Ruth Bettina Müller
In den kommenden Jahren sollen weltweit alle
Dörfer ans Netz gehen
Zur Zukunft der
Informationsgesellschaft
Die Bedeutung des Internets ist oft mit den Auswirkungen der
Erfindung des Buchdrucks im Mittelalter verglichen worden. Fest
steht aber: Auch im 21. Jahrhundert hat erst ein Bruchteil der
Menschheit Zugang zum Internet, und auch Bücher sind in vielen
Teilen der Welt Luxus. Die Kluft zwischen gut ausgebildeten
Breitband-Nutzern und (digitalen) Analphabeten zu überwinden,
war ein zentrales Anliegen des ersten Weltgipfels zur
Informationsgesellschaft, der im Dezember 2003 in Genf tagte.
Wolfgang Kleinwächter, Professor für internationale
Kommunikationspolitik an der Universität Aarhus, hat den
Gipfel und die vielen vorbereitenden Konferenzen verfolgt und zu
einem verständlichen Bericht verdichtet.
Das Buch beginnt mit einem Exkurs in die Geschichte: Ungleicher
Zugang zu Informationstechnologien sind nicht erst in
Internet-Ära ein Problem - bereits in den 70er-Jahren
konstatierte der "MacBride-Bericht" große Diskrepanzen in der
Informationsinfrastruktur. Erstmals wurden jetzt nicht nur
Regierungsvertreter, sondern auch der private Sektor und die
Zivilgesellschaft ausdrücklich zur Teilnahme an einer
UN-Konferenz aufgefordert.
Neben dem Streit um einen digitalen Solidaritätsfonds zur
Förderung der IT-Infrastruktur und Bildung in
unterentwickelten Ländern ging es vor allem um
Informationsfreiheit und Regulierung des Internets. Welchen Sinn
haben gut ausgebaute Netze, wenn Inhalte gesperrt oder zensiert,
Nutzer durch rigide Urheberrechte behindert oder kriminalisiert
werden? Sollte die ICANN ("Internet Corporation for Assigned Names
and Numbers"), die mit den Domain-Namen und IP-Adressen eine
zentrale Ressource des Internets verwaltet, einer
zwischenstaatlichen Organisation unterstellt werden, wie es viele
Entwicklungsländer forderten? Wieviel staatliche Intervention
ist in einem dezentralen Netz überhaupt möglich, wieviel
nötig?
Am Ende des Gipfel einigten sich die 192 Mitgliedsstaaten auf
eine Prinzipiendeklaration: Ein Aktionsplan sieht konkrete
Maßnahmen bis zum Jahr 2015 vor; bis dahin sollen weltweit
alle Dörfer öffentliche Netzzugänge haben, und
Informationstechnologie soll in Forschung, Bildung, Erziehung und
im Gesundheitswesen verankert werden. Eine Einigung über den
digitalen Solidaritätsfonds gab es nicht - eine Arbeitsgruppe
unter UN-Generalsekretär Kofi Annan soll prüfen, welche
bereits existierenden Finanzinstrumente zur Förderung von
IT-Projekten geeignet sind. Die Vertreter der Zvilgesellschaft
konnten ihre Forderungen nur ansatzweise durchsetzen; sie blieben
zwar am Verhandlungstisch, verabschiedeten aber eine eigene
Deklaration.
Der Autor sieht das Potenzial weniger in den
(völkerrechtliche unverbindlichen) Schlussdokumenten als im
Diskussionsprozess, insbesondere der ungewöhnlich starken
Beteiligung und Vernetzung der Zivilgesellschaft. "Nationale
Regierungen werden natürlich im 21. Jahrhundert nicht
verschwinden. Im Cyberspace aber sind sie nur ein Akteur unter
anderen, der sich Entscheidungsmacht mit anderen teilen muss und
gezwungen ist, in kooperativen Netzwerken mitzuarbeiten." Alles in
allem werden die Hauptlinien des Konflikts gut herausgearbeitet;
bisweilen entsteht allerdings der Eindruck, dass der Autor den
Spielraum der Zivilgesellschaft überschätzt. Etwas blass
bleibt die Position der privaten Wirtschaft, die man auch bei
größeren Sympathien für die Zivilgesellschaft nicht
vernachlässigen sollte.
Nach dem Gipfel ist vor dem Gipfel. Im November 2005 geht es in
Tunis in die zweite Runde, und gerade die rigide Politik des
Gastgebers unterstreicht die Problematik der Zensur im Internet.
Die Medien haben dem Gipfel bisher wenig Aufmerksamkeit gewidmet -
vielleicht weil ein digitaler Graben schlechter zu bebildern ist
als eine Flutkatastrophe. Kleinwächters Bericht und die im
Anhang vollständig abgedruckten Abschlussdeklarationen bieten
eine gute Grundlage für alle, die sich auf die zweite Phase
des Gipfels einstimmen wollen.
Wolfgang Kleinwächter.
Macht und Geld im Cyberspace.
Wie der Weltgipfel zur Informationsgesellschaft (WSIS) die
Weichen für die Zukunft stellt.
Heise Zeitschriften Verlag, Hannover 2004; 186 S., 16,-
Euro
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