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Paul Badde
Visionär einer "Zivilisation der Liebe"
Zum Tod von Papst Johannes Paul II.
Enormer, nicht enden wollender Applaus war das erste, womit
100.000 Menschen unter dem Fenster des Palastes auf die Nachricht
vom Tod des Papstes antworteten. Gesichter, wohin ich schaute in
der Dunkelheit. 200.000 klatschende Hände. Der Applaus sei
befremdend und wohl eine italienische Weise der Trauer, musste ich
später lesen. Auf italienischen Friedhöfen habe ich
freilich Applaus noch nie gehört, oder in einem italienischen
Sterbehaus. Im Gegenteil, da habe ich schon Frauen gehört,
deren Klage um ihre Söhne oder Männer oder Väter ich
meinen Lebtag nicht vergessen kann. Beim Tod von Johannes Paul II.
war alles anders. Nichts war befremdend. Es war ein Prozess der
Trauer, der Tage und Wochen dauerte, vor allem vor dem Leid des
lebenden Papstes. Alle Welt weinte bei seinem letzten Ostersegen,
als kein Wort mehr über seine Lippen wollte. Als es dann
endlich ans Sterben ging, zog jedoch unerklärliche Heiterkeit
wie eine zarte Wolke über den Petersplatz und die Menschen,
die aus Rom und der Welt im Gebet unter sein Fenster
drängten.
Ein Rosenkranz war gerade beendet worden, als mein Handy
klingelte. "Der Papst ist tot", sagte meine Tochter. Ich schaute zu
seinem Fenster hoch und sah auf den großen Bildschirmen
über den Köpfen der Menge, wie Erzbischof Sandri vor dem
erleuchteten Portal des Petersdoms ans Mikrofon ging: "Um 21.37 Uhr
ist unser Heiliger Vater in das Haus des Vaters zurück
gekehrt." Jubelndes Händeklatschen war das erste, worin sich
die Spannung der Menschen auf dem Platz entlud. Dann begann im
linken Campanile die Andreas-Glocke schwer und traurig zu schlagen.
Die Pilger und Römer aber begannen mit einem neuen Rosenkranz.
Jubel unterbrach das Gebet jedes Mal von Neuem, sobald ein Bild des
Papstes auf vier großen Bildschirmen am Kopf des Petersplatzes
erschien, als überwältigender Applaus für den
letzten Auftritt des größten Künstlers, den Gott am
Anfang des neuen Jahrtausends zu sich rief, von einem
überwältigten Publikum. Es war der letzte Vorhang
für den größten Schauspieler auf dem Welttheater
unserer Zeit. Es war die Stunde Karol Wojtylas.
Anwalt der Schwächsten
Der "Samstag vom Herzen Mariens" ging gerade zu Ende: ein
kleiner Festtag, der dem Kalender von Papst Pius XI. nach dem
Sonnenwunder von Fatima eingegliedert wurde. Die Sonne war
untergegangen; die Menschen schauten gebannt zum Licht hinter dem
Fenster in dem Palast und auf die Kuppel des Petersdoms, auf das
blass erleuchtete Mosaik Marias, der "Mutter der Kirche", das
Johannes Paul II. über Berninis Kolonnaden hat anbringen
lassen. Er war der letzte Künstler von Rang, der noch einmal
Hand an die Gestalt des Petersplatzes legte. Am Beginn des ersten
postchristlichen Jahrtausends war er eine letzte Renaissancefigur.
Doch jetzt hatte er noch einmal als religiöses Genie unseren
Gebeten in der Tiefe gelauscht. Sein Kopf war zum Fenster hin
gewandt, die Lippen zu schwach, um noch mitzubeten.
Ein alter Schulfreund aus Kindertagen hat mich mit seiner Frau
besucht, um ihn noch einmal zu erleben; mein älterer Bruder
kam aus München dazu. Keiner hat die Menschen aus aller Welt
gerufen, die alle zusammen noch einmal am Lieblingsgebet des
Papstes weiter weben wollten, viele von ihnen seit langen Jahren
zum ersten Mal: "Ave Maria, gratia plena ..." Darüber hatte
der Barmherzigkeitssonntag begonnen. Johannes Paul II. selbst hatte
dieses Fest 2000 eingeführt, mit der Festliturgie jener Messe,
die sein polnischer Freund Stanislaus nun noch einmal für ihn
gefeiert hatte, in Erinnerung an die Nonne Faustyna Kowalska, die
der polnische Papst heilig gesprochen hat. Stanislaus hatte ihm
noch einmal die heilige Kommunion "als Wegzehrung" gereicht, danach
die Stirn, Hände und Füße gesalbt. Noch einmal
versuchte Johannes Paul, seine Hand zum Segen zu erheben, noch
immer lauschte er unserem Gebet aus der Tiefe. Als wir ans Ende
gekommen waren, hauchte er mit letzter Kraft ein "Amen" und starb.
Links und rechts von seinem alten Fenster leuchteten plötzlich
sechs andere Fenster im obersten Stock des Palastes auf.
So ist Johannes Paul der Große gestorben, vor dem nur zwei
Päpste in den letzten 2.000 Jahren "groß" genannt wurden:
Leo I. (440 - 461) und Gregor I. (590 - 604). Der dritte aber wurde
schon zu seinen Lebzeiten immer wieder der Große genannt, und
so wird Johannes Paul II. (1978 - 2005), der 266. Nachfolger Petri,
auch in die Geschichte eingehen. Wie in einem Spiegel erkannte er
sich selbst jedoch vor allem in Simon wieder - dem Apostel vom See
Genezareth, der bis zu seinem Tod am Kreuz in Rom nicht gerade als
großer Held von sich reden gemacht hatte, sondern oft schwach,
verzagt, unzuverlässig war - und in der Stunde von Christi
Passion.
Wie schwach auch immer er sich sah, für die Welt war
Johannes Paul II. nur groß, von Anfang an. Schon zu seinen
Lebzeiten "beschlagnahmte" er 26 Jahre lang das Augenmerk der
Menschen wie keiner vor ihm: als der erste wirklich
allgegenwärtige Mensch des Medienzeitalters, als Pilger um den
Globus und als Souverän im Cyberspace. Überall groß,
in seiner Unbeugsamkeit, seiner Bescheidenheit, seinem Glauben. In
seiner Hoffnung. Als Beter. Als Visionär einer "Zivilisation
der Liebe" gegen die "Zivilisation des Todes". Als Anwalt der
Schwächsten. Am Schluss aber war er am größten in
seinen Leiden. Deutlicher als Menschen jemals die Wundmale des
heiligen Franziskus oder Pater Pios sehen konnten, erschienen - vor
Jahren schon - seine Hörgeräte in Großaufnahme auf
den Bildschirmen, seine groß gewordenen Tränensäcke,
seine zitternden Hände, die er nur an seiner Stirn zur Ruhe
bringen konnte.
Am Schluss war er ein "Schauspiel für Engel und Menschen"
geworden, wie der Apostel Paulus gesagt hätte. Man sah den
Speichel, der ihm von den Lippen troff wie irgendeinem Greis in
einem Pflegeheim, und wie er dennoch als schwer Behinderter weiter
in seiner roten Königstoga von seinem Rollstuhl aus die
Behinderten segnete, die in ihren Rollstühlen an ihn heran
geschoben wurden. "Zeige deine Wunde!" heißt ein
berühmtes Kunstwerk von Joseph Beuys. Der Papst, der auch ein
Künstler und Dichter war, zeigte am Schluss seine vollkommene
Hilflosigkeit. Keiner sprach von den Windeln, in die dieser
ehemalige Sportler inzwischen wohl ebenso gepackt werden musste wie
unzählige andere Greise. Doch jeder sah, er konnte
körperlich nichts mehr selber tun, nur noch segnen, beten, den
Messopfern vorsitzen und noch einige Menschen als heilige Vorbilder
in den Himmel erheben. Er konnte nicht mehr aufstehen, er konnte
nicht mehr stehen und gehen, er konnte nicht einmal mehr in seinen
alten Mercedes 600 einsteigen, in dem er sich noch bis Juni 2003
durch Rom chauffieren ließ, als einsamer, gebückter Mann
auf dem Rücksitz - und dachte doch nicht daran, sich zu
verstecken. Die Würde des Alters, der Siechen und Kranken, die
er ein Leben lang verteidigt hatte, bezeugte er am Schluss mit
seinem eigenen Alter, seinem eigenen Siechtum, seinen
mannigfaltigen Krankheiten. Er konnte kaum noch reden und nur
schwer atmen, als er immer noch weiter zu singen versuchte, jeden
Sonntagmittag neu, Punkt 12 Uhr, wenn er mit Pilgern zusammen den
"Engel des Herrn" sprach und die schwach gewordene Stimme hob:
"Adjutorium nostrum in Nomine Domini ..." (Unsere Hilfe ist im
Namen des Herrn). Seine Hilfe kam vom Himmel, anders ist sein Leben
gar nicht vorstellbar, und das alles zählt zu seiner
Größe. Und am Schluss konnte er gar nicht mehr reden; da
wurde er am allergrößten.
Zum Allerkleinsten zählt dagegen, dass er mich 1978 zum
Journalisten gemacht hat. Als er gewählt wurde, konnte ich
nicht anders, da musste ich mit dem Schreiben beginnen, obwohl ich
eigentlich Lehrer werden wollte. Wie ein Blitz war seine Wahl in
mich gefahren. Nur Wochen vorher hatte ich im Autoradio die
Totenfeier seines Vorvorgängers gehört, war an den
Straßenrand gefahren und lauschte arabischen Gesängen vom
Petersplatz, als Paul VI. (der "Hamlet auf dem Stuhl der
Päpste") dort in einem schlichten schmucklosen Fichtensarg
aufgebahrt lag. Aller Pomp war dahin. Dessen Vorgänger
Johannes XXIII. hatte die Papstkrone und die Sänfte
abgeschafft, zusammen hatten beide dem revolutionären Konzil
vorgesessen. Ein Zeitalter war zu Ende, ein neues war angebrochen.
Als ich kurz danach am Fernsehen verfolgte, wie Johannes Paul I.
nach seiner Wahl als "lachender Papst" über dem Petersplatz
erschien, dachte ich augenblicklich: Das ist der Falsche! Mit
diesem Mann würde das neue Zeitalter nicht anfangen, das so
deutlich in der Luft gelegen hatte. Vielleicht aber hat ja damals
schon das Zeitalter der Beschleunigung angefangen, das wir heute
überall beobachten. Denn nur 33 Tage später rief mich
meine Mutter an und sagte, der neue Papst sei gestorben, und noch
ein paar Tage später noch einmal mit der Nachricht, der
nächste Papst sei ein Pole! Zwei Jahre zuvor hatte ich mein
Geschichtsexamen abgelegt; jetzt war die Nachricht wie ein
Feuerzeichen am Himmel. Denn Polen lag am 16. Oktober 1978 für
meine Generation noch im Land "Mordor", jenseits der Mittelerde,
fern von allem, besonders aber von Frankfurt am Main. Wie mit einem
Lineal durchzog der Eiserne Vorhang die Landkarten in den Gehirnen
und teilte die Welt von Europa aus in zwei unverbundene
Hälften. Im Westen war schon lange nicht mehr geläufig,
dass Wien weiter im Osten lag als Prag. Der Osten war das andere,
er war das in jeder Hinsicht Ferne.
Und nun war mit einem Mal ein Mann aus dieser Ferne, aus der
Kälte, aus dem Dunkel ins Zentrum der universalen Kirche
katapultiert worden, in das gleißende Oktoberlicht Roms, der
alten Hauptstadt der Welt. Jetzt müsste und würde sich
alles ändern! Es war die Rückkehr der Geschichte nach
bleierner Zeit. Genau das schrieb ich auf: Alles würde dieser
Mann verändern! Er würde der gesamten Welt die Figur des
Vaters wieder zurückgeben. In einer Welt ohne
Übergänge und Durchgänge ließ mich seine Wahl
plötzlich von einem Brückenbauer träumen, von einem
wahren "Pontifex maximus", wie seit alter Zeit der Titel der
Päpste lautet: ein Türaufreißer zwischen Ost und
West und Nord und Süd. Wer konnte dazu besser geeignet sein
als dieser Mann aus Krakau?! Ja, schon die Wahl war ein Wunder. Er
würde zu einem Motor der Weltpolitik werden, daran bestand
kein Zweifel. Wahrscheinlich gingen mir deshalb bei der
Niederschrift meines ersten Artikels die Pferde auch ein wenig
durch. "Habemus Papam!" nannte ich ihn: "Wir haben einen Vater!" -
"Vielen Dank für Ihren Leserbrief", hieß es lapidar in
der Antwort, mit der mir Kollegen einer großen Frankfurter
Tageszeitung mein Debüt als Journalist quittierten. Der Papst
aber tat alles, um mich von da an mit jedem seiner Schritte zu
rechtfertigen. Schon am 22. Oktober 1978 rief er in einer ersten
Botschaft die Menschen auf, "die Tore einzureißen". Nur Tage
nach seiner Wahl war er zum Staunen der Welt geworden und zum
Schrecken der alten Unordnung. "Ohne Johannes Paul II. wäre
die Wende in Osteuropa nicht möglich gewesen", erklärte
Michail Gorbatschow zwölf Jahre später, und Polens
Ex-Premier Jaruzelski, dessen Macht er (nur als Pilger!) zuerst
erschütterte, sagte unverblümt: "Er war der
Sprengzünder des Aufstands." Karol Wojtyla hatte den Vatikan
von der kleinsten Weltmacht wieder zu einem weltpolitischen Faktor
gemacht wie kein Renaissance-Papst zuvor - und ich bin ihm bei
seiner abenteuerlichen Reise durch die Geschichte an vielen Stellen
begegnet. Doch wohin ich auch kam, er war immer schon vorher da, in
Polen oder in Mexiko, bei der Madonna von Tschenstochau oder bei
der Jungfrau von Guadalupe, der er sein Amt auf seiner ersten
Auslandsreise im Januar 1979 wie ein Minnesänger weihte und
wie ein Kreuzfahrer zu Füßen legte.
"Dreh dich um, Europa!"
In Fatima ließ er die herausoperierte Kugel, die am 13. Mai
1981 seinem Leben um ein Haar ein Ende bereitet hätte, aus
Dankbarkeit in die Krone der Jungfrau einarbeiten. "Oh, Maria!"
hatte er nur immer wieder gestöhnt, als er blutbefleckt in
seiner weißen Soutane auf dem Petersplatz wie in einer Arena
zusammenbrach. Es war der Tag, an dem die fast heitere
Ouvertüre seines Pontifikats an ihr Ende kam. Von diesem Tag
an stand ein anderer Mensch der Römischen Kirche vor. Nun
begann der Weg des gebeugten und gebrochenen Papstes, der die Welt
erst recht und jetzt noch mehr mit einer Stärke aus seiner
Schwäche he-raus in Staunen versetzte. Nur eines änderte
sich nie in seinem Leben: seine Liebe zu Maria bis zu seinem
letzten Tag. Eine andere große Liebe war ihm der alte
Kontinent, wo 1978 noch Marx und Lenin angebetet wurden. "Dreh dich
um, Europa!", rief er deshalb am 9. November 1982 dem Erdteil von
Santiago de Compostela aus zu: "Kehr um, altes Europa! Ich rufe
dich mit diesem Schrei voller Liebe. Wende dich! Begegne dir
wieder! Sei du selbst!"
Ich war nicht der einzige, dem er fast überall voraus war,
und Jerusalem bleibt der einzige Platz, wo ich ihn ein einziges Mal
habe erwarten können. Das war, als er die Kirche über das
heilige Land wie über eine Brücke in das dritte
Jahrtausend führen wollte. Das war, als ich ihn in Yad Vashem
den Psalm Davids flüs-tern hörte: "Ich bin ein
zerbrochenes Gefäß geworden. Ich höre das Zischeln
der Menge - Grauen ringsum. Ich aber, Herr, ich vertraue dir, ich
sage: ?Du bist mein Gott'." In Rom war er der erste Papst, der die
Synagoge betrat, in Damaskus der erste in einer Moschee, und im
Frühjahr 2003 war er der letzte, der sich noch einmal mit
aller Macht gegen den Krieg aufbäumte, damit aus dem
anglo-amerikanischen Waffengang im Irak zumindest kein
muslimisch-christlicher Weltkrieg der Zivilisationen wurde.
Was Johannes Paul der Große hinterlässt, wird
Generationen brauchen, um es historisch, spirituell und politisch
auszuloten. Er hat die Welt umgestaltet wie den Marmorblock, aus
dem Michelangelo die Pietà herausgelöst hat. Er hat als
einzelner Mensch die Welt zu reich beschenkt, um sie nicht auch zu
verwirren, jetzt, wo er plötzlich nicht mehr lebt. Jetzt
höre ich in den Nachbarhäusern und unten auf der
Straße Römer und Römerinnen weinen, mitten in der
Nacht. Auch die Polen weinen, die Mexikaner weinen, Tausende haben
in den letzten Tagen und Nächten auf dem Petersplatz um und
über ihn geweint, langsam löst sich der Schock, und der
erste Applaus macht normaler Trauer Platz - eben weil Karol Wojtyla
solch ein Glücksfall auf dem Stuhl Petri war. Denn er hat ja
nicht in Reden und Büchern, sondern vor den Kameras aller
Medien der Welt die schwierige Frage glaubhaft beantwortet: Was ist
das, ein Heiliger? Mit seinem Tod hat sich deshalb auch
urplötzlich der Blick auf ihn gewandelt. Wurde bisher immer
wieder seine politische Wirkung hervorgehoben - wie er mit seinen
betenden Händen das Sowjetsystem aushebelte - so fängt
jetzt die Zeit an, auf diese Hände selbst zu schauen. Für
die Kirche fängt seine Geschichte gerade erst an: als die
Geschichte eines der größten Heiligen seit langer
Zeit.
Paul Badde ist Korrespondent der "Welt" in Rom und beim
Vatikan.
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