Nudescha Gagnidse
Einig im Verlangen nach Unabhängigkeit und
Freiheit
Schiller und die georgische
Gesellschaft
Seit Jahrhunderten zeigt die georgische Gesellschaft eine tiefe
Neigung zur deutschen Literatur. Es gibt die besten Ubersetzungen
der deutschen Autoren vom Mittelalter bis heute. Zahlreiche
wissenschaftliche Arbeiten, Monografien und theoretische Schriften
sind den deutschen Klassikern gewidmet. Eine besondere
Aufmerksamkeit gilt Friedrich Schiller. Die in seinen Werken
aufgeworfenen Fragen und Themen sind aktuell für das geistige
und soziale Leben Georgiens immer wieder aktuell.
Schillers Werk war in Georgien schon bekannt, bevor seine Dramen
und Gedichte überhaupt übersetzt wurden. Schon 1815
behauptete Dawid Batonischwili, dass er ein großer Geist und
Philosoph, ein wichtiger Dichter in Deutschland sei. Er analysierte
die Frage der naiven und sentimentalen Poesie in Schillers
theoretischer Schrift und äußerte sich voller Lob
über Schillers ästhetische Ansichten.
Der georgische Schriftsteller und Dramatiker Giorgi Eristawi
(1813 - 1864) war der erste, der um 1836 Schillers "Handschuh" und
"Die Teilung der Erde" ins Georgische übersetzte. Zu dieser
Zeit lebte Eristawi im Exil in Polen, weil er Mitglied einer
politischen Geheimgesellschaft war, die im Jahre 1832 mit dem Ziel
der politischen Unabhängigkeit Georgiens in Tiblissi
gegründet worden war. Die von ihm vorgenommen
Veränderungen passten sich der politischen Stimmung der
georgischen Gesellschaft zur damaligen Zeit an, ohne dass die
inhaltliche und ästhetische Tiefe der Gedichte verloren
ging.
Eristawi benutzte Schillers Gedichte zur Propagierung seiner
politischen Ideen einer zukünftigen georgischen
Staatsorganisation. Er wünschte eine aus zwei Staatskammern
bestehende obere Kammer, über der ein König "als Vater
für brüderlich verbundene Menschen" stehen sollte.
Die Veröffentlichung des Gedichtes "Die Teilung der Erde"
in der Zeitschrift "Ziskari" war kein Zufall. Hier wurden
Publikationen der bedeutendsten Vertreter der National- und
Befreiungsbewegung Georgiens, Werke georgischer Schriftsteller und
auch Übersetzungen großer russischer und
europäischer Autoren gedruckt. Etwas später
veröffentlichte die Zeitschrift weitere Übersetzungen
Schillers von Ilia Tschawtschawadse und Iwane Kereselidse.
Ilia Tschawtschawadse ist der bedeutendste Vertreter der
georgischen Literatur sowie der National- und Befreiungsbewegung
des 19. Jahrhunderts. Er kannte die deutsche Literatur sehr gut; in
den humanistischen Ideen, die im Schaffen von Schiller zum Ausdruck
kamen, spiegelten sich für ihn die Träume seines Volkes
auf eine bessere Zukunft.
Die Zeitschrift "Ziskari" publizierte nicht nur lyrische Werke
von Schiller, sondern auch Auszüge aus seinen Dramen. Im Jahre
1867 erschien ein Auszug von "Wilhelm Tell" des bekannten
georgischen Übersetzers N. Awalischwili. Das ganze Drama wurde
in den Jahren 1871 - 1872 in der Zeitschrift "Mnatobi" gedruckt.
1872 folgte seine Übersetzung des "Fiesco" (1872). Im Leben
des georgischen Volkes waren die 1870er-Jahre angesichts des harten
zaristischen Regimes besonders wichtig. Das Land strebte nach
nationaler und sozialer Freiheit. Von daher ist verständlich,
warum sich die georgische Gesellschaft für Schillers Werke
interessierte, in denen der Wunsch nach Freiheit so deutlich zum
Ausdruk kam. .
Zu jener Zeit gab es vom "Tell" mehrere Übersetzungen, zum
Beispiel die Übersetzungen von I. Saneblidse (Verlag
"Amchanagoba", Kutaissi, 1893) und I. Bakradse (Verlag "Moambe",
Tiblissi, 1905). In den Jahren 1902 - 1903 veröffentlichte I.
Gomarteli seine Briefe, die er 1905 als Buch unter dem Titel "Die
Eigenschaften von Schillers Poesie" zusammenfasste. Er rühmte
Schiller als einen "unsterblichen Dichter", der mit seinem
harmonischen Schaffen eine neue Epoche in der Literatur des 18.
Jahrhunderts eingeläutet habe. Gomarteli sah in Schillers
Dramen eine literarische Revolution, die die alte gesellschaftliche
und soziale Ordnung zerstörte.
Revolution von 1905
Es ist verständlich, dass Gomarteli den Hauptakzent auf die
Ideen von Freiheit und Demokratie bei Schiller setzte, denn vor der
russischen Revolution von 1905 waren diese Ideen im ganzen Land
virulent. Im Jahre 1903 veröffentlichte N. Awalischwi einen
Artikel in der Zeitung "Kwali". Dessen Schlusswort lautete:
"Schluss mit dem Zaren! Es lebe Freundschaft und Liebe, es lebe
Gleichberechtigung, es lebe die Freiheit des Wortes, des Gedankens
und des Gewissens!" Diese Worte zeigten deutlich, wie nahe
Schillers Werk dem georgischen Volk war und warum er ein
"Mitkämpfer" gegen den Zarismus wurde.
In der georgischen Gesellschaft bereitete man sich
gründlich auf das Jubiläum zum 100. Todestag Schillers
vor. Es war eine schwere Zeit für Georgien, weil sich die
Folgen der missglückten Revolution in Russland von 1905 im
Leben der Menschen bedrückend niederschlugen. Schillers Werke
gaben den Lesern Hoffnung und positive Impulse. Die Zeitungen und
Zeitschriften veröffentlichten Artikel über Schillers
Schaffen, man führte seine Dramen auf und übersetzte
seine Werke. So erschien im Jahre 1912 Schillers Drama "Die
Räuber", das N. Awalischwili schon 1876 ins Georgische
übersetzt hatte, aber wegen der Zensur nicht herausgeben
konnte.
Kurz vor Beginn des Krieges, im Jahre 1940, kam ein Lyrikband
mit Gedichten Schillers heraus, im Jahre 1952 erschienen seine
ausgewählte Werke. Das Vor- und Nachwort zu diesen Ausgaben
schrieb Giorgi Nadiradse, der viele bedeutende Themen aus Schillers
Werken bearbeitet hat. Hoch geschätzt war der Schriftstellers
Wachtang Bezukeli, der in den Jahren 1948-1957 mehrere Dramen
übersetzt hat; es sind die besten Übersetzungen in
georgischer Sprache.
In den 40er- und 50er-Jahren fanden dann auch Schillers
politische und philosophische Schriften immer stärkere
Beachtung. Schiller wurde dabei nicht nur in seiner Bedeutung
für die deutsche Literatur, sondern für die Geschichte
der Menschheit gewürdigt.
Eine wichtiger Punkt in der Geschichte der georgischen
"Schillerologie" war sein 150. Todestag. An diesem Jubiläum
nahm die ganze georgische literarische und wissenschaftliche
Gesellschaft teil. Es gab mehrere feierliche Sitzungen in
verschiedenen Städten Georgiens und man druckte Artikel und
Bücher über Schillers Schaffen. Bedeutend ist das
Schiller-Buch von Grigol Chawtassi, in dem er einzelne Periode aus
Schillers Schaffen erforscht und seine Rolle in der Geschichte der
deutschen Literatur zeigt.
Der geniale Schriftsteller Schiller nimmt auch eine besondere
Stelle in der Geschichte des ästhetischen Denkens in Georgien
ein, wovon die Arbeiten von O. Dshinoria und L. Tetruaschwili
zeugen. Im Mittelpunkt stehen dabei die historische Entwiklung der
Menschheit, die Freiheit der Menschen, naive und sentimentale
Poesie, Wesen und Ziele der Kunst, die Beziehungen zwischen Materie
und Geist und antike Themen bei Schiller. Diese Betrachtungen
blieben nicht auf den engen Kreis der Germanisten und
Übersetzer beschränkt, sondern interesierten weite Kreise
der ganzen georgischen Gesellschaft, weil sie jahrhunderte lang
ihren eigenen Weg und ihren Ort im Weltgeschehen suchte und sich
dabei immer auch an deutscher Literatur und Kunst orientierte. Das
zeigten zum Beispiel die Arbeiten von Schota Rewischwili ("Schiller
und die georgische Gesellschaft", 1975) und Surab
Tscharchalaschwili ("Zum Verständnis von Schillers Schaffen",
1981).
Seit rund 20 Jahren ist die Zahl der Arbeiten, die Schiller als
Historiker und Theoretiker sehen, sehr gestiegen. Zu den
wichtigsten Beiträgen zählen: "Die historischen Ansichten
von Schiller und die Dekabristen", "Friedrich Schiller und die
Geschichte von Jeanne d'Arc", "Schiller als Historiker" (1982),
"Friedrich Schiller und die Geschichte" (1992), "Schiller und
Napoleon" (1994) und "Die Aspekte des Dreißigjährigen
Krieges bei Friedrich Schiller" (1996). Mit mehreren Arbeiten zu
Schiller ist in jüngster Zeit der Germanist Irakli Schurgulaia
hervorgetreten.
Gegenwärtig bereitet sich die georgische Gesellschaft auf
das Jubiläum anlässlich des 200. Todestages von Schiller
vor. Geplant sind zahlreiche Sitzungen, Versammlungen, Konferenzen
und literarische Abende. Die Zeit vergeht, aber Schiller und sein
Schaffen bleiben für die georgische Gesellschaft und
überhaupt für die ganze Menschheit immer wieder
aktuell.
Die Germanistin Nudescha Gagnidse ist Hochschullehrerin an der
Universität Kutaissi und Mitglied der Internationalen
Goethe-Gesellschaft in Weimar.
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