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Avi Primor
Ein Abgrund wurde überwunden
Welcher Zukunft gehen die deutsch-israelischen
Beziehungen entgegen?
In den Nachkriegsjahren konnte sich kaum jemand
in Deutschland und niemand in Israel vorstellen, wie Jahrzehnte
später die deutsch-israelischen Beziehungen sich in allen
Bereichen tiefgreifend entwickeln würden. Der Abgrund zwischen
den beiden Völkern schien unüberbrückbar zu sein.
Die ersten Kontakte zwischen den beiden Regierungen waren
widerwillig und erzwungen. Adenauer dachte, es sei für
Deutschland unerlässlich, sich mit dem jüdischen Volk
auszusöhnen, damit die Bundesrepublik wieder in die
Völkergemeinschaft aufgenommen werden.
Ben-Gurion war der Meinung, es sei die
moralische Pflicht der Bundesrepublik, wenn man auch den Holocaust
nicht wieder gutmachen kann, zumindest den Überlebenden, die
in Israel Zuflucht gefunden hatten, Hilfe zu leisten, damit sie ihr
Leben wieder aufbauen konnten. Daraus entstand das
Wiedergutmachungsabkommen von 1952, das dem Staat Israel deutsche
Hilfe in Form von industriellen Investitionen gewährt hat.
Deutschland war unter anderem auch daran interessiert, seine
Industrie wieder anzukurbeln. Israel brauchte Investitionen wie
Maschinen, Ersatzteile, Schiffe, Lokomotiven und so weiter, um eine
Volkswirtschaft aufbauen, um Flüchtlinge und Überlebende
aufnehmen zu können. Ungewollt hat diese Form von
Wiedergutmachung die beiden Seiten zu einer sachlichen
Zusammenarbeit gedrängt. Um sich mit den deutschen Maschinen
vertraut zu machen, mussten die Israelis die deutsche Industrie
kennen lernen und Fachleute aus der Bundesrepublik in Israel
aufnehmen. Eine Zusammenarbeit, mag sie anfangs auch noch so
unerwünscht und widerwillig gewesen sein, war unausweichlich.
Menschen, die zusammen arbeiten, lernen sich kennen. Unmittelbare
persönliche Kontakte überwinden Vorurteile und
Vorbehalte.
Mit der Zeit ist klar geworden, selbst
für die Israelis, dass die Zusammenarbeit mit den Deutschen
sich weiter entwickeln würde, was immer man auch davon
gehalten hatte. Allmählich hatte man sich daran gewöhnt
und akzeptierte Kontakte auch in Bereichen, in denen man am Anfang
Berührungspunkte als unmöglich betrachtet hatte und zwar
als für immer unmöglich. Kulturelle Beziehungen, die man
ausdrücklich und ganz offiziell aus dem Rahmen einer
Zusammenarbeit mit Deutschland ausgeklammert hatte, konnten
zunehmend durchsickern. Militärische Kontakte, deren
Möglichkeit in Israel ursprünglich Horrorvorstellungen
erwecken konnten, haben sich mit der Zeit ebenfalls entwickelt.
Eine bunte wirtschaftliche Zusammenarbeit, Kooperation in
Wissenschaft und Forschung, eine Fülle von
Jugendaustauschprogrammen und Städtepartnerschaften
entwickelten sich und nahmen an Bedeutung zu. Nach Aufnahme der
diplomatischen Beziehungen 1965 wurde die Bundesrepublik
allmählich, Schritt für Schritt, was sie heute ist: der
nach den Vereinigten Staaten weltweit wichtigste Partner
Israels.
Dürfen wir also zufrieden sein?
Zunächst einmal darf man sich nicht auf den Lorbeeren
ausruhen. Die Beziehungen sind nicht nur gut, sie sind bunt und
vielfältig und bis heute unverhofft erfolgreich. Was aber
garantiert uns, dass es auch so weiter gehen wird? Auf
Französisch gibt es ein Sprichwort "Rien n'est jamais acquis -
nichts ist jemals endgültig erreicht und gesichert." Um die
Weichen, die wir gestellt haben, auf Dauer in Stand zu halten,
müssen wir sie ununterbrochen erneut festnageln und
zementieren.
Es stellt sich also nicht nur die Frage, wie
man das bereits Erreichte sichern, sondern auch wie man neue
Bereiche der Zusammenarbeit entwickeln kann. Ohne diese wird man
auch das Erreichte nicht aufrecht erhalten können.
Internationale Beziehungen wie auch Beziehungen zwischen Individuen
bedürfen einer permanenten Dynamik, und dies weil Nationen wie
auch Individuen sich selbst ununterbrochen entwickeln, sich selbst
ständig ändern. Die Beziehungen müssen sich den
Umständen kontinuierlich anpassen. Nun verwandelt sich
Deutschland und hat sich schon in den letzten Jahrzehnten ganz
unerwartet verwandelt. Fast jeder Staat in unserer dynamischen Welt
ändert sich tagtäglich. Selbst ein höchst stabiles
Land wie zum Beispiel Norwegen, das sich offensichtlich in den
letzten Jahrzehnten wenig geändert hat, ist nicht mehr
dasselbe, das es vor 30, 40 oder 50 Jahren gewesen ist. Für
Deutschland war und ist die Entwicklung erheblich dramatischer. Die
Bundesrepublik, mit der Israel die ersten Kontakte aufgenommen hat,
ist heute das wiedervereinte Deutschland. Das unabhängige
Deutschland, das allmählich aus der Asche des Zweiten
Weltkrieges entstand, ist heute kein unabhängiges
souveränes Land wie man es im 19. Jahrhundert verstanden hat,
sondern Teil eines Kontinents, der sich allmählich vereint und
zu dessen Gunsten Deutschland wie auch andere Mitgliedstaaten auf
Teile ihrer Souveränität verzichten. Die Beziehungen
zwischen Deutschland und Israel müssen sich dieser Dynamik
anpassen. Deutschland ist Teil der Europäischen Union und muss
in seinen internationalen Beziehungen, auch in seinen besonderen
Beziehungen mit und seiner Verantwortung für Israel auf die
allgemeine Politik der Europäischen Union Rücksicht
nehmen. Das bedeutet, dass die Beziehungen zwischen Israel und
Deutschland nun im Rahmen der Beziehungen zwischen Israel und der
Europäischen Union verstanden werden müssen.
Israel ist heute hauptsächlich mit den
Vereinigten Staaten verbunden und von ihnen abhängig.
Weitsichtige Israelis wissen dennoch, dass sie sich in der Zukunft
nicht ausschließlich auf die Vereinigten Staaten werden
verlassen können. Helmut Kohl sagte einmal: "Israel steht auf
dem amerikanischen Bein, und das ist gut so. Besser wäre es
dennoch, wenn Israel auf zwei Beinen stehen würde - sowohl auf
dem amerikanischen als auch auf dem europäischen." Europa ist
im Jahr 2004 zu einem unmittelbaren geografischen Nachbarn Israels
geworden. Mit dem EU-Beitritt Zyperns liegt Israel heute lediglich
250 Kilometer von der EU entfernt. Die EU, nicht die Vereinigten
Staaten, ist heute schon Israels weltweit größter
Wirtschaftspartner, und nicht in den USA, sondern in der EU wurde
Israel als Partner auf dem Gebiet der Wissenschaft und Forschung
aufgenommen.
Irgendwann wird Israel Frieden mit den
Palästinensern und mit den anderen arabischen Nachbarn
schließen. Um dann als kleiner Partner der großen
arabischen Welt sein wissenschaftliches, wirtschaftliches und
technologisches Niveau aufrecht erhalten zu können, wird es
für Israel zunehmend unerlässlich sein, mit einem der
Wirtschaftsriesen der Welt verbunden zu sein, in sein System
verankert zu werden. Und das wird nur die EU sein können. An
einem Nahen Osten, der für die Amerikaner keine Gefahr mehr
bedeutet, der nicht in Krisen verwickelt ist, werden sie weniger
Interesse haben als unter den heutigen Umständen. An diesem
friedlichen Nahen Osten wird aber die EU zunehmend interessiert
sein, und kein Land wird dann der EU so wirksam als Brücke
dienen können wie Israel. Angesichts dieser Zukunft braucht
Israel eine institutionalisierte Verankerung in der
Europäischen Union und nicht nur Verträge, die
vorübergehend sind, wie die, die Israel bis heute mit der EU
geschlossen hat.
Angesichts der besonderen Beziehungen, die
sich zwischen Israel und Deutschland entwickelt haben, kann
Deutschland und wahrscheinlich nur Deutschland die Triebfeder
für einen solchen Schulterschluss zwischen der EU und Israel
sein.
Im Dezember 1994 beschloss der
Europäische Rat unter deutscher Präsidentschaft
einstimmig, dem Staat Israel einen auf Gegenseitigkeit beruhenden
privilegierten Status in seinen Beziehungen zur EU zu
gewähren. Ein privilegierter Status, so haben es die
Europäer wie auch die Israelis verstanden, bedeutet keineswegs
einen EU-Beitritt Israels. Es bedeutet eine enge Partnerschaft in
etwa wie jene, die die EFTA-Staaten mit der EU unterhielten, bevor
sie sich der EU angeschlossen haben, einen Status wie der, von dem
heute die Schweiz und Norwegen profitieren, ohne dass am Ende ein
EU-Beitritt stattfinden soll. Dieser privilegierte Status ist genau
das, was die Europäer in ihren zukünftigen Beziehungen zu
Israel brauchen. Erheblich mehr ist dieser Status jedoch, was
Israel für seine Zukunft braucht. Diese Verheißung des
Europäischen Rates in Essen 1994 wurde aber wegen
vorübergehender politischer Umstände nie in die Tat
umgesetzt. Nur eine Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Israel
könnte zugunsten der EU und vor allem zugunsten Israels die
Verwirklichung der Essener Erklärung irgendwann
sichern.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Die
Zusammenarbeit und die guten Beziehungen zwischen Deutschland und
Israel müssen nicht nur aufrecht erhalten werden.
Wünschenswert wäre es, wenn sie sich als
Israel-EU-Beziehungen mit deutscher Unterstützung und unter
deutscher Federführung weiter entwickeln
würden.
Avi Primor war von 1993 bis 1999 der sechste Botschafter Israels in
Deutschland.
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