|
|
Dieter Hildebrandt
"Diesen Kuss der ganzen Welt!"
Schillers Hymne einer humanen
Globalisierung
Noch nie hat eine Komposition eine so universale
Karriere gemacht wie Beethovens neunte Sinfonie. Und nie ist die
Nachwelt von einer Musik derart in Bann gezogen worden wie von dem
Schlusschor "Freude, schöner Götterfunken", aus dem
inzwischen nicht nur die Europa-Hymne geworden ist, sondern so
etwas wie die Erkennungsmelodie unseres gesamten Planeten. Noch nie
ist ein Werk über so lange Zeit und so global gefeiert
worden.
Über die "Neunte" ist fast immer so
geschrieben worden, als sei sie allein die Schöpfung
Beethovens, als sei auch die "Freuden"-Hymne im Wesentlichen ihm zu
verdanken. Wenn je ein Autor um den Anteil am Geschick und Weltruhm
eines Kunstwerks geprellt worden ist, dann Friedrich Schiller im
Beethoven-Schrifttum zweier Jahrhunderte. Dabei ist es der Dichter,
der die globale Karriere programmiert, der sie mit seinen Worten
vorweggenommen und sie in einer tollkühnen Vision für
möglich gehalten hat. Alles, was heute dem Werk als
Würdigung und Wirkung und Vernutzung widerfährt, vom
"Weltkulturerbe" bis zum "Song of Joy", ist nur das Echo auf die
leidenschaftliche Zeile: "Diesen Kuss der ganzen Welt!"
Heute hören wir das Werk als den
Wunschtraum von der einen Welt, als Hymne der Globalisierung: "Alle
Menschen werden Brüder!" - Das ist zwar Utopie, aber doch auch
konkrete Forderung. Die eine, die ganze Welt, die Schiller da
herbeigedichtet hat, ist nicht ein Globus der
Wirtschaftsbeziehungen, der Herrschaftsbereiche, der politischen
Strategien, sondern eine Erde der Brüderlichkeit, ein Reich
der Begeisterung.
"Freude, schöner Götterfunken" -
dieser Gedanke durchpulst das Gedicht wie Beethovens Chorfinale, er
elektrisiert die Sinfonie wie die Zuhörerschaft von Berlin bis
Tokio, von Petersburg bis nach New York. Wie in einer
Kettenreaktion erzeugt der "Götterfunken" selbst die stets
neuen Energien, mit denen hier ein Kunstwerk aus sich selbst heraus
Aktualität, seelische Geistesgegenwart - und standing ovations
hervorruft. Dass die "Neunte" bis heute nicht ausgeschöpft,
erloschen, erledigt ist, verdankt sie nicht zuletzt der
Feuertrunkenheit ihrer Worte.
Mit solchem Einspruch im Namen Schillers
wäre als Erster Beethoven einverstanden. "Lasst uns das Werk
des unsterblichen Schiller singen!" - so wollte der Komponist
ursprünglich die Hymne vom Sänger einleiten lassen. Die
Verwendung des Gedichts in seiner neunten Sinfonie war Ausdruck
seiner lebenslangen Verehrung für den deutschen Dichter, der
ihm von Jugend an Vorbild gewesen war, dessen frühe Dramen er
nahezu auswendig wusste, dessen Sentenzen er in
Freundschaftsbücher einschrieb.
Dem Lied "An die Freude" hatte Beethoven 30
Jahre lang die Treue gehalten, ehe er es dann sinfonisch auf den
Sockel hob. Schon als 22-Jähriger hatte er vorgehabt, das
Gedicht als einfaches Lied mit Klavierbegleitung zu vertonen. Diese
Verse wurden für Beethoven so etwas wie der Begleittext
für sein ganzes Leben. Und es störte ihn auch nicht, dass
Schillers Strophen, als er sich endlich an die große
Komposition machte, schon hundertmal vertont und eigentlich
zersungen waren.
1785 schreibt Friedrich Schiller seine Ode,
1824 wird die neunte Sinfonie Ludwig van Beethovens in Wien
uraufgeführt. Knapp vier Jahrzehnte liegen zwischen beiden
Daten, beiden Werken, beiden Utopien. Aber zwischen dem Herbst 1785
und dem Frühjahr 1824 ereignen sich Epochenstürze und
Geschichtsbrüche, wie sie das Abendland nicht einmal
während des Dreißigjährigen Krieges "erlebt" hat.
Europa wird vollständig umgewälzt und dann halb wieder
zurückgeworfen. Eine tausendjährige Reichsidee löst
sich auf. Eine große Revolution wird von den
Revolutionären ad absurdum geführt. Napoleon durchfurcht
den Kontinent fast 20 Jahre lang mit Kriegen.
Zwischen beiden Werken liegt, mit Hegel zu
sprechen, der brachiale Eingriff des Weltgeistes. Schiller hat
seine "Freude" (wie er sie gerne nennt) vier Jahre vor der
französischen Revolution gedichtet; die "Rettung von
Tyrannenketten", die er darin beschwört, sollte mit dem Sturm
auf die Bastille am 14. Juli 1789 eingeleitet und eingelöst
werden; aber schon bald war die "Gnade auf dem Hochgericht", die er
sich auch wünschte, den Handhabern der Guillotine
unbekannt.
Und fünf Jahre vor der Uraufführung
der "Neunten" wurden die Karlsbader Beschlüsse gefasst, die
die europäischen Uhren wieder auf die vorrevolutionäre
Zeit zurückzudrehen versuchten. Es hatte den
beängstigenden Anschein, als sei alles beim Alten, beim
Vorgestrigen geblieben; und vergeblich alles Blutvergießen,
jeglicher Elan und sämtliche Ideale von Freiheit, Gleichheit,
Brüderlichkeit.
Das Doppelwerk ist also die Klammer um eine
beispiellose Geschichtskatastrophe. Es hält, nicht im Triumph,
sondern mit dem Gestus des "Dennoch" fest, was aus den
Trümmern und Leichenbergen Europas damals noch an Hoffnung,
Vernunft und Menschlichkeit übrig geblieben ist. Schillers
geselliger Gesang - denn die "Freude" war mehr Trinklied als Hymne
- erhält seine späte Resonanz im resignierten Jubel eines
desillusionierten Komponisten. Der Schlusschor der "Neunten"
umspannt eine Katastrophenerfahrung von apokalyptischen
Ausmaßen. Dass das Werk seit zwei Jahrhunderten Epoche gemacht
hat, verdankt es nicht zuletzt diesem historischen Horizont. Die
"Freuden"-Hymne ist der Tribut an die Leiden eines Zeitalters. Und
alle Nachwelt erklärt sich aus dieser
Vorhölle.
Noch eine andere Dynamik ist in dem Werk
untergründig präsent; neben die historische Erfahrung
tritt die individuelle. Wir haben es mit einem seltsamen
Überkreuz der Lebensgeister zu tun, mit einer
Schiller-Beethoven-Konstellation. Denn in dieser Wortmusik treffen
sich gleichgestimmte Schicksale: Zwei Genies, beide ohne wirkliches
Talent für Heiterkeit und Serenität, zwei
Leidgeprüfte und Schmerzerfahrene, singen sich Trost zu in
einem Gemeinschaftswerk über das, was ihnen beiden im Leben
gefehlt hat: die Freude. So jubelnd, so überwältigend, so
weltbewegend konnte die Hymne nur als Negativ-Ausdruck
gelingen.
Schiller schreibt sein Gedicht nach drei
Jahren einer unsteten, stets gefährdeten Existenz, die von
Krankheiten, Geldsorgen, den Nachstellungen seines
württembergischen Herzogs überschattet war; er schreibt
es, nachdem er in Leipzig und Dresden einen enthusiastischen
Freundeskreis gefunden hat und endlich einmal sorgenfrei leben
kann: Der Rausch eines befreiten Menschen ist darin, der
Überschwang dessen, der die ganze Welt umarmen möchte;
und wir hören das Echo eines ekstatischen Vormittags in einem
sächsischen Weinberghäuschen, als der Dichter
sämtliche Gläser, nachdem sie geleert waren, zum Fenster
hinaus auf die Straße geschmettert hatte.
Beethoven reißt sich mit diesen Versen
aus seiner immer gewaltiger werdenden Misanthropie. Die Freude war
schon verzweifeltes Stichwort im Heiligenstädter Testament
gewesen. Sie diente als Hoffnungsvokabel im Brief an die
"Unsterbliche Geliebte", und sie wird nun für den alten,
tauben, grantigen Komponisten zur Beschwörungsformel und
Rettungschiffre gegen die eigene Weltfremdheit. Wenigstens in der
Musik sollen noch alle Menschen Brüder werden, soll der
Götterfunken Freude noch aufblitzen. Und er soll so einfach
wie ein Volkslied auf die Erde geholt werden. Alle sollen in den
Jubel einstimmen können, in den Menschheitsgesang.
Abenteuerlich wie die Entstehungsgeschichte
ist auch das Schicksal der Sinfonie: Wie nach den ersten
Aufführungen der letzte Satz, wegen der
Besetzungsschwierigkeiten, beinah preisgegeben wurde, wie in
England die Sinfonie an ihrer Länge zu scheitern drohte, wie
sich in New York die erste Aufführung gegen eine nebenan
begangene Siegesfeier (mit eigener Hymne) behaupten
musste.
Aber auch das gehörte zur Story des
Nachruhms: Richard Wagners Versuch, bei seiner berühmten
Dresdner Aufführung 1846 den Namen Schillers zu
verdrängen und Goethe ins Spiel zu bringen, oder die
Vormärzlegende, Schiller habe ursprünglich nicht die
"Freude", sondern die "Freiheit" angedichtet - worauf sich dann 150
Jahre später Leonard Bernstein bei seinen beiden Berliner
Aufführungen nach dem Mauerfall bezog. Nicht zu vergessen: die
erste "proletarische Neunte" im März 1905, vor Berliner
Arbeitern im Saalbau Friedrichshain.
Verstörendes Werk
Früh schon tauchte die Idee auf, aus dem
hochkomplizierten, für die Zeitgenossen verstörenden Werk
einen populären Extrakt zu gewinnen, aus der groß
angelegten Sinfonie eine Hymne herauszuheben, die dann nicht mehr
dem Konzertleben vorbehalten sein sollte, sondern allgemein singbar
und spielbar. Ein englischer Kritiker regte schon 1837 in einer
Rezension an, aus dem Schlusschor "die große Freimaurer-Hymne
Europas" zu machen. Und er hatte dabei auch schon manchen Bombast
unserer Tage vor Augen und im Ohr: "getragen von tausend Stimmen,
unterstützt von einem fünfhunderköpfigen
Orchester."
Das ist sensationell: bereits damals wittert
einer nicht nur die außerordentliche musikalische Zukunft des
Werks, sondern seine ideologische Dynamik, die philosophische
Hymnen-Tauglichkeit für unsere Alte Welt. Dass noch die
Freimaurer Pate standen, macht den Vorschlag nicht suspekt: von
Freimaurerliedern hatte sich Schiller inspirieren lassen, so wie
sein Gedicht wiederum in die Freimaurer-Bewegung
hineinwirkte.
Es ist dann ein beinah satirisches Szenario,
mit dem knapp 150 Jahre die Europa-Hymne beschlossen wird. Nicht
eine Akademie, nicht ein Kulturkongress, nicht ein
Beethoven-Colloquium gibt den Anstoß zu dieser
gebrauchsfertigen Kurzfassung, sondern der "Ausschuss für
Raumordnung und Gemeindefragen des Europarats"; am 9. Juli 1971
verabschiedet er den "Rapport sur un hymne européen", in dem
es heißt: "Es erscheint angemessen, ein Musikwerk zu
wählen, das charakteristisch für den Genius Europas ist
und dessen Verwendung bei europäischen Veranstaltungen bereits
ansatzweise eine Tradition bildet."
Der Text fällt bei dem von Herbert von
Karajan instrumentierten Arrangement weg, - mit einer
Begründung, die eigentlich der ganzen Unternehmung
Europa-Hymne etwas Fragwürdiges verleiht: Die
Ausschussmitglieder haben immerhin bemerkt, dass "hier kein
spezifisch europäisches, sondern ein eher universelles
Bekenntnis vorliegt". Knapper könnte man Schillers Text nicht
resümieren.
"Song of Joy"
Wie der Zeitgeist so spielt: Fast zur selben
Zeit wie die Europa-Hymne entsteht der "Song of Joy" von Waldo de
los Rios, ein populärer Schlager, der immerhin noch im Titel
eine Hommage an Schiller enthält. Allen diesen
Ausschlachtungen und Kleinspielungen zum Trotz steht das Werk noch
immer in alter Widerständigkeit da. Und so hätten wir
denn Anlass, mit der "Neunten" eine geradezu planetarische Feier zu
begehen, ein kosmisches Fest der Freude? Nichts wäre
anmaßender. In dem historischen Moment, da, mit der
Globalisierung alle Menschen Brüder sein könnten, zeigt
sich, dass wir es nur als Kain und Abel sind. Wo wir Freude
erwarten sollten, die sich um die Erde jauchzt, erleben wir eine
universelle Angst.
Das Gedicht, die Sinfonie, sie waren noch nie
so nahe am Ziel ihrer Wünsche, der Rausch von einst noch nie
so dicht an der Wirklichkeit, die Ekstase noch nie so verwechselbar
mit praktischer Menschenmöglichkeit - und bleibt nun doch wie
ein auskomponierter Traum übrig, der nicht von dieser Welt ist
und sich am besten fortstehlen müsste aus diesem Bund von
Unfreiheit, Ungleichheit, Unbrüderlichkeit.
Und dennoch, oder gerade deswegen, scheint
der Schluss erlaubt, dass das Werk in einer ganz neuen Weise zu uns
zu sprechen beginnt. Jetzt, da die "Welt" die Freudenbotschaft
immer öfter ad absurdum führt, klingt die Sinfonie,
klingt Schillers Ode uns um so dringender in den Ohren. Mit jeder
radikalen Aufführung der Neunten geschieht ein Stück
Arbeit an der Utopie der Menschengesellschaft.
Der Autor ist Musik- und
Literaturwissenschaftler und lebt in der Nähe von
Frankfurt/M.
Zurück zur Übersicht
|