!",
heißt es in einem Reisetagebuch von 1823.
Zu den Schiller-Lesern während einer Reise durch die
Urschweiz gehörte der Komponist Felix Mendelssohn Bartholdy.
Als er im August 1831 an Ort und Stelle im "Tell" zu lesen begann,
war kein Halten mehr: "Eben habe ich mich hier im reizendsten Thal
an Schillers Wilhelm Tell wieder gemacht, und nur eben die erste
halbe Seite wieder gelesen ... Dann ist es auch gar zu schön,
dass er sich die ganze Schweiz selbst erschaffen hat, sie niemals
selbst gesehen hat, es ist alles so treu u. so ergreifend wahr:
Leben, Leute, Natur u. Landschaft. Ich schreibe aber confus u. will
lieber aufhören, jetzt bin ich gar zu tief im Tell, will ihn
auch gleich auslesen."
1853 ist ein besonderer Besuch zu verzeichnen. Franz Liszt,
Richard Wagner und Georg Herwegh - allein das Trio ist sagenhaft! -
machten sich an einem Juli-Tag auf zu einer Wanderung. Um sieben in
der Früh starteten sie von Brunnen aus, in einem von zwei
Einheimischen geruderten Boot. Auf dem Rütli angekommen
tranken sie Brüderschaft, mit der hohlen Hand Wasser aus den
drei Quellen schöpfend, die der Legenden nach den Schwurort
markierten - das Ganze natürlich in Anlehnung an den Bund von
Stauffacher, Melchthal und Fürst.
Ein Traum-Trio
Wenn man diesen unbeschwerten Sommerausflug durch die Folie der
deutschen Geschichte betrachtet, will heißen: durch ein ganz
bestimmtes Ereignis, bekommt sie sofort eine ganz andere
Einfärbung. Es war der entschiedene Republikaner Richard
Wagner, der, steckbrieflich gesucht, in der Schweiz Zuflucht
gefunden hatte. Auch gegen Herwegh war ein Haftbefehl ausgestellt,
auch er rettete sich als politischer Flüchtling in die
Schweiz.
Und nun standen die beiden deutschen Freiheitskämpfer,
Wagner und Herwegh, die für ihren politischen Einsatz bitter
bezahlen mussten und deren eigene Revolution 1948/49 gescheitert
war, mit ihrem Freund Franz Liszt auf dem Rütli. Sie standen
auf dem Boden des jungen Bundesstaates (1848) - auf dem Boden einer
Republik, die im Herzen des von Revolutionen und Machtkämpfen
erschütterten und noch immer monarchischen Europas
aufblühte.
Ludwig II. folgte ebenfalls literarisch geprägten Pfaden,
in Begleitung des jungen Hofschauspielers Ludwig Kainz. 1885
charterte der "Märchenkönig" den Dampfer
"Waldstätter" gleich für die Dauer seines ganzen
Aufenthaltes. Tag für Tag, und vor allem in manchen mondhellen
Nächten wurden die Stätten der Tellgeschichte aufgesucht,
das Rütli gleich mehrere Male. Man ließ sich im Gras
nieder, und nun war es an Kainz, den Zauber der Nacht zu
erhöhen. Er rezitierte Verse aus Schillers Drama, von denen
sein Freund und König nie genug bekommen konnte.
Da Ludwig ihm aber auch die Rolle des Melchthals in einer
geplanten Inszenierung zugedacht hatte, sollte der Aufenthalt dazu
genutzt werden, ihn dieselben Strapazen durchleben zu lassen wie
Schillers Dramenfigur. So wünschte Ludwig mit Nachdruck, dass
Kainz den Marsch Melchthals über den Surenenpass unternehme
("Durch der Surennen furchtbares Gebirg..."), - ein Unterfangen,
das den zart gebauten, jungen Schauspieler nicht eben in
Entzücken versetzte.
Immerhin, er machte sich auf den Weg, nicht wie sein
Rollenmodell Melchthal im Winter bei Eiseskälte, sondern im
Sommer, auch nicht gehetzt, allein, hungrig und durstig ("den Durst
mir stillend von der Gletscher Milch"), sondern mit vier
kräftigen Männern als Begleitung, mit reichlich Proviant
ausgerüstet, darunter einem guten Dutzend Flaschen Moselwein
und Sekt. Dennoch wurde die Wanderung, die für Kainz viel zu
anstregend war, frühzeitig abgebrochen...
Durch Schillers Wilhelm Tell wurde die Urschweiz
gewissermaßen imprägniert, "auratisch aufgeladen vom
Siegeszug des Schauspiels". Jedenfalls ist die wechselseitige
Durchdringung von Literatur und Landschaft, von Fiktion und
Handlungsraum, von Lese- und Reiseerlebnis an kaum einem anderen
Ort so augenfällig wie im "Lande Tells".
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