Reinhard Lassek
Ein Idol des Jahrhunderts nicht nur in der
Wissenschaft
Vor 50 Jahren ist Albert Einstein
gestorben
Das Einstein-Jahr boomt, doch angesichts des oftmals nur
oberflächlich inszenierten Genie-Rummels werden erste
Ermüdungserscheinungen sichtbar. Auf Dauer sind die
unzähligen Versuche, Einsteins bewegtes Leben und seine
epochalen physikalischen Ideen bis zur Unkenntlichkeit zu
popularisieren und zu vermarkten, unerträglich. Auch Einsteins
Zunge, die sich einem derzeit allerorten auf Plakaten,
Zeitschriften- oder Buchtiteln entgegenstreckt, fällt eher
lästig, als dass sie noch belustigen könnte. Über
das bloße Klonen von Bildern und Gedanken lässt sich nun
einmal kein originärer Zugang zum Leben und Werk eines so
außerordentlichen Wissenschaftlers und Menschen wie Albert
Einstein finden. Da bieten die anspruchsvollen Bücher von
Markus Pössel und Hubert Goenner ein willkommenes
Kontrastprogramm.
Pössel arbeitet als Physiker am Albert-Einstein-Institut -
dem Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik - in Potsdam.
Er führt Schritt für Schritt in die Gedankenwelt des
großen Physikers und beginnt mit scheinbar ganz harmlosen
Fragen - Wie messen wir Längen? Wie bestimmen wir Zeitpunkte?
Deren Beantwortung zieht gewaltige Konsequenzen nach sich.
Ganz ohne Mathematik kommt Pössel nicht aus, was so manchen
Leser verschrecken mag. Meist genügt jedoch ein intuitives
Formelverständnis und die Bereitschaft zu erhöhter
Konzentration, um an den Denkabenteuern der relativistischen Physik
teilhaben zu können. Zudem gelingt es dem Autor, die komplexe
Materie anhand zahlreicher Bilder und anschaulicher Beispiele zu
durchdringen und durch manch kuriose Geschichten aufzulockern.
Kapitelüberschriften wie "Raumzeitliche Ruhestörung",
"Einsteins Gummiversum" oder "Blauwale im Stecknadelkopf" halten
den Leser zusätzlich bei Laune.
Pössel möchte zum "kosmischen Voyeurismus"
verführen und eröffnet dazu ein astronomisches Fenster
nach dem anderen. Damit sind weniger Fenster von der Art gemeint,
wie sie etwa Galileo Galileis Linsenfernrohr oder Isaak Newtons
Spiegelteleskop aufstießen, sondern die ungleich wirksameren
modernen Beobachtungstechniken - etwa hochsensible
Empfangsstationen für elektromagnetische Strahlung wie
Radiowellen oder gigantische Messanlagen für winzige kosmische
Materieteilchen wie Neutrinos.
Welche astronomischen Fenster auch immer geöffnet werden
und welche Erzählfäden Pössel dabei miteinander
verspinnt, alles zielt auf Einsteins allgemeine
Relativitätstheorie: Diese Theorie, so Pössel, "ist eine
wahre Meisterin der Extremsituationen, die das Universum zu bieten
hat, und sie revolutioniert Begriffe wie Raum und Zeit, die wir
aufgrund unserer irdischen Erfahrungen längst verstanden zu
haben glaubten - bevor Einstein uns zeigte, dass alles ganz anders
ist, als wir dachten".
Einstein räumte ein für allemal mit Newtons Konzept
eines absoluten und universellen Raum-Zeit-Begriffs auf. Seine
"Weltformel" ordnete die Raumzeit des Universums neu und
führte alles, was jemals beim Blick in den gestirnten Himmel
über uns wahrgenommen werden konnte, einer neuen Bewertung zu.
Zudem sagte Einstein ein ganz neuartiges kosmisches Fenster voraus.
Gemeint ist mit diesem "Einstein-Fenster" der bislang noch
ausstehende Nachweis sogenannter Gravitationswellen -
Störungen der Raumgeometrie, die sich wellenartig durch das
All fortpflanzen.
Im Schlusskapitel wird daher ausführlich über den Bau
von Hochpräzisionsgeräten berichtet, mit deren Hilfe es
möglicherweise schon bald gelingen könnte, einen ersten
Blick auf jenes unvergleichliche Einstein-Panorama zu werfen: "Wer
das leise Wellenflüstern belauschen kann, das aus der
heißen Kinderzeit unseres Universums übrig geblieben sein
sollte", so Pössel, "kann damit weiter in die Vergangenheit
des Kosmos vordringen als je zuvor".
Wem Pössels gediegenes Buch trotz aller Anschaulichkeit
Kopfschmerzen bereitet, weil die Relativitätstheorie auch nach
einem Jahrhundert der experimentellen Beweise und fortgesetzten
Ringens um sinnliche Veranschaulichung immer noch einen Angriff auf
den "gesunden Menschenverstand" bedeutet, der findet im Buch von
Hubert Goenner ideale Entlastung. Der Göttinger Professor
für Physik eröffnet nämlich ein ganz anderes
Einstein-Fenster, indem er Einblicke in Einsteins Berliner Jahre
gewährt.
Einstein lebte seit April 1914 in Berlin. Er wollte eigentlich
Ende März 1933 nach einem USA-Aufenthalt wieder in seine
Stadtwohnung und in sein geliebtes Sommerhaus in Caputh bei Potsdam
zurückkehren. Doch der "geistlose Wahn des Nationalsozialismus
mit seinen Hassern und Schlägern", so Goenner, bewirkte, dass
sich Einstein nach Monaten des Wartens in Belgien und England
für den Rest seines Lebens im amerikanischen Princeton
niederließ.
Goenner offenbart frappierende Parallelen zwischen dem
eigenwilligen Physiker und der quirlig-eigensinnigen
Reichshauptstadt. Während der "Goldenen Zwanziger" wurde
Berlin zur "Hochburg der Moderne" und Einstein zum herausragenden
Idol des 20. Jahrhunderts. Doch dem Aufstieg folgte beidemale der
Niedergang: Berlin verfiel unter dem Nazi-Terror in die kulturelle
Mittelmäßigkeit, und Einstein konnte nie mehr an seine
besten Jahre als Physiker anschließen. Er wandelte sich in
Princeton zum "wissenschaftlichen Einsiedler, der eher seiner
politischen und ethischen Erklärungen wegen geachtet, als
wegen seiner Forschungsergebnisse wahrgenommen wurde".
Goenner zieht diese Parallele allerdings mit Augenmaß. So
behauptet er weder, dass Berlin durch Einstein geprägt wurde,
noch dass Einstein je hätte sagen wollen "Ich bin ein
Berliner". Doch die Verbundenheit Einsteins mit dieser Stadt und
manchen ihrer Menschen und Institutionen wird in dieser zwei
Jahrzehnte umfassenden biographischen Skizze sehr deutlich.
Einsteins Leben wird dabei vornehmlich im Spiegel seiner
Zeitgenossen betrachtet und mit Hilfe des kulturellen, sozialen und
politischen Umfelds ausgeleuchtet.
Goenner geht auf Einsteins vielfältige Kontakte und
Verbindungen mit Künstlern, Intellektuellen und
Wissenschaftlern ein. Er berichtet, wie Einstein von seinen
Zeitgenossen eingeschätzt wurde, wie er als Magnet auf die
größten Köpfe seiner Zeit wirkte und dennoch keinen
wirklichen Zugang etwa zur Hochfinanz, zur Großindustrie und
Aristokratie fand. Der weltberühmte Physiker war oft nur ein
gern geladener "Vorzeigegast". Dafür gewann Einstein in Berlin
erstmals Zugang zur jüdischen Identität - im Sinne einer
"nichtreligiösen, ethnisch-kulturellen
Zugehörigkeit".
Auch die Widersprüche und dunklen Seiten Einsteins werden
nicht ausgespart. Gemeint ist Einsteins "bescheidenes,
freundliches, aufgeschlossenes Wesen und sein zeitweilig
herrisches, gefühlsarmes Auftreten gegenüber seinen
beiden Ehefrauen und seinen Kindern". Goenner gelingt es, Einstein
und die Menschen, die mit ihm zusammen in Berlin gelebt haben, in
die faszinierende Kulturgeschichte einer Stadt und einer Epoche
einzubinden. Er entwirft mit vielen nirgendwo sonst
zusammengetragenen Einzelheiten ein realistisches und respektvolles
Bild von Einstein in Berlin. Es ist ein großes Verdienst des
Autors, dass diese biographische Annäherung an den "neuen
Newton" ebenso zu fesseln vermag wie Einsteins wissenschaftliche
Theorien. Egal wie viel oder wie wenig man zuvor schon über
Einstein gelesen hat, diese Lektüre ist ein großer
Gewinn.
Markus Pössel
Das Einstein-Fenster. Eine Reise in die Raumzeit.
Hoffmann und Campe, Hamburg 2005; 331 S., 30,- Euro
Hubert Goenner
Einstein in Berlin 1914 - 1933.
Verlag C. H. Beck, München 2005; 360 S., 22,90
Euro
Zurück zur
Übersicht
|