K. Rüdiger Durth
Wertekunde wird Pflichtfach
Berlin: Erbitterter Widerstand gegen rot-rote
Pläne
Die Berliner SPD will gegen einen breiten Widerstand zum
Schuljahr 2006/07 ab Klasse 7 der Hauptschule den für alle
Schülerinnen und Schüler verpflichtende Werteunterricht
einführen, der wahrscheinlich nach brandenburgischem Vorbild
Lebenskunde, Ethik und Religion (LER) heißen wird. Die PDS,
die sich für ein ebenfalls nicht abwählbares Fach
Interkulturelle Bildung stark macht, wird sich in dieser Frage nun
mit den Sozialdemokraten einigen und einen gemeinsamen Vorschlag im
Berliner Abgeordnetenhaus einbringen.
Die CDU-Opposition hat bereits angekündigt, dass sie einen
von der rot-roten Regierungskoalition durchgeboxten Werteunterricht
nicht nur vom Berliner (und möglicherweise auch vom
Karlsruher) Verfassungsgericht überprüfen lassen, sondern
es im Fall eines Wahlsieges im kommenden Jahr sofort wieder
abschaffen wird. Das Berliner Abgeordnetenhaus wird zeitgleich mit
dem neuen Bundestag im Herbst 2006 gewählt.
Im Vorfeld des Berliner SPD-Landesparteitages hatte sich
SPD-Bundeschef Franz Müntefering für ein Pflichtfach
Religion ausgesprochen, alternativ dazu Ethik (Philosophie). Das
ist auch die Position der Evangelischen Kirche in
Berlin-Brandenburg unter Bischof Wolfgang Huber und des Erzbistums
Berlin unter Erzbischof Georg Kardinal Sterzinsky.
Beide hatten zuletzt zusammen mit der Jüdischen Gemeinde
Berlin eine entsprechende Unterschriftensammlung gestartet. Und vor
dem SPD-Parteitag hatte die Berliner CDU ein Symposium im
Abgeordnetenhaus durchgeführt und Bischof Huber alle im
Abgeordnetenhaus vertretenen Fraktionsvorsitzenden eingeladen.
Dabei zeigte sich, dass SPD und PDS bei ihrem Nein zu einem
Religionsunterricht nach Artikel 7 Absatz 3 Grundgesetz blieben,
die nach Artikel 141 Grundgesetz für Berlin eine Ausnahme
vorsieht.
Freiwilliger Religionsunterricht
Bislang wird in den Berliner Schulen ein freiwilliger
Religionsunterricht angeboten, der in den Unterrichtsplan
integriert ist. Alternativ dazu gibt es einen ebenfalls
freiwilligen Lebenskundeunterricht, für den der Humanistische
Verband Deutschland verantwortlich zeichnet. Auch bieten die
Jüdische Gemeinde und die Islamische Föderation
Religionsunterricht an. Wer an diesem freiwilligen Unterricht nicht
teilnimmt, hat für diese Zeit frei. Ein für alle Parteien
seit langem unhaltbarer Zustand.
Immer mehr setzte sich zudem die Einsicht durch, dass ein
werteorientierter Unterricht für alle Schülerinnen und
Schüler dringend erforderlich sei. Für den freiwilligen
Religionsunterricht übernahm der Senat weitgehend die Kosten,
die allerdings durch die allgemeinen Sparmaßnahmen auch
gekürzt werden sollten.
Innerhalb des rot-roten Senats war und ist der nun von der SPD
beschlossene verbindliche Werteunterricht nicht unumstritten. Seit
langem tritt Schulsenator Klaus Böger (SPD) für die
Alternative Religions- oder Ethikunterricht ein. Er kann sich aber
in der eigenen Partei nicht durchsetzen. Nach dem
Parteitagsbeschluss fordert die Opposition im Abgeordnetenhaus
Böger zum Rücktritt auf, um wenigstens sein Gesicht
halbwegs zu wahren. Böger scheiterte jedoch nicht an der PDS,
sondern vor allem am Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit
und SPD-Fraktions- und Landeschef Michael Müller. Beide wissen
um den starken Einfluss des freidenkerischen Humanistischen
Verbandes auf die Berliner SPD.
Zu einem weithin beachteten Vorfall auf dem Landesparteitag kam
es, als Bundestagspräsident Wolfgang Thierse, zugleich
Mitglied des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK), davor
warnte, wie zu DDR-Zeiten die Kirchen aus den Schulen zu
drängen. Wowereit reagierte auf diesen Satz mit dem scharfen
Hinweis, man möge nicht das Berliner Schulsystem mit dem der
DDR vergleichen. Als der Parteitag Wowereit für seine Rede mit
Ovationen feierte, blieb Thierse demonstrativ sitzen und
rührte keine Hand. Auch ein anderer prominenter Berliner
Sozialdemokrat sprach sich für die Einführung des
Religionsunterrichts mit der Alternative Ethik aus: Professor
Richard Schröder von der Humboldt-Universität, in der
frei gewählten DDR-Volkskammer Vorsitzender der
SPD-Fraktion.
Die Mehrheit für das Pflichtfach Werte auf dem
SPD-Landesparteitag war eindeutig: 166 zu 51. Dabei unterstrich
auch Wowereit, dass die Kirchen weiterhin freiwilligen
Religionsunterricht anbieten könnten und dass dieser weiterhin
bezuschusst werde. Außerdem könnten sie sich in die
Wertekunde einbringen. Doch die Kirchen fürchten nicht zu
Unrecht, dass der Religionsunterricht (rund 125.000
Schülerinnen und Schüler nehmen an ihm bislang teil) noch
weiter an den Rand gedrängt wird. Denn der Werte-Unterricht
wird wahrscheinlich zweistündig erteilt.
Neues Studienfach?
Diese zwei Stunden sollen durch eine zusätzliche Stunde und
durch das Einsparen einer Stunde aus dem Fächerkanon
Sozialkunde, Geschichte, Geographie aufgebracht werden. Mehr
Unterricht aber ist den Schülern nach Meinung der
Schulexperten nicht mehr zuzumuten, da ohnehin auf die Schüler
weiterführender Schulen mehr Unterricht zukommt, da in Berlin
künftig das Abitur bereits nach zwölf Schuljahren
abgelegt werden soll. Das könnte dazu führen, dass eben
noch mehr Schüler als bislang auf den freiwilligen
Religionsunterricht verzichten.
Nun werden die rot-roten Schulexperten daran gehen,
Lehrpläne zu erstellen (die wahrscheinlich Anleihen beim
brandenburgischen LER-Unterricht nehmen werden). Offen ist auch
noch völlig, wer Wertekunde erteilen darf. Wird dieses Fach
nun auch Studienfach für künftige Berliner Lehrer? Fragen
über Fragen. Derweil werden die kirchlichen Schulen in Berlin,
in denen Religionsunterricht Pflichtfach ist, immer beliebter. Sie
wissen gar nicht mehr, wie sie die vielen Anmeldungen
berücksichtigen sollen. Diese Abstimmung mit dem Anmeldezettel
ist selbstverständlich vielen rot-roten Schulexperten ein Dorn
im Auge.
Die Einführung eines Werteunterrichts in Berlin, der die
grundlegende Frage aufwirft, ob der Staat überhaupt Werte
festlegen und vermitteln darf, hat weit über die
Bundeshauptstadt hinaus für Aufsehen gesorgt. Aus der Sicht
des thüringischen Ministerpräsidenten Dieter Althaus
(CDU) zerstört die Berliner SPD ein "wichtiges Fundament
unserer Gesellschaft", sein bayerischer Kollege Edmund Stoiber
(CSU) spricht von einer "schrecklichen Fehlentwicklung". Auch der
hannoversche Ministerpräsident Christian Wulff (CDU) wandte
sich scharf gegen diese Pläne. Für den Berliner
Regierenden Bürgermeister Wowereit hingegen ist die
Vermittlung von Werten nicht nur Aufgabe der Kirchen, sondern auch
Pflicht des Staates.
Keine Indoktrination
In Berlin hat sich das Verhältnis zwischen rot-rotem Senat
und den Kirchen in den letzten Monaten stark abgekühlt.
Vielfach war von einem "Kulturkampf an der Spree" die Rede. Ob der
mehr oder weniger fertig ausgehandelte Staatsvertrag zwischen Senat
und evangelischer Kirche noch in absehbarer Zeit unterschrieben
wird, ist offen. Stark getroffen hat die Kirchen der Vorwurf aus
den Reihen von SPD und PDS, diese wolle mit einem Pflichtfach
Religion die jungen Menschen missionieren und damit ihre
Machtposition ausbauen. Bildungssenator Böger jedoch hat
klargestellt: "Die Kinder werden im Religionsunterricht nicht
indoktriniert."
Bereits in den 90er-Jahren waren zu Zeiten der damals
regierenden großen Koalition an der Spree der Plan eines
Religionsunterrichts am Nein der SPD gescheitert. Die Frage war
damals nicht zuletzt durch den bevorstehenden Umzug von Parlament
und großen Teilen der Bundesregierung aktuell geworden, da die
Beamten und Angestellten des Bundes aus dem katholischen Rheinland
einen geordneten Religionsunterricht gewohnt waren, auf den sie
für ihre Kinder auch nicht verzichten wollten.
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