Peter Dudek
Dringende Korrektur im Bildungssystem
Ganztagsschulen und
Kindertagesstätten
Über Bildungspolitik und Bildungsreformen
in Deutschland zu sprechen war und ist ein Unterfangen, bei dem man
sicher sein konnte, dass es Kontroversen auslöst und Ideologen
jeglicher Couleur auf den Plan ruft, die am Ende sich in der
Bestätigung ihrer eigenen parteipolitischen Vor-Urteile
gefielen. Durch die ernüchternden Ergebnisse der zahlreichen
nationalen und internationalen Vergleichsstudien sind nun aber
nicht nur die Bildungspolitiker gezwungen worden, über den
deutschen nationalstaatlichen und den föderalistischen
Tellerrand hinauszublicken, um notwendige Reformen im
Bildungssystem anzuschieben.
Die Liste der Reformvorschläge ist
über Partei- und Ländergrenzen hinweg lang, zugleich
häufig widersprüchlich und keineswegs kostenneutral zu
realisieren. Das "Turbo-Abitur" etwa will Zeit einsparen; die
gleichzeitigen kultusministeriellen Bemühungen,
fächerübergreifendes Lernen zu stärken, kosten aber
Zeit - das passt nicht zusammen. Zentralisierte
Abschlussprüfungen im Haupt-, Real- und Gymnasialbereich
mögen Vergleichbarkeitsmöglichkeiten zwischen Schulen und
Ländergrenzen erhöhen, ob sie aber wirklich zu einer
Qualitätssteigerung der Abschlüsse führen, ist
keineswegs gesichert.
Aus der Vielzahl der Reformvorschläge
kristallisieren sich gegenwärtig parteiübergreifend zwei
Schwerpunkte heraus, an denen intensiv gearbeitet wird: zum einen
der Ausbau des schulischen Ganztagsangebotes, zum anderen
intensivere Anstrengungen, die vorschulische Betreuung stärker
in Richtung Schulfähigkeit auszurichten. Diese Wege denken
beide Neuerscheinungen weiter.
Das "Jahrbuch Ganztagsschule 2005" widmet
sich dem Leitthema "Investitionen in die Zukunft". Es versammelt
eine Reihe von Analysen, Praxisberichten, Stellungnahmen und
Anregungen zu weiteren Realisierungsansätzen dieses
Schulformangebotes, das von Bund und Ländern nun endlich
finanziell unterstützt wird und auch bildungspolitisch gewollt
ist. Dabei verlagert der Band im Vergleich zum letzten Jahrbuch die
Perspektive von der bislang intensiv diskutierten
Ganztagsschulkonzeption hin zu verschiedenen Feldern, welche die
Struktur von ganztägigen Schulen weiterentwickeln helfen
können:
Nun geht es um die Verbesserung der
Schüler- und Lehrermotivation, um die Einbeziehung der Eltern
und schulnaher Vereine in die schulische Arbeit, um die Pflege
eines kooperativen Schulklimas, die Gestaltung
zweckmäßiger Schulbauten, um die Aufnahme von Themen zur
ganztägigen Bildung und Erziehung in die Lehrerausbildung, um
die Verarbeitung der Einflüsse von "heimlichen Miterziehern"
oder um den Blick auf Ganztagsschulen aus ökonomischer
Sicht.
Das Jahrbuch bezieht einschlägige
Erfahrungen aus Österreich und der Schweiz mit ein, informiert
über ganztägige Bildungssysteme in Frankreich, Finnland
und den Niederlanden und gönnt sich einen Rückblick auf
die Ganztagsschule in der DDR. Für Leser, die sich näher
mit der Problematik der Ganztagsschulen befassen wollen,
enthält der Anhang die Kontaktadressen der Landesverbände
und des Bundesverbandes des "Ganztagsschulverbandes GGT
e.V."
Es gelte, so die Herausgeber, den "PISA-Lag"
zu überwinden und zu erkennen, dass eine traditionell
arbeitende Schule nicht mehr den Anforderungen einer
veränderten Arbeitswelt und den Erwartungen unserer
Gesellschaft entspricht. Die von der Bundesregierung
angestoßenen Ganztagsschulen sollen eine Antwort auf die
gesellschaftlichen Veränderungsprozesse sein, das Jahrbuch
möchte diese Antwort reflexiv begleiten und
mitgestalten.
Wollen Ganztagsschulen die pädagogische
Betreuungspraxis zeitlich ausdehnen, um einer zunehmend
veränderten Familienkonstellation gerecht zu werden, so sollen
künftig die "Kindertagesstätten" ihre vorschulischen und
auf die Schule vorbereitenden Funktionen energisch intensivieren.
Auch hier gibt es viele unerledigte Problemen und Aufgaben. Die
Autoren des von Gerlinde Lill besorgten Sammelbandes greifen sie
auf und diskutieren produktive Vorschläge.
Gleichzeitig wirft das Buch auch Fragen auf,
- Fragen danach, ob es Kindheit als unbeschwertes Moratorium im 21.
Jahrhundert noch gibt oder ob Kindheit nach PISA zu "Fit machen
für Schule und Leistung" retardiert. So extrem wollen es die
Autorinnen des Bandes natürlich nicht. Sie sind mit Ausnahme
der Herausgeberin und eines Autors Leiterinnen und Erzieherinnen
aus Kindertageseinrichtungen der Stadt Bielefeld sowie
einschlägige Fachberaterinnen.
Das Buch ist die Dokumentation eines
gemeinsamen Lern- und Reformprozesses. Dabei steht die
Überzeugung im Mittelpunkt, dass Kindertagesstätten
wichtige Bildungseinrichtungen sind. Vor diesem Hintergrund haben
43 Kindergärten in Bielefeld versucht, ihre Bildungsangebote
zu verändern und zu erweitern. Sie haben 13 "Bildungspakete"
entwickelt, die allen städtischen Kindertagesstätten in
Bielefeld zur Verfügung stehen.
Diese Bildungspakete sind in Form von
Erfahrungsberichten geschrieben, skizzieren also den Alltag der
Bildungspraxis in Form konkreter Projektberichte, welche die
Erzieherinnen mit den Kindern ihrer Einrichtungen durchgeführt
haben. Sie handeln von Besuchen im Rathaus, von Körper- und
Sinneserfahrungen, von Kunst und Gestaltung, vom Umgang mit dem
Computer im Gruppenalltag, von Naturbegegnungen oder der
Realisierung kleinerer naturwissenschaftlicher Experimente.
Unterschiedliche Kulturen, Religion und Ethik, Sport und Bewegung
sowie das Wohnumfeld sind weitere Projektbereiche, die in dem Band
vorgestellt werden.
Anregend sind diese Berichte allemal und eine
alltagsnahe, nützliche Orientierungshilfe für die in der
Vorschulpädagogik tätigen Erzieherinnen. Man findet
reichlich Anregungen für die eigene Praxis vor Ort.
Stefan Appel / Harald Ludwig / Ulrich
Rother /Georg Rutz (Hrsg.)
Jahrbuch Ganztagsschule
2005.
Investitionen in die
Zukunft.
Wochenschau-Verlag, Bad Schwalbach 2004,
247 S., 24, 80 Euro
Gerlinde Lill (Hrsg.)
Bildungswerkstatt Kita.
Bildungsmöglichkeiten im Alltag
entdecken.
Beltz-Verlag, Weinheim/Basel 2004; 244 S.,
19, 90 Euro
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